Berlin distanziert sich verbal vom Sturm auf das Kapitol in Washington, zieht aber keinerlei Konsequenzen.
Trotz breiter verbaler Distanzierung vom Sturm auf das Washingtoner Kapitol vermeiden Berlin und Brüssel die Debatte um mögliche Folgen für die transatlantischen Beziehungen. Zwar erklärt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, „jetzt“ sei „der letzte Zeitpunkt“, an dem die US-Republikaner „sich entscheiden können zwischen Demokratie und Trump“. Laut einer Umfrage billigen 45 Prozent der US-Republikaner das gewaltsame Eindringen ins Parlament. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geht demgegenüber jedoch zum Alltag über: Sie „freue“ sich auf eine Kooperation mit dem künftigen US-Präsidenten Joe Biden, teilte sie gestern mit. Dabei wird es der Westen in Zukunft wohl beträchtlich schwerer haben, sich in der Weltpolitik als „Leuchtturm der Demokratie“ zu inszenieren: Allzu deutlich ähneln die Bilder vom Sturm auf das Kapitol den Bildern vom Sturm auf die Parlamente in Belgrad (2000), Tbilisi (2003) oder Hongkong (2019), die jeweils einen prowestlichen Umsturz herbeiführten oder herbeiführen sollten und hierzulande bejubelt wurden.
Anschlag auf die Demokratie
Mit relativ klaren Worten haben sich führende Politiker in Berlin vom Sturm auf das Kapitol in Washington und von US-Präsident Donald Trump distanziert. Man habe am Mittwoch einen „bewaffneten Mob“ beobachten können, „aufgestachelt von einem amtierenden Präsidenten“, ließ sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zitieren; die Ereignisse seien das Ergebnis nicht zuletzt von „Hetze auch von allerhöchster Stelle“.[1] Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von „verstörenden Bildern“: „Ich bedauere sehr, dass Präsident Trump seine Niederlage seit November nicht eingestanden hat“. Außenminister Heiko Maas verlangte, der scheidende Präsident und seine Unterstützer „sollten endlich die Entscheidung der amerikanischen Wähler und Wählerinnen akzeptieren und aufhören, die Demokratie mit Füßen zu treten“; jede Verachtung demokratischer Institutionen habe „verheerende Auswirkungen“. Bundesfinanzminister Olaf Scholz äußerte auf Twitter, Trump habe „das Land tief gespalten“; das Eindringen der Demonstranten in das Parlamentsgebäude sei ein „unerträglicher Anschlag auf die Demokratie“.
Nur Symptom der Radikalisierung
Die Berliner Distanzierungen lenken dabei von weitreichenden Fragen ab, die sich aus dem Sturm auf das Kapitol für die deutsche Politik ergeben. Indirekt hat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, darauf hingewiesen: „Jetzt“ sei „der letzte Zeitpunkt, an dem die Republikaner sich entscheiden können zwischen Demokratie und Trump“, erklärte Röttgen am gestrigen Donnerstagmorgen.[2] In den Abstimmungen im US-Kongress hatten sich unmittelbar zuvor einige Senatoren und weit mehr als 100 Republikaner im Repräsentantenhaus weiterhin dem Trump’schen Konfrontationskurs untergeordnet und dem President-elect Joe Biden ihre Zustimmung verweigert. „Der Trumpismus ist quicklebendig in der Republikanischen Partei“, urteilte gestern, auch mit Blick darauf, der USA-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Sascha Lohmann; das sei aber auch nicht weiter erstaunlich, denn Trump sei lediglich „ein Symptom“ der „Radikalisierungsentwicklung“, die die US-Republikaner bereits seit Jahrzehnten durchliefen.[3] Trifft dies zu und nähme man die Berliner Distanzierungen ernst, dann müssten die transatlantischen Beziehungen ernsthaft überprüft werden: Auch jenseits jeder Regierungspolitik sind US-Republikaner, darunter solche, die Trumps Politik nahestehen, ein elementarer Bestandteil der transatlantischen Beziehungen.
Freiheit und Demokratie
Unmittelbare Folgen hat der Sturm auf das Kapitol auch anderweitig für die Berliner Außenpolitik, die – ungeachtet aller transatlantischen Rivalitäten [4] – weiter eng mit Washington kooperiert. Dies lassen Äußerungen aus Staaten erkennen, gegen die die Bundesrepublik und die USA gewöhnlich gemeinsam Stellung beziehen. So werden Regierungsvertreter in Russland, das vom Westen gerne als nicht hinreichend demokratisch attackiert wird, mit der Äußerung zitiert, die Washingtoner Ereignisse vom Mittwoch zeigten, dass die US-Demokratie „auf beiden Beinen hinkt“; die USA – und der Westen insgesamt – könnten es sich von nun an nicht mehr anmaßen, andere Länder über „Freiheit und Demokratie“ zu belehren.[5] Der Vorsitzende im Duma-Ausschuss für internationale Angelegenheiten urteilt ebenfalls, die Vereinigten Staaten seien nicht mehr in der Lage, sich als „Leuchtturm der Demokratie“ zu inszenieren; vielmehr zeige sich, dass sich die „Farbrevolutionen“ als Bumerang erwiesen: Unter Verweis auf den Sturm auf das Belgrader Parlament im Jahr 2000 und das Parlament in Tbilisi im Jahr 2003, die beide von westlichen Organisationen unterstützt und im Westen bejubelt wurden, hieß es, diese Praktiken kehrten nun „in die USA zurück“.[6]
Doppelte Standards
Ähnliche Parallelen wurden gestern in China gezogen. So wies eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums darauf hin, dass Nancy Pelosi, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Bilder vom Sturm randalierender Demonstranten auf Hongkongs Parlament einst als „schönen Anblick“ gefeiert hatte; mit Verweis darauf, dass die Demonstranten in Hongkong im Westen als „Freiheitskämpfer“, die Demonstranten in Washington aber als „Gewalttäter“ und als „Mob“ bezeichnet worden seien, hieß es, die doppelten Standards seien offensichtlich.[7] In chinesischen Medien wurde der an der Christopher Newport University (Virginia) lehrende Politologe Sun Taiyi mit der Einschätzung zitiert, in Zukunft könnten sich andere das Beispiel des Sturms auf das Kapitol zum Vorbild nehmen. Sun verwies dabei auf eine YouGov-Umfrage, die gestern feststellte, dass 21 Prozent aller eingetragenen US-Wähler sowie 45 Prozent der befragten US-Republikaner das gewaltsame Eindringen in das Parlamentsgebäude billigten.[8] Mit Blick auf die tiefe politisch-gesellschaftliche Spaltung in den Vereinigten Staaten, die sich in derlei Zahlen ausdrückt, hieß es, was das Land dringend benötige, sei „eine umfassende soziale Reform“.[9]
Keine Konsequenzen
Berlin und Brüssel beharren unterdessen auf business as usual. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte: „In den Augen der Welt erscheint [!] die amerikanische Demokratie … unter Belagerung“; im Gegensatz dazu sei er aber der Auffassung: „Das ist nicht Amerika.“[10] EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wiederum erklärte, sie „vertraue“ in die Stärke der US-Demokratie sowie ihrer Institutionen: „Joe Biden hat die Wahl gewonnen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit ihm als nächstem US-Präsidenten“. Jegliche Debatte über eventuelle Folgen des Sturms auf das Kapitol für das transatlantische Verhältnis bleibt aus.
[1], [2] Merkel gibt Trump eine Mitschuld. tagesschau.de 07.01.2021.
[3] „Der Trumpismus ist quicklebendig“. tagesschau.de 07.01.2021.
[4] S. dazu Transatlantische Sanktionen (II) und Wirtschaft als Waffe (II).
[5], [6] Michael Mainville: Russia Sees U.S. Democracy ‚Limping‘ After Capitol Stormed. themoscowtimes.com 07.01.2021.
[7] Evelyn Cheng: China compares U.S. Capitol riots with Hong Kong protests. cnbc.com 07.01.2021.
[8] Matthew Smith, Jamie Ballard, Linley Sanders: Most voters say the events at the US capitol are a threat to democracy. today.yougov.com 07.01.2021.
[9] Bai Yunyi, Zhao Yusha: Storming of Capitol takes US to darker, more divided abyss: Chinese observers. globaltimes.cn 07.01.2021.
[10] Merkel gibt Trump eine Mitschuld. tagesschau.de 07.01.2021