„Eine Schweigeminute zum Gedenken an die Gefallenen von Senkata, Sacaba, Montero, Betanzos, Ovejuyo und El Pedregal“. Mit diesen Worten leiteten der neugewählte Präsident Luis Arce und sein Vize David Choquehuanca am 8. November in Bolivien ihren Regierungsantritt ein.
Zahlreiche Tote und Verletzte
Nach den Präsidentschaftswahlen 2019 hatte insbesondere die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse in Zweifel gezogen. Nach dem erzwungenen Rücktritt von Evo Morales breiteten sich im ganzen Land Proteste aus, deren brutale Niederschlagung in einer politischen und sozialen Krise mündete. Die ersten Massaker wurden am 11. November einen Tag vor Añez’ Selbsternennung zur Interimspräsidentin im äußersten Süden von La Paz in Los Almendros, Los Rosales, El Pedregal und Ovejuyo verübt. Hier kam es zu massiven gewalttätigen Polizeieinsätzen. Schon am 15. November wurden erneut Menschen Opfer polizeilicher und militärischer Repression, diesmal in der Gemeinde Sacaba, Cochabamba. Zwölf Menschen starben, 125 weitere wurden verletzt. Ein weiteres Massaker ereignete sich am 19. November in der Stadt Senkata, El Alto. Im Zuge einer Polizei- und Militäroperation wurden zehn Menschen getötet und Dutzende verletzt. Bewaffnete Zivilisten mischten bei den Angriffen kräftig mit und machten keinen Hehl aus ihren rassistischen Motiven: Die Angriffe richteten sich vor allem gegen die indigene Bevölkerung und gipfelten in der öffentlichen Verbrennung der Wiphala, der Fahne der indigenen Völker. Im Internet zirkulierten Angriffe und Beleidigungen gegen indigene Frauen, die für Empörung sorgten. Die indigene Bevölkerung reagierte mit Protesten. „La whipala se respeta carajo“- „Respektiert gefälligst die Whipala“, skandierten die Demonstrierenden. Interimspräsidentin Añez reagierte schnell und beeilte sich, das umstrittene Dekret 4078, das das Militär von jeder strafrechtlichen Verantwortung befreit, auf den Weg zu bringen. Die Entscheidung wurde wenige Tage nach ihrem Amtsantritt getroffen, gerade als sich die Proteste des Volkes im ganzen Land auszubreiten begannen.
Verbrechen gegen die Menschheit
Die bolivianische Ombudsstelle Defensoría del Pueblo de Bolivia stuft die Angriffe auf die Zivilbevölkerung in ihrem Bericht „Staatskrise und Menschenrechtsverletzungen in Bolivien, Oktober-Dezember 2019″ als Verbrechen gegen die Menschheit ein. Ein Jahr nach den von der Übergangsregierung Jeanine Añez begangenen Massakern und dem erzwungenen Rücktritt des damaligen Präsidenten Evo Morales sprach Brasil de Fato mit Angehörigen der Toten und Verwundeten. Auch ein internationaler Menschenrechtsanwalt wurde um Stellungnahme zu den Gewaltexzessen im November 2019, dem Kampf um Gerechtigkeit und der Realität der betroffenen Familien gebeten.
La Paz
„Mein Bruder lebte seit acht Jahren mit seiner Familie in El Pedregal. Von ihm wussten wir schon, dass die Lage sehr ernst war und dass die Polizei sehr brutal auftrat“ erzählt Frida Conde Noguera. Ihr 31-jähriger Bruder Percy Romer Conde Noguera wurde am 11. November von Polizisten erschossen. „Schon am Vormittag ging es los. Bewaffnete Zivilistengruppen griffen gemeinsam mit der Polizei die Bevölkerung an. Ein Anwohner hat uns später erzählt, dass die Menschen Angst bekamen. Einige gingen von Tür zu Tür, um die Nachbarschaft zu mobilisieren. ‚Wir müssen uns verteidigen, sie versuchen uns zu vertreiben und unsere Häuser niederzubrennen, kommt bitte alle raus.‘ Also ging mein Bruder auf die Straße. An der Ecke traf er auf die Polizei. Sie haben ihn aus nächster Nähe erschossen, aus nur drei Metern Entfernung. Dem Bericht zufolge wurde er mit fünf Schüssen getötet. Später zeigten die ballistischen Ergebnisse, dass es sogar sieben waren.“ In verschiedenen Teilen des Landes kam es darauf zu spontanen Gewaltausbrüchen durch verschiedene Gruppierungen, Angriffen auf Mitglieder der MAS sowie Bränden auf dem Gelände politischer Parteien und sozialer Verbände und in Polizeistationen.
Durch die Berichterstattung in den etablierten Medien und in sozialen Netzwerken wurde der hasserfüllte Diskurs gegen die MAS weiter angeheizt: „Wildgewordene Horden marodieren durch die Straßen und hinterlassen eine Spur der Zerstörung, Plünderung und Gewalt“; „MAS-Abgeordnete und Kandidaten stiften […] Überfälle auf Busbahnhöfe an“; „Bolivianische Streitkräfte […] gehen hinaus und retten die Menschen, die von Evo Morales‘ perversen Horden grausam angegriffen und getötet werden“. Dazu Frida Conde: „Sie wollten Verwirrung stiften und es so aussehen lassen, als seien die MAS-Leute für die Plünderungen, die Brandstiftung und das allgemeine Klima der Bedrohung verantwortlich. Aber so war es nicht. Die bewaffneten Zivilisten haben angefangen, die Menschen anzustacheln. Von allein hätte doch niemand einen Grund, hinauszugehen und drauflos zu randalieren, und auch die Polizei würde nicht einfach so auf die Menschen losgehen“, beharrt Conde.
In Los Rosales wurde der 23-jährige Beltrán Paulino Condori Aruni Opfer der Polizeigewalt. An diesem Tag hätten sich schon vorher auffällig viele Polizisten und Paramilitärs in der Gegend aufgehalten, erzählt sein älterer Bruder Plácido A. Aruni. „Die Nachbarn haben alles gefilmt. In den Videos ist deutlich zu erkennen, dass es die Polizei war. Sie haben mit ihren Schüssen seinen ganzen Körper durchbohrt, seine Leber, seine Niere und sein Zwerchfell. Aber nicht nur das. Sie haben ihn auch getreten und bespuckt“, erzählt Aruni über den Mord an seinem Bruder.„Ich glaube, sie wollten gezielt die Menschen in den ärmeren Vierteln einschüchtern, die die MAS unterstützen, damit sie nach Evos Rücktritt nicht hinausgehen und demonstrieren. So nach dem Prinzip: ‚Wenn wir heute drei Menschen töten, trauen sie sich morgen nicht mehr heraus, dann haben wir Ruhe vor ihnen‘. Mein Bruder wurde um 14 Uhr ermordet, praktisch 50 Meter von seinem Haus entfernt, in dem er mit seiner Frau, seiner zwei Monate alten Tochter und meiner Mutter lebte“.
Huayllani-Sacaba
In der Stadt El Alto, La Paz, formierten sich Proteste, Demonstrant*innen forderten den Rücktritt von Añez. „Unsere Schwestern und Brüder wurden bei den Demonstrationen buchstäblich überrollt. Der Anblick von so viel Gewalt und Diskriminierung war sehr schmerzhaft. Hier im Trópico, einer von der Regierung Añez kriminalisierten Region, haben wir daraufhin beschlossen, einen Protestmarsch zu starten: erst nach Cochabamba und dann nach La Paz“, erinnert sich Hernán Maldonado Rosales, Mitglied der Gewerkschaft Tamborada 3 aus der Region Trópico. Später sollte er durch eine Kugel sein rechtes Auge verlieren.
Das Massaker von Sacaba ereignete sich am 15. November 2019. Der von Aktivist*innen der Organisation Seis Federaciones del Trópico de Cochabamba angeführte Marsch wurde an der Huayllani-Brücke von Polizei und Militär umstellt. „An der Huayllani-Brücke trafen wir auf Polizei, Panzer und Militär. Sie wollten uns nicht durchlassen, wir haben stundenlang gewartet. Es wurde bereits dunkel, also machten wir Druck, damit sie uns passieren lassen, und plötzlich begannen sie, Gas einzusetzen. Wir wurden nur so eingenebelt. Unter uns waren auch Frauen mit Kindern, die versuchten zu entkommen“, erinnert sich Maldonado. „Einige wurden durch das Gas ohnmächtig. Manche Frauen gingen zu Boden, lagen auf der Straße, brauchten Hilfe. Menschen, die reingingen, um sie herauszuholen, riskierten, erschossen zu werden. Trotzdem habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen, um die Leute in Sicherheit zu bringen. Etwa fünf Menschen konnte ich retten, aber beim sechsten Anlauf traf mich ein Schuss ins Auge. Erst hatte ich keine Schmerzen, durch den Aufprall wurde ich etwa drei Meter weit zurückgeworfen. Als das Blut heraustropfte und mein anderes Auge bedeckte, sagte ich mir: „Ich werde hier nicht sterben“. Ich taumelte rückwärts, die Bullen kamen und traten auf mich ein. Ich verlor das Bewusstsein und wachte erst zwei Tage später wieder auf“.
Senkata
Das Massaker von Senkata, einem Stadtteil von El Alto, war so gewalttätig, dass selbst im Ausland davon Notiz genommen wurde. In Senkata befindet sich ein Gaswerk, das dem staatlichen Unternehmen Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) gehört. Jeden Tag versorgt das Gaswerk die Hauptstadt und andere Teile des Landes: Eine Blockade dieses Werks hätte also unmittelbare Auswirkungen auf das Land. „Nach der Verbrennung der Wiphala und den Demütigungen durch die faschistischen Gruppen in Santa Cruz und Cochabamba sind wir auf die Straße gegangen, um zu protestieren“, berichtet Marley Lazo Choque, Präsidentin der Vereinigung der Opfer, Verletzten, Toten und Inhaftierten von Senkata. Zum Ausdruck der Empörung der Bevölkerung von Senkata über die vom Staat verübte Gewalt wurde das Gaswerk mehrere Tage lang blockiert. „Einige Gastanks wurden durchgelassen, um die Gasversorgung nicht völlig zusammenbrechen zu lassen, jedoch wurde die Situation sehr schnell angespannt. Erst gab es Tränengas, und dann fielen die Schüsse“, erinnert sich Lazo. „Die Streitkräfte versuchten, die Blockade gewaltsam zu brechen. Sie behaupteten, dass wir in Senkata versuchen würden, das Gaswerk in die Luft zu jagen, was einen Anschlag auf ihr Leben bedeutet hätte. Wäre das Werk in die Luft geflogen, hätte das allerdings nicht nur sie getroffen. Wir leben hier, wir haben Kinder, sie gehen hier zur Schule, sie arbeiten hier. Wieso also sollten wir versuchen, den Ort in die Luft zu jagen, an dem unsere Familien leben?“, fragt Lazo, deren Ehemann bei den Polizeiübergriffen schwer am Bein verletzt wurde. „Mein Mann hatte sich aus Empörung den Protesten angeschlossen. Wir hatten gesehen, wie eine Frau von der Polizei getreten wurde, ihr wurden sogar die Zöpfe abgeschnitten. Frauen, Kinder und Jugendliche liefen herum und riefen um Hilfe. Mein Mann wurde in der Nähe einer Tankstelle verwundet. Nachdem ihn der erste Schuss getroffen hatte, fiel er hin, sie schossen noch ein zweites Mal, als er schon am Boden lag“, schimpft Lazo. Viele der Toten und Verletzten in Senkata hatten eigentlich nur das Haus verlassen, um zu arbeiten, einzukaufen oder zur Schule zu gehen. Die Polizeiangriffe trafen sie völlig unvorbereitet.
Unabhängige Untersuchungen belegen polizeiliche Massaker
Während der gesamten Dauer der Añez-Regierung hofften die Betroffenen vergebens auf Gerechtigkeit, obwohl mehrere nationale und internationale Organisationen, darunter die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) und die Vereinten Nationen, nach dem Putsch von 2019 die Ereignisse als schwere Menschenrechtsverletzungen anprangerten. Das internationale Human Rights-Programm der Harvard Law School veröffentlichte in Kooperation mit dem Universitätsnetzwerk für Menschenrechte einen Bericht mit dem Titel „Sie haben uns abgeknallt wie Tiere. Der blutige November und die Übergangsregierung in Bolivien“, der im ersten Monat der Regierung Añez „beunruhigende Muster von Menschenrechtsverletzungen“ festgestellt. Die Studie enthält die Ergebnisse einer siebenmonatigen unabhängigen Recherche. „Unserer Einschätzung nach haben in Sacaba und Senkata und im südlichen Teil von La Paz Massaker stattgefunden. An allen Orten wurde durch den Staat Gewalt ausgeübt und Menschen von der Polizei getötet“, so der Menschenrechtsanwalt Thomas Becker. Becker hat an der Studie mitgearbeitet hat und wurde selbst Zeuge des Massakers von Sacaba. „Ein Teil des Berichts befasst sich mit der Frage, woher genau die Kugeln kamen, wir haben ihre Flugbahn untersucht und die Winkel gemessen, um herauszufinden, wo die Kugeln herkamen. Sämtliche Einschusslöcher befanden sich auf der Seite, wo die Einwohner*innen standen, nicht auf der, wo die Soldaten waren. Alle von uns analysierten Schüsse kamen von der Huayllani-Brücke, also von der Stelle, an der sich die Soldaten befanden“ erklärt Becker. „Damit steht für uns fest, dass es ein Massaker war“, also ein bewaffneter tödlicher Angriff auf eine Gruppe unbewaffneter Menschen.
Verschleppte Ermittlungen, fehlerhafte Berichte
Erst kürzlich hatte die bolivianische Ombudsstelle sich kritisch darüber geäußert, dass die Untersuchung der Todesfälle seit letztem Jahr stagniert und die Vorfälle weiterhin ungestraft bleiben. Grund dafür sei die Weigerung von Polizei und Streitkräften, sich zu den Ereignissen zu äußern. „Es gibt eine Menge Beweise, die damals nicht aufgenommen wurden, weil es an politischem Willen, überhaupt an Willen seitens der Staatsanwaltschaft mangelte. Das hat dazu geführt, dass bereits seit einem Jahr Straflosigkeit bezüglich der Verbrechen herrscht“, so die Leiterin der Ombudsstelle Nadia Cruz bei der Gedenkfeier zum Jahrestag des Massakers von Sacaba.
„Zusammen mit der Ombudsstelle und dem Verband der Staatsanwälte waren wir nun schon drei Institutionen, die das Verteidigungsministerium aufgefordert haben, ihre Informationen preiszugeben“ beschwert sich Anwalt Becker. „Wir wollten Details über die Einsatztruppen, die Kugeln, alles Mögliche. Doch wir bekamen als Antwort nur, das seien vertrauliche Informationen. Aber wie soll man denn einen Fall untersuchen und herausfinden, wer die Verantwortung trägt, wenn die Regierung nicht mitmacht und die entscheidenden Infos für sich behält?“ Ein Riesenproblem sei definitiv der mangelnde Aufklärungswillen seitens der Polizei, ein weiteres die Ungereimtheiten in den Berichten der eingesetzten Ermittler. „Die vorgelegten Berichte enthalten jede Menge falsche Informationen. Zum Beispiel haben sie über meinen Bruder geschrieben, er sei in Llojeta gefunden worden, das ist richtig weit weg von El Pedregal, und dass er in ein geblümtes Laken gewickelt war, wie es in dem Bericht steht, stimmt auch nicht“, erzählt Frida Conde empört.
„Als die Untersuchungen in diesem Jahr anliefen, nahm ich die Aussagen meiner Schwägerin, meiner Mutter, meines Onkels und anderer Personen auf und bot sie den Ermittlern an, um bei der Entwicklung des Verfahrens mitzuhelfen, aber der Ermittler tat überhaupt nichts. Also habe ich ihm gesagt, dass ich die Videos erst dann präsentieren werde, wenn die neue Regierung kommt, da es sich um wichtige Aussagen handelt“, so Plácido Aruni aus Los Rosales.
Ein aufwühlendes Jahr für Opfer und Angehörige
Zusätzlich zu dem unbefriedigenden Verlauf der Ermittlungen habe die Übergangsregierung auch mit Victim-blaming nicht gespart. Alles in allem sei es ein sehr schwieriges Jahr für die Familien gewesen, so die Einschätzung von Anwalt Becker. „Die Regierung behauptete, alle hätten aufeinander geschossen, das Ganze sei ihre eigene Schuld, das seien alles Terroristen, Drogenhändler, wildgewordene Indios und Linksradikale außer Rand und Band, und all‘ das nur, um die Opfer herabzuwürdigen“.
„Die Operationen, meine Schmerzen, alles das war eine große Belastung für meine Familie. Ich bin dankbar für die Unterstützung, die mir zuteilwurde. Als ich die Nachricht erhielt, dass ich ein Auge verloren hatte, wollte ich erst gar nicht wieder aufwachen. Ich wollte nur noch sterben in der Hoffnung, in einem anderen Leben vielleicht mit meinen gefallenen Brüdern und Schwestern zusammenleben zu können“, erinnert sich Maldonado. „Meine Kameraden, die verletzt wurden, leiden bis heute an den Folgen, sie gehen an Krücken, sind arbeitsunfähig. Trotzdem: Auch ein Jahr später fordern wir immer noch Gerechtigkeit“.
„Es war ein sehr hartes Jahr für die Familien. Nicht nur, dass ‚ein Verwandter gestorben ist‘, nein, die Regierung hat ihre Angehörigen getötet und behauptet nun obendrein, das alles sei die Schuld der Opfer“, erklärt Becker. Nach einem Jahr der Verfolgung und Einschüchterung hatte die Übergangsregierung es immerhin geschafft, die Angst soweit zu schüren, dass vieler Zeug*innen sich scheuten auszusagen. Mit dem Amtsantritt der neuen Regierung nach den Wahlen vom 18. Oktober besteht nun wieder neue Hoffnung auf Gerechtigkeit, und auch den Zeug*innen fällt die Entscheidung, im Zusammenhang mit den Ereignissen eine Aussage zu machen, nun viel leichter.
Ermittlungen kommen wieder in Gang
„Die neue Regierung muss den Prozess nun voranzubringen. Ich glaube, dass der Kongress dem Antrag auf eine gerichtliche Entscheidung hinsichtlich der Verantwortung von Janine Añez und den beteiligten Ministern entsprochen hat. Aber wie sich der Prozess entwickeln wird, ist zu diesem Zeitpunkt schwer zu sagen“, meint Becker. Der neue Justizminister Iván Lima hatte am 16. November den Besuch von fünf Experten der Interamerikanischen Menschenrechtskommission angekündigt, die die Massaker von Sacaba und Senkata untersuchen sollten. Die Expertengruppe traf am 23. November in Bolivien ein. Dem Interamerikanischen Menschengerichtshof würden sämtliche Unterlagen der bolivianischen Polizei, der Streitkräfte und des Ministeriums zur Feststellung der „intellektuellen und materiellen Urheber“ der Ereignisse zur Verfügung gestellt, betonte der Minister. Sollte es Probleme im bolivianischen Justizprozess geben, könne man immer auf andere Optionen zurückgreifen, zum Beispiel den Interamerikanischen Menschengerichtshof oder den Internationalen Strafgerichtshof. Dazu bestehe die Möglichkeit, dass die Verantwortlichen in den Ländern, in die sie geflohen sind, vor Gericht gestellt werden, hier gelte es, die Entwicklung aufmerksam zu verfolgen.
„Nach meinen Gesprächen mit Opfern und Angehörigen kann ich sagen, dass die Menschen in Sacaba, in Senkata und auch in der südlichen Zone von La Paz weiterkämpfen werden, und wenn es hier keine Gerechtigkeit gibt, werden sie vor die internationalen Gerichte ziehen „, sagte Becker. „Unser Hauptziel ist zweifelsohne, unnachgiebig zu bleiben, um Gerechtigkeit zu erlangen“, resümiert die Präsidentin des Verbands der Opfer, Verletzten, Verstorbenen und Inhaftierten von Senkata.
Die Hoffnung auf Gerechtigkeit bleibt
Für uns Angehörige ist die Hoffnung auf Gerechtigkeit alles, denn kein Geld der Welt kann das Leben meines Bruders aufwiegen, und nichts wird ihn wieder zum Leben erwecken. Er war 31 Jahre alt, er hatte sein ganzes Leben vor sich“, sagt Conde weinend. Nach einem Jahr der Straflosigkeit sind die Wunden und der Schmerz, die die Massaker hinterlassen haben, immer noch im Leben der Familien zu spüren. Doch trotz Erschöpfung und Verzweiflung bleiben die Hoffnung auf Gerechtigkeit und die Liebe zu den Verstorbenen und geben ihnen die Kraft, den Kampf fortzusetzen. „Ehre und Ruhm für die Gefallenen von Senkata und Sacaba“. Die ersten Worten Luis Arces als gewählter Präsident ermutigen sie, diese Hoffnung nicht aufzugeben.