Manchmal passieren die verrücktesten Begegnungen gerade dann, wenn man es vermutlich am wenigsten erwarten würde – zum Beispiel im Flugzeug nach New York, in dem ich zufällig um- und neben Michael Christopher (Name geändert) gesetzt wurde, einem emeritierten Professor aus Californien. Wer aber glaubt schon an Zufälle?

Nachdem uns beide eine der Stewardessen zu Beginn des Fluges dann auch noch unbeabsichtigt mit Mineralwasser getauft und ich ihm ein Taschentuch zum Trocknen angeboten hatte, sind wir ins Gespräch gekommen. Wer kann (und sollte) denn aber auch wirklich während eines Fluges schlafen, in dem der gemeinsame Vordermann den brasilianischen Urwald abzusägen scheint?

Wie sich bald herausstellte, verkörperte Michael eigentlich all das, was wir in unserer westlichen Welt anzustreben meinen: einen gut situierten, verheirateter Famlienvater, dessen Kinder in Paris studierten, der relativ fit für sein Alter war und eine erfolgreiche Karriere hinter sich hatte. Auch wenn dieser Mann in den Augen vieler eigentlich alles erreicht zu haben scheint, wollte er jedoch auf mich hinter der Fassade so ganz und gar nicht glücklich wirken; und wie sich im weiteren Verlauf unseres Gesprächs herausstellen sollte, behielt ich damit Recht. Wie oft doch der Satz „Eigentlich wollte ich immer etwas anderes machen!“ gefallen ist. Auch wenn ich die Antwort darauf zwischen den Zeilen eigentlich längst durchzuhören geglaubt hatte, verleitete mich das zu fragen, warum. Warum man beispielsweise oftmals Dinge tut, die man so überhaupt nicht will und dann, für mich, paradoxerweise auch noch nie damit aufhören kann. Warum man zum Beispiel, ohne es vielleicht anfangs selbst zu bemerken, einen Beruf wählt, den andere als sozial angesehen betrachten oder viel Wert auf finanzielle Sicherheit legt, damit aber gleichzeitig zumeist kompromisslos eine Abfuhr an die innere Stimme erteilt, nach der man sich viel lieber eine Aufgabe gesucht hätte, die die Welt zum besseren Ort macht. Warum man zum Beispiel nicht zuerst herausfindet, wer man ist und sich lieben lernt, bevor man, nur weil die Gesellschaft das erwartet, heiratet. Oder warum  man sich mit Menschen umgibt, die einem eigentlich so überhaupt nicht gut tun, weil die Gesellschaft das nun mal erwartet? Das scheint schon etwas seltsam, wenn man bedenkt, dass wir im Grunde zunächst weder das eine noch das andere tun müssten, jedoch jeder, wenn er ehrlich ist, irgendeinen Bereich findet, in dem auch er genau das tut.

Michaels Antwort auf die Frage „Warum?“ war einfach und doch erschreckend komplex: Angst. Allermeistens Angst davor, irgendetwas zu ´verlieren`, was in unserer Gesellschaft als allzu wichtig erachtet wird: Geld, Status, den guten Ruf. Ironischerweise scheint man keine Angst davor zu haben, mit geistiger und körperlicher Gesundheit ein viel kostbareres Gut zu verlieren, das nicht immer von den vorher genannten Prioritäten profitieren könnte. Besonders verwundert hat uns beide, dass gerade etwas wie Geld oder Status – etwas, dass man wirklich nie `besitzen´ kann – so viele Menschen davon abhalten kann, das Leben zu führen, das sie gerne möchten – das sie vielleicht führen sollten? Es ist zum Beispiel eher trivial, den Kleidungsstil an die gesellschaftlichen Normen anzupassen. Seinen kompletten Lebensweg jedoch immer nach den gesellschaftlichen Erwartungen auszurichten erschient dagegen nicht nur ziemlich ungesund, sondern bedeutet im Grund, dass man seine eigene Einzigartigkeit abstreitet. Viel mehr noch: Das ist de facto Unfreiheit.

Wir beide haben festgestellt, dass wir in vielen Ländern in einer relativ „freien“ Gesellschaft leben. Es steht uns im Grund völlig offen, mit den uns mitgegebenen Talenten – solange wir nicht die Freiheit anderer total einschränken oder das Gesetz missachten – zu tun und zu lassen, was wir möchten: Eine passenden Beruf erlernen, den geeigneten Partner wählen, die Kleidung zu tragen, die man möchte oder sich mit den Menschen zu umgeben, die man wertschätzt.  Wie oft tendieren wir dennoch dazu, uns selbst zu Dingen, wenn auch unbewusst, zu zwingen, die wir so absolut gar nicht frei wählen würden?

Was macht uns also wirklich glücklich? Was frei?

Die Frage nach dem „vita beata“, dem glücklichen Leben, ist wohl eine der Fragen, die nicht nur antike Philosophen wie Seneca umtrieb, der bereits im ersten Jahrhundert nach Christus im gleichnamigen Werk genau dieses Thema aufgreift.[1] Wer kann schon eine allgemein gültige Antwort auf eine Frage geben, auf die es de facto keine konkrete geben kann. Oder vielleicht doch?

Wir könnten einzigartiger nicht sein. Dinge, die vermutlich die meisten zu wesentlichen Merkmalen eines glücklichen Lebens zählen, variieren also, beinhalten aber allermeistens doch ein sicheres Zuhause, Gesundheit, ein paar gute Freunde oder beispielsweise eine aussichtsreiche berufliche Karriere. All diese Elemente spielen sicherlich nicht unberechtigt eine wichtige Rolle – wobei jeder Mensch selbstverständlich seine eigenen Gewichtungen hat und für viele der finanzielle Aspekt oder sozialer Status unabstreitbar zu wichtig eingestuft wird. Etwas, das mit Sicherheit viele vielleicht unbewusst gar nicht auf Anhieb hinzuzählen, aber in jedem Fall hinzugehört, ist Freiheit – zum Beispiel die Freiheit, zu sein, wer man wirklich ist. Die Idee von Freiheit beinhaltet zum Beispiel auch, dass man, ohne die Freiheit anderer einzuschränken, das Leben führen kann, welches man möchte – unter Berücksichtigung der individuellen Talente. Lasst uns kurz festhalten, dass nicht jeder Einstein, Lionel Messi oder Mozart werden kann und sollte. Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen, der derzeit an der Harvard University unterrichtet, meint sogar, dass man die menschliche Entwicklung daran messen sollte, wie viele Freiheiten („freedoms“ oder „capabilities“) einem Menschen offen stehen, das Leben zu führen, welches man führen möchte´.[2] Und er hat damit so Recht!

Sind wir wirklich frei?

Auch wenn viele sich sicherlich als frei bezeichnen würden, da die oben angeführte Freiheit eigentlich gegeben ist, so sind sie es doch zumeist nicht, wenn man einen genaueren Blick wagt. Auf der einen Seite spielt das Leben so manchen einfach aus. Wer kann schon jemandem vorwerfen, der durch einen Autounfall unverschuldet im Rollstuhl gelandet ist, nicht der neue Usain Bolt geworden zu sein? Gleiches gilt für den Familienvater, der sich nach dem unerwarteten Krebstod seiner Frau nun alleine um drei Kinder kümmern muss. Es ist interessant und unglaublich traurig zu gleich, dass es dann auf der anderen Seite aber so viele gibt, die nicht wissen, wer sie eigentlich sind oder, noch schlimmer, nicht den Mut aufbringen können, das Leben zu führen, welches sie führen möchten. Ist es nicht seltsam, dass wir in einer Gesellschaft, die über Jahrhunderte hinweg gegen Tyrannei und jegliche Sklaverei gekämpft hat – und vielen Bereich oder Teilen der Welt immer noch tut – uns nun einer neuen Form der Sklaverei gegenübersehen: Nicht zu wissen, welche der unzähligen gebotenen Möglichkeiten zu wählen ist, kann zum Beispiel eine Form von `Sklaverei´ sein. Vielmehr noch aber könnte man es als `Sklaverei´ bezeichnen, immer den gesellschaftlichen Normen entsprechen zu müssen (oder zu wollen?). Wo oder in welchem Bereich könnte man sich selbst vielleich genau dabei ertappen?

Wie der Zufall es so will, begegne ich „Michael“ eigentlich ständig. Manchmal als Busfahrer in Indien, der aufgrund von gesellschaftlichen Erwartungen zu früh und die falsche Person geheiratet hat. Manchmal als Wirtschaftsgeographiestudent in Deutschland, der immer nur besser sein wollte, als andere und dabei völlig vergessen hat, sich mehr auf sein eigenes Projekt zu konzentrieren anstatt auf das der anderen. Manchmal als Anwältin in New York, die ständig den Druck fühlt, sich anpassen zu müssen. Keinen engen Rock oder gar bequeme Schuhe zu tragen mag in so mancher Anwaltskanzlei als sicheres Anzeichen für eine Lebenskrise interpretiert werden. Unfreiheit hat unglaublich viele Formen.

Wie viele sich wohl selbst in so wichtigen Fragen wie „Was will ich den Rest meines Leben machen?“ – einer ungemein persönlichen Angelegenheit – passiv den gesellschaftlichen Normen beugen; sich also, bewusst oder unbewusst, zu sehr an Werten wie sozialem Status orientieren und damit manchmal unvorstellbar lang ein Leben führen, das sie gar nicht sind. Vielleicht auch, weil sie permanent an sich zweifeln wie Michael und sich später dann in der Zwickmühle befinden? Wer muss schon beweisen, wer er ist, oder was er kann oder wie weit er es bringen könnte, nur, weil die Gesellschaft das von einem erwartet? Sicherlich niemand, der sich seines eigenen Wertes bewusst ist. Bedeutet das dann aber nicht gleichzeitig auch, dass wir uns schon zu Beginn nicht allzu tief mit der Frage danach beschäftigen, wer wir eigentlich sind?

Wie ironisch erschient da doch einmal mehr die Social-Topping-Philosophie unserer Gesellschaft, nach der jeder höher springen, weiter werfen und schneller laufen sollte als der Rest. Was aber, wenn wir dann alle in die falsche Richtung laufen und es nicht einmal merken? Schlimmer muss es jedoch sein, dies zu realisieren, aber dann nicht den Mut aufbringen zu können, es zu ändern und zu sein, wer man wirklich ist – in welcher Form auch immer, das Rad nicht brechen zu können.

Bevor wir uns am Flughafen in New York verabschiedeten, war das letzte, was ich Michael, der eigentlich immer ein Fußballtrainer werden wollte, gesagt habe, folgendes: „Worauf wartest Du eigentlich? Jetzt in der Rente weißt du ja eigentlich genau wer Du bist. Wenn Du wirklich etwas machen möchtest, dann setzten Dir ein Ziel und fang endlich an.”

Be bold, denn „[so] mancher Mensch lebt, als würde er niemals sterben, und stirbt dann, ohne jemals wirklich gelebt zu haben.”[3]


[1] Seneca führt in seinem Werk de vita beata eine fiktive Diskussion mit seinem Bruder, in der er zu der Konklusion kommt, dass am Ende nur ein tugendhaftes Leben glücklich macht. Er ist der Überzeugung, dass ein Mensch als Voraussetzung dafür vor allem nach seiner Natur leben muss.
[2] Sen, Amartya K. (1999), Development as Freedom, Oxford: Oxford University Press.
[3] Dalai Lama.