Die Biographie holt Engels aus Marx‘ Schatten und würdigt seine Eigenständigkeit als Wissenschaftler und Aktivist.

Als 2018 ausgiebig der 200. Geburtstag von Karl Marx gefeiert wurde, liess es sich auch das Bildungsbürgertum nicht nehmen, an den Revolutionär zu erinnern. In vielen dieser Darstellungen wurde er dabei als historische Figur inszeniert, die sich in die glorreiche Geschichte der deutschen Dichter und Denker einreihen lässt. Weder seine theoretische Analyse noch seine bis heute unverwirklichte Perspektive einer befreiten Gesellschaft fanden in den linksliberalen Radiofeatures, Feuilletonbeiträgen, Kinofilmen et cetera eine angemessene Würdigung. Ein ähnliches Spektakel war anlässlich des diesjährigen 200. Geburtstags von Friedrich Engels nicht zu erwarten. Dennoch (oder gerade deshalb) bietet sich das gegenwärtige Jahr an, um sich intensiver mit Leben und Wirken des sozialistischen Kapitalisten aus Barmen zu beschäftigen.Neben einem historischen Roman sind unter anderem der eher wissenschaftlich orientierte Sammelband „Arbeiten am Widerspruch“ (Herausgegeben von Lucas et al.) und der auf den jungen Engels fokussierte Essay „Sozialist-Werden“ (von Michael Brie) erschienen. Michael Krätke hat ergänzend eine übersichtliche Einführung in der Reihe „Biografische Miniaturen“ des Dietz Verlags herausgegeben.Neben historischen Texten von und über Engels beinhaltet diese eine kurzweilige Beschreibung der wichtigsten Lebensstationen und intellektuellen Leistungen des „ersten Marxisten“. Das Buch ist so angelegt, dass es sich sowohl für Einsteiger als auch für marxistisch erfahrenere Leserinnen eignet. Eine Vielzahl an Verweisen lädt zur weiteren Beschäftigung mit dem Mann ein, der sich in der Rolle der „zweiten Violine“ im Schatten des grossen Karl Marx recht wohl gefühlt hat.

Sozialistischer Aktivist

Michael Krätke versucht dennoch, diesen Schatten auszuleuchten. Denn auch wenn Engels viel Lebenszeit opferte, um Marx‘ Arbeit durch die Leitung des elterlichen Baumwollunternehmens finanziell zu ermöglichen, war Engels ein ebenso ernstzunehmender Aktivist und Wissenschaftler.

Ohne die umfassenden Sprachkenntnisse (fast ein Dutzend sprach er fliessend) und das charismatische Auftreten von Engels wäre der Einfluss ihrer Ideen in der sozialistischen Bewegung stark limitiert gewesen. Insbesondere in der Zweiten Internationale kam seine Bedeutung einer ersten Violine gleich. Gleichzeitig sollte aber nicht (wie in Krätkes Einführung) unerwähnt bleiben, dass die mitunter autoritären Tendenzen von Marx und Engels massgeblich zur Erosion der Ersten Internationale und der damit einhergehenden Spaltung zwischen Kommunisten und Anarchistinnen beigetragen haben.

Als Unternehmer kannte Engels im Gegensatz zu Marx die kapitalistischen Produktionsbedingungen von Innen und suchte vor allem während seiner Zeit in Manchester in jeder freien Minute den Kontakt zum damals aufkommenden Industrieproletariat. Dabei ging es ihm weniger um agitatorische Propaganda, sondern vielmehr um einen offenen Lernprozess auf dem Weg zur Realisierung einer menschlichen Gesellschaft, wie Brie in seinen Ausführungen hervorhebt. Die konkreten Lebensverhältnisse der Ausgebeuteten im industrialisierten England schärften seinen Blick für die realen Probleme und Interessen der Arbeiterinnenklasse. Eine Perspektive, die ihn zunehmend von den philosophisch denkenden Junghegelianern in Deutschland und den utopisch orientierten Frühsozialisten in Frankreich distanzierte. Diese Distanzierung sollte später konstitutiv für die von Marx und Engels entwickelten Theorien werden.

Herausgeber und Lektor

Engels historisch folgenreichste Leistung bestand aber zweifelsfrei in der Herausgeberschaft der Schriften seines besten Freundes. Schon zu Marx‘ Lebzeiten war es immer wieder Engels, der den zweifelnden Marx dazu drängte, seine theoretischen Arbeiten endlich zu veröffentlichen. Auch als Übersetzer und Lektor war er für Karl Marx unverzichtbar. Die verantwortungsvollste Aufgabe kam ihm schliesslich nach Marx‘ Tod als dessen Nachlassverwalter zu. Die zahlreich hinterlassenen Notizen mussten zusammengefügt und überarbeitet werden, damit auch Band 2 und 3 von Marx‘ ökonomischem Hauptwerk der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnten. Ob diese Zusammenstellung, wie von Engels beabsichtigt, ganz im Sinne von Marx gewesen wäre, ist bis heute unter Marxistinnen umstritten.

Michael Krätke nimmt in diesem Streit eine verteidigende Position ein und wehrt sich gegen das „Engels-Bashing“. Auch wenn eine Einführung nur begrenzten Raum für solch umfangreiche Diskussionen bietet: Hier wäre ein kurzer Überblick über die konkreten Inhalte der Vorwürfe wünschenswert gewesen. Denn diese wiegen durchaus schwer. So werden manche von Engels späten Veröffentlichungen und zusammenfassenden Darstellungen (etwa sein berühmter „Anti-Dühring“) als theoretische Fehlinterpretationen wahrgenommen, die laut seinen Kritikerinnen die falsche Grundlage („prämonetäre Werttheorie“) für viele spätere parteimarxistische Deutungen bildeten und in undemokratischen Politikverständnissen mündeten.

Materialistischer Wissenschaftler

Umso gelungener ist Krätkes Darstellung von Engels wissenschaftlichen Verdiensten. Hierzu zählt Krätke erstens die Identifikation der Produktionsverhältnisse als wesentliche Bedingung der politischen Formen bürgerlicher Herrschaft. Während sich Marx noch weitestgehend im philosophischen Diskursrahmen des Junghegelianismus bewegte, erkannte Engels durch die oben beschriebenen Erfahrungen bereits die historisch einflussreiche Macht der ökonomischen Verkehrsformen.

Mit seinem 1844 erschienenen Aufsatz „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ legte er den Grundstein für die später von Marx akribisch ausgearbeitete Kritik der politischen Ökonomie. Die bis dahin von den klassischen Ökonomen ungelöste Frage nach der Herkunft des Werts wurde von Engels erstmals im Zusammenhang mit dem doppelt freien Lohnarbeiter gedacht.

Zweitens begründete der junge Engels mit seiner bis heute hoch angesehenen Studie „Lage der arbeitenden Klasse in England“ gewissermassen die empirische Sozialforschung. Mittels umfangreichen Zusammentragens verschiedener empirischer Quellen und nicht zuletzt durch seine eigenen Beobachtungen und Gespräche zeichnete er ein realistisches Bild des Industrieproletariats. Die historischen Umwälzungen in der Lebensweise der Arbeiter deuteten für ihn darauf hin, dass die industrielle Revolution untrennbar mit einer sozialen Revolution verbunden ist. Auch hiervon zeigte sich Marx schwer beeindruckt. Diese wichtigen Impulse von Engels bestärkten ihn in seinem Vorhaben, Hegel vom Kopf auf die Füsse zu stellen und die materiellen Grundlagen der modernen Gesellschaft mittels Abstraktion zu erfassen.

Drittens befasste sich Engels intensiv mit den zu seiner Zeit ebenfalls revolutionierten Naturwissenschaften. Während bis ins 18. Jahrhundert naturphilosophische Vorstellungen wie die „Vier-Säfte-Lehre“ dominiert hatten, operierten die Naturforscher zunehmend als empirisch-experimentelle Wissenschaftlerinnen. Der von Engels behauptete Zusammenhang dieser Entwicklung zu den zeitgleich stattfindenden bürgerlichen Revolutionen sollte dabei laut Krätke kein szientistisches Bild von gesellschaftlicher Entwicklung implizieren. Vielmehr ging es ihm umgekehrt darum, die soziale und historische Bedingtheit von naturwissenschaftlicher Erkenntnis aufzuzeigen.

Vor allem aber zeugt dieses naturwissenschaftliche Interesse von Engels unerschöpflicher Wissensgier, die ihn zum autodidaktischen Universalgelehrten machte. Auch wenn Marx ihm in seiner theoretischen Akribie etwas vorausgehabt haben mag: Ohne die breit gefächerten Talente und den unermüdlichen Einsatz seines besten Freundes – in- und ausserhalb der Wissenschaft – wäre Marx nicht weit gekommen.

Tom Gath
kritisch-lesen.de

Michael Krätke (Hg.): Friedrich Engels oder: Wie ein „Cotton-Lord“ den Marxismus erfand. Karl Dietz Verlag, Berlin 2020. 200 Seiten, ca. 14.00 SFr. ISBN 978-3-320-02368-3

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