In dem Auslieferungsprozess um den Wikileaks-Gründer Julian Assange steht sein Leben auf dem Spiel.

Hans Rauscher, führender Kolumnist der österreichischen Tageszeitung Der Standard – er sei hier stellvertretend genannt für viele andere, die ähnlich denken – irrt leider, wenn er zwar einräumt, dass es bei dem Fall Julian Assange skandalöse Vorgänge gebe, gleichzeitig aber in dem Australier kein Symbol einer bedrohten Pressefreiheit sehen will. [1] Wer so spricht, dem ist die politische Tragweite der Ereignisse nicht bewusst.Tatsächlich muss jeder, dem nur irgendwie an einem unabhängigen und kritischen Journalismus gelegen ist, alles daransetzen, dass Assange freigelassen wird, – sonst ist die freie westliche Welt endgültig Geschichte.Den USA geht es darum, und das spricht der ehemalige CIA-Direktor Leon Panetta sogar ganz ungeniert mit diesen Worten aus, ein Exempel zu statuieren. Wird Assange an die Vereinigten Staaten ausgeliefert, so wird das geschaffen, was man in der Sprache der Justiz einen Präzedenzfall nennt. Das heisst, dass dann mit jedem investigativen Journalisten oder überhaupt mit jedem von uns – weltweit, also ganz gleich, wo auf dem Planeten man sich gerade befindet und ob man nun amerikanischer Staatsbürger ist oder nicht -, dass dann mit jedem von uns, der beispielsweise Recherchen über Kriegsverbrechen durch Angehörige der US-Armee oder über Foltergefängnisse der Supermacht anstellt und die Ergebnisse an die Öffentlichkeit bringen will, theoretisch genau dasselbe gemacht werden kann wie jetzt mit Assange.

Und was mit diesem gemacht wird, ist so schrecklich, dass es schier unglaublich ist, dass so etwas in einem zivilisierten Land der westlichen Welt möglich ist, das bis vor kurzem immerhin noch der Europäischen Union angehört hat: nämlich Grossbritannien.

Langsames Sterben in Belmarsh

Zur Erinnerung: Assange befindet sich immer noch – also mittlerweile seit insgesamt fast 17 Monaten – im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, dem „britischen Guantanamo“, wie manche es nennen, in dem ansonsten nur supergefährliche Mörder sowie Terroristen verwahrt werden. 23 Stunden am Tag befindet er sich in vollständiger Isolation. „Weisse Folter“ nennt man das unter Menschenrechtsexperten. [2] Jeden Morgen um 5 Uhr wird er geweckt, mit Handschellen gefesselt, in eine Arrestzelle gesteckt, nackt ausgezogen und einer Röntgenuntersuchung unterzogen. Besuch darf er nur einmal im Monat für 40 Minuten empfangen. Für das Telefonieren steht ihm ebenso bloss ein äusserst beschränktes Zeitkontingent zur Verfügung.

Der Kontakt zu seinen Anwälten wird dem Australier fast vollständig verwehrt, er kann sich nicht mit ihnen beraten. Er kann seine Verteidigung nicht ordentlich vorbereiten, und nach einem Jahr in Haft hat er zwar wenigstens endlich einen Computer erhalten, aber ohne Internetzugang. Nicht einmal die Tasten kann er bedienen, weil sie festgeklebt sind, um ihn daran zu hindern, etwas zu schreiben.

Während der Verhandlung, zu der er durch einen unterirdischen Gang gebracht wird, sitzt er in einem Panzerglaskasten im hintersten Teil des Gerichtsaals, abgeschirmt auch von seinen Verteidigern, mit denen er, falls überhaupt, nur durch einen Schlitz reden kann. Ohnehin gehandicapt durch die schwerwiegenden psychologischen Auswirkungen der weissen Folter, tut er sich dabei auch aufgrund der schlechten Akustik schwer, dem Verfahren zu folgen. Eine Anzahl von Ärzten und Psychiatern fürchtet um sein Leben, sei es aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes, sei es, dass er dem psychischen Druck nicht mehr standhalten und Selbstmord begehen könnte. [3] Dem Gericht ist dies gleichgültig.

„Sie töten ihn langsam“, kommentiert der Philosoph Slavoj Žižek das Geschehen. [4]

Diese Behandlung gilt aber einem Mann, dessen einziges Verbrechen auf britischem Boden – man kann es nicht oft genug wiederholen – darin besteht, gegen Kautionsauflagen verstossen zu haben, ein Vergehen, für das es üblicherweise gar keine Haftstrafe gibt. Assange hingegen wurde dafür zu 50 Wochen Gefängnis verurteilt. Mittlerweile wird seine Inhaftierung damit begründet, dass er sich dem Auslieferungsverfahren entziehen könnte, während der ursprüngliche Anlass seiner juristischen Verfolgung, ein, wie sich inzwischen herausgestellt hat, von den schwedischen Behörden fingiertes Sexualdelikt [5] auf einmal keine Rolle mehr spielt. Nun ist offenbar, dass es von Anfang an nur ein Vorwand gewesen war, um seiner habhaft zu werden.

Nichts von alledem rechtfertigt aber eine Verwahrung unter den geschilderten Bedingungen. Das in mehrfacher Hinsicht vollkommen willkürliche Vorgehen der britischen Justiz spottet allen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, wie auch der Schweizer Rechtswissenschaftsprofessor und UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, immer wieder betont, der den Fall gründlicher recherchiert hat als irgendjemand anderer.

Schikanen für Verteidiger und Prozessbeobachter

Hinzu kommt, dass der Prozess in „Old Bailey“, dem Zentralen Strafgerichtshof der englischen Hauptstadt, praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wird. Nicht einmal die grossen Medienhäuser und NGOs haben so ohne weiteres die Möglichkeit, das Verfahren direkt zu beobachten. Das ist mit ein Grund dafür, dass nur sehr wenig von dem, was dort geschieht, nach aussen dringt. Und war es schon im vergangenen Februar schwer, einen Zugang zur Besuchertribüne zu erlangen, da dort nur 18 Plätze zur Verfügung gestellt wurden, so wurde diese Anzahl während der vor kurzem zu Ende gegangenen vierwöchigen Anhörungsphase noch einmal drastisch reduziert, zuerst auf vier und schliesslich überhaupt auf bloss noch zwei, zuzüglich zu den fünf Plätzen für Angehörige von Assange.

Ursprünglich hätte es zwar darüber hinaus einen Videostream für Vertreter von Amnesty International, Reporter ohne Grenzen, PEN und andere Nichtregierungsorganisationen geben sollen, doch wurde ihnen unter fadenscheinigen Begründungen von der Richterin Vanessa Baraitser der Zugang dafür plötzlich entzogen.

Erschwerend für die Verteidigung kam im Herbst dazu, dass die US-Kläger zwar vom Gericht die Möglichkeit bekamen, die Anklage kurzfristig vollkommen umzustrukturieren, den Anwälten Assanges aber gerade 30 Minuten gegeben wurde, sich auf die neuen Fragestellungen vorzubereiten.[6] Eine Vertagung wurde abgelehnt.

Der vor dem langen Arm der USA nach Russland entflohene Whistleblower Edward Snowden, der das Geschehen, so gut er kann, aus der Ferne verfolgt, verglich diese Vorgänge mit dem, was man sonst nur von Kafka kenne. Christian Mihr wiederum, der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen in Deutschland, spricht davon, dass bei dem Verfahren nicht einmal versucht werde, den Anschein von Fairness und Transparenz zu wahren. [7]

Sowieso stellt sich die Frage, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass die amerikanische Justiz einen Mann für sich beansprucht, der nicht einmal amerikanischer Staatsbürger ist und der keines seiner angeblichen Vergehen auf amerikanischem Boden begangen hat, so dass erstaunlich ist, wie überhaupt amerikanische Gesetze für ihn zuständig sein sollten.

Überdies ist im englischen Recht eine Auslieferung für das hier kunstreich unterschobene Delikt, nämlich Spionage, eigentlich ausgeschlossen, so dass der ganze Prozess ohnehin nur mit Hilfe sehr verwinkelter juristischer Schachzüge möglich ist.

Pläne der Amerikaner, Assange zu vergiften

Von solchen kleinlichen rechtstheoretischen Bedenken lassen sich die USA und ihre Brudernation, England, indes freilich nicht bremsen. Ums Recht oder um Rechtsstaatlichkeit kümmert man sich hier nämlich schon lange nicht mehr. Wenn man glaubt, es gehe hier tatsächlich darum, Assange dem Recht oder der Gerechtigkeit zuzuführen, hat man etwas gründlich missverstanden. Das Recht ist hier offensichtlich nur mehr Fassade zum Zwecke ungenierter, blanker Macht- und Gewaltausübung.

Keinesfalls darf man die Skrupellosigkeit, die hier am Werke ist, unterschätzen. Ist doch in den vergangenen Wochen bei der Anhörung der von der Verteidigung aufgerufenen Zeugen zutage getreten, dass die US-Geheimdienste ernsthaft erwogen haben, Assange während seines Aufenthalts in der ecuadorianischen Botschaft nicht nur zu kidnappen, sondern auch vergiften zu lassen. [8] Den Weg in das Gebäude fanden die Amerikaner über die eigentlich von der Regierung des lateinamerikanischen Landes beauftragte spanische Sicherheitsfirma UC Global, deren Chef, David Morales, bei einem Aufenthalt in Las Vegas kontaktiert worden war. Daraufhin hatten Mitarbeiter des Unternehmens die bereits installierte Überwachungstechnik durch Kameras mit versteckten Mikrofonen ersetzt und zusätzlich Wanzen installiert.

Nicht nur hat man bei persönlichen Gesprächen Assanges mit seinen Besuchen, mit seinen Anwälten, Ärzten und Vertretern von Medien sowie NGOs, stets mitgehört, ebenso ist man in die privaten Räume des Australiers eingebrochen, und es wurde auch versucht, einen Angestellten der Firma dazu anzustiften, die Windel oder den Schnuller eines Babys zu stehlen, um mit Hilfe eines DNA-Tests Gewissheit über die Vaterschaft zu bekommen. Selbst die Kinder des Wikileaks-Gründers hat man also nicht in Ruhe lassen wollen. Mittlerweile ist ein spanisches Gericht mit all dem befasst. [9]

Wird aber Assange an die USA tatsächlich ausgeliefert, so drohen ihm 175 Jahre Haft im ADX Florence, dem berüchtigten Supermax-Gefängnis im US-Bundesstaat Colorado. Dabei handelt es sich um eines der schlimmsten Gefängnissysteme überhaupt auf der Welt. Der Aufenthalt darin kann nach Auffassung von Menschenrechtskommissionen fortwährender Folter gleichgesetzt werden. [10]

Ein warnendes Beispiel für uns alle

Man versteht diesen drakonischen Umgang mit Assange aber vollkommen falsch, wenn man glaubt, es ginge hier bloss um sein persönliches Schicksal. Das Ziel der amerikanischen Regierungsvertreter ist global. Was mit Assange gemacht wird, ist gedacht als eine grelle Warnung der Supermacht an die ganze Welt, an uns alle: Demnächst, so sagt uns sein Beispiel, kann genau dasselbe dir oder mir geschehen, falls wir uns nicht gut benehmen, falls wir etwas verbreiten, was nach Auffassung der USA nicht an die Öffentlichkeit gehört.

Melzer durchschaut das mit Scharfsinn: „Die Botschaft der USA ist folgende: ‚Wenn du das tust, was Assange getan hat, dann wirst du nie mehr freikommen, du wirst niemals wieder imstande sein, deinen Mund aufzumachen und zu der Öffentlichkeit zu sprechen.‘ “ [11]

Das sei, so fährt Melzer fort, auch der Grund, warum die Vertreter der amerikanischen Regierung es mit der Auslieferung des Australiers nicht so eilig hätten. Es gehe ihnen gar nicht darum, Assange dem Recht zuzuführen. Es macht ihnen daher auch nichts aus, wenn er in Belmarsh stirbt, Selbstmord begeht oder sich das Verfahren schlicht so sehr in die Länge zieht, dass er hinter Gittern verrottet, ohne je verurteilt worden zu sein. Hauptsache, er ist zum Schweigen gebracht und man weiss, dass er ein schreckliches Schicksal erlitten hat für das, was er getan hat.

Und die Warnung ist möglicherweise bereits angekommen. So liegt es vielleicht nicht bloss an der üblichen Identifikation west- und mitteleuropäischer Massenmedien mit den USA begründet, dass sie nur sehr zurückhaltend über die ungeheuerlichen Umstände dieses Prozesses berichten, anstatt sich darüber ebenso lautstark zu empören wie etwa über die Vergiftung des russischen Oppositionellen Nawalny.

Dabei haben fünf grosse Leitmedien früher einmal engstens mit Assange und Wikileaks zusammengearbeitet und waren durchaus Nutzniesser seiner Arbeit, bevor die Jagd auf ihn begann. Nun treten sie leise auf: Der britische Guardian, der französische Le Monde, der deutsche Spiegel, das spanische Blatt El País und die New York Times. [12]

Das Schweigen der Politik

Aber auch die europäischen Politiker haben beschlossen, über diesen Fall nicht mehr allzu viele Worte zu verlieren und ihn am besten ganz aus dem Gedächtnis zu streichen. Melzer schildert, wie er gegen Mauern rennt, wenn er versucht, die Aufmerksamkeit auf die schweren Menschenrechtsverletzungen im Fall Assange zu lenken. Mitglieder des deutschen Aussenamts ziehen sich in ihren Statements mantraartig auf den Standpunkt zurück, es handle sich um eine innere Angelegenheit Grossbritanniens und man sehe keinen Grund, an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zu zweifeln.

Und das, obwohl es Belege dafür gibt, dass das deutsche Aussenministerium in Wahrheit bestens über den Prozess in London informiert wird und auch über das Ausmass der Menschenrechtsverletzungen sehr genau Bescheid weiss. [13]

Melzer: „Dieser Typus ausweichenden Verhaltens ist ziemlich charakteristisch für das, was ich überall mit dem politischen Establishment erlebe. Man fühlt sich so unwohl mit der Wahrheit über das Verfahren und die Folgen für die Rechtstaatlichkeit, dass man nur möchte, dass der Fall irgendwie so schnell und leise wie möglich vorübergeht.“

Man muss aber auch zugeben, dass es einiges an Mut, Charakterstärke und Idealismus abverlangt, hier deutlicher Stellung zu beziehen, denn das hat Folgen. Die Anwälte von Assange wissen, dass sie sich für den Rest ihres Lebens unter ständiger Überwachung des amerikanischen Geheimdienstes befinden werden. Melzer wiederum ist sich darüber im Klaren, dass seine Tage als UN-Sonderbeauftragter gezählt sind.

Framing

Zu der Situation trägt auch bei, dass es der USA und den mit ihnen Verbündeten gelungen ist, ein sogenanntes Framing in der öffentlichen Meinung zu installieren. Das heisst, die Diffamierungsstrategien haben durchgeschlagen, und einmal in die Welt gesetzte irreführende Narrative sind kaum mehr aus den Köpfen der Menschen zu bekommen, und das, obwohl sie mittlerweile durch gründliche Recherchen widerlegt oder zumindest entkräftet worden sind.

Kübel von Schmutz sind über Assange gegossen worden, und immer noch hat jeder, der sich für Assange einsetzt, damit zu kämpfen, dass ihm alsbald vorgehalten wird, der Australier sei doch ein Vergewaltiger, ein geltungssüchtiger Narziss, ein undankbarer Rabauke, der sich in der ecuadorianischen Botschaft nicht gut benommen habe, und obendrein ein übler Spion, der sich auf die Seite Trumps und Putins gestellt habe, kein seriöser Journalist, ja, überhaupt kein Journalist, eher schon so eine Art Terrorist. Notorisch erhält sich vor allem die Behauptung am Leben, er habe Geheimdokumente einfach so komplett ins Netz gestellt, ohne Rücksicht darauf, dass durch die Veröffentlichung der Informationen andere in Gefahr gebracht werden könnten.

Dieses Framing hat so nachdrückliche Wirkung entfaltet, dass sogar Amnesty International davon beeinflusst wird und sich immer noch weigert, dem nachdrücklichen Aufruf Melzers und diverser Aktivisten zu folgen und Assange den Status eines „prisoners of conscience“ („POC“, wörtlich „Gewissensgefangener“) zuzuerkennen.

Dabei hat sich schon 2013 während des US-Verfahrens gegen Manning [14] herausgestellt, dass nicht einmal dem Pentagon auch nur ein einziger Fall bekannt ist, in dem jemand durch die Wikileaks-Publikationen einen Schaden erlitten hätte. Ganz im Gegenteil hat Assange mit höchster Vorsicht und Sorgfalt gearbeitet und alles getan, um Menschenleben zu schützen. [15]

Während der Anhörung hat dies der Bieler Informatikprofessor Christian Grothoff noch einmal bestätigt. „Mit dem nötigen Fachwissen lässt sich alles Schritt für Schritt nachvollziehen“, erklärte er anschliessend auch in einem Interview dem Schweizer Online-Magazin Republik. [16] Assange sei „verantwortungsvoll mit den Daten umgegangen“.

Hingegen sei dafür, dass die Dokumente auf einmal ungeschwärzt im Netz zu zirkulieren anfingen, ein ehrgeiziger, aber schlampig arbeitender Journalist des Guardian verantwortlich gewesen: David Leigh, der dem Australier zuerst ein wichtiges Passwort abschwatzte und dann so leichtsinnig gewesen sei, es ohne jede weitere Rücksprache mit Assange einige Monate später in einem Buch zu veröffentlichen.

So unglaublich sich das anhört: Es deckt sich mit den Aussagen eines ehemaligen Investigativjournalisten des Spiegel, John Goetz, der eng mit Assange zusammengearbeitet hat.

„Die Sensibilität war eines der Themen, über die geständig gesprochen wurde“, legt er dar. Das wirkliche Geschehen stimme einfach nicht überein mit der Erzählung, die seit zehn Jahren von den Vertretern der US-Regierung wiederholt werde.

In der sehenswerten ARD- Doku „Wikileaks – Die USA gegen Julian Assange“ vom 7. September 2020 bekräftigt auch Holger Stark, der Korrespondent für den Spiegel in Washington war, dass der Vorwurf, der Australier habe für seine Veröffentlichungen die Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen, schlicht nicht stimme.

Die Trump-Putin-Wikileaks-Verschwörungstheorie

Ähnliches ergaben die Recherchen des Publizisten Mathias Bröckers, der bald nach der Verhaftung des Australiers in der Ecuadorianischen Botschaft am 11. April 2019 beim Westend-Verlag ein kleines Büchlein veröffentlicht hat, das ich jedem nur empfehlen kann, der ein Interesse an einer fundierten Einführung in die Hintergründe der Thematik und die Geschichte von Wikileaks hat. Titel: „Don’t kill the messenger! Freiheit für Julian Assange“.

Bröckers räumt darin auch mit einigen anderen Mythen auf, wie zum Beispiel der Behauptung, Wikileaks hätte nie etwas Negatives über Putins Russland veröffentlicht. Tatsächlich hat die Plattform Hunderttausende von Dokumenten und Kommentare online gestellt, die ein kritisches Licht auf die russischen Verhältnisse geworfen haben.

Assange war also nie ein Vasall Putins. Nur einer Obamas halt auch nicht. Oder einer Clintons. Aber auch keiner Trumps. Die abenteuerlichen, an Verschwörungstheorien erinnernde Behauptungen, er habe 2016 bewusst Wahlhilfe für Trump geleistet, werden schon dadurch widerlegt, dass dieser nach seiner Ernennung zum Präsidenten nichts anderes zu tun hatte, als sofort die Aktion scharf gegen den Australier ausrufen und Anklage gegen ihn erheben zu lassen.

Assange war gegen Clinton, aber das heisst nicht, dass er jemals für Trump war. Das gleichzusetzen, heisst zwei grundlegend verschiedene Dinge miteinander zu verwechseln.

Und wenn beispielsweise der bereits am Beginn genannte Hans Rauscher, ein Sympathisant der Demokraten, sich über die Veröffentlichung der Clinton-Mails während des US-Wahlkampfs 2016 empört, so ist das aus seiner Perspektive zwar verständlich, doch begibt er sich dabei selbst auf ein gefährliches Terrain. Als Journalist ist man der Wahrheit verpflichtet, und das auch dann, wenn ihre Enthüllung Unliebsames über jene Person zutage fördert, die man persönlich gerne als US-Präsidentin gesehen hätte. Die Veröffentlichung der Clinton-Mails war natürlich richtig.

Unbequeme Wahrheiten

Fassen wir die simplen Tatsachen zusammen, ohne uns von all diesen Zwischenrufen verwirren zu lassen: Da hat jemand enthüllt, was die USA so alles auf dem Planeten treiben, viele Dinge, von denen man sonst nichts wüsste, da hat jemand schwerste Kriegsverbrechen an die Öffentlichkeit gebracht, hat etwa gezeigt, wie Angehörige der US-Armee einfach nur so zum Spass vom Hubschrauber aus unbewaffnete Zivilisten mit dem Maschinengewehr niedermähen – um nur das bekannteste Beispiel zu nennen, das sogenannte „Colleteral-Murder“-Video. Paradoxerweise steckt dafür im Gefängnis und unter unmenschlichen Bedingungen verwahrt nun der Aufdecker, aber kein einziger von denen, die diese wirklichen Verbrechen begangen haben.

Melzer: „In zwanzig Jahren Arbeit mit Opfern von Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung habe ich noch nie erlebt, dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten zusammengeschlossen hat, um ein einzelnes Individuum so lange Zeit und unter so wenig Berücksichtigung der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit bewusst zu isolieren, zu dämonisieren und zu missbrauchen. Die kollektive Verfolgung von Julian Assange muss hier und jetzt enden!“ [17]

Was uns andernfalls blüht, fasst Edward Snowden in einem prägnanten Statement zusammen: „Wenn das Aufdecken von Verbrechen wie ein Verbrechen behandelt wird, werden wir von Verbrechern regiert.“

Bröckers fügt hinzu: „Am Ausgang des Verfahrens gegen Julian Assange wird sich entscheiden, inwieweit sie die Macht schon übernommen haben.“

Leider aber „scheinen nur wenige […] sich bewusst zu sein, dass mit seinem Fall unser aller Schicksal verhandelt wird.“ (Žižek) Widerstand Widerstand ist also angesagt. Die Liste prominenter Unterstützer von Assange ist lang: Vivienne Westwood, Slavoj Žižek, Roger Waters, Günter Wallraff, Yanis Varoufakis, Pamela Anderson, Oliver Stone, Ai Weiwei …, um nur einige von ihnen zu nennen. Was letzteren betrifft, so sollte es jedem Engländer zu denken geben, wenn die Sache so weit gediehen ist, dass ein chinesischer Dissident, der wahrlich wissen muss, was Menschenrechtsverletzung bedeutet, die Zeit dafür reif sieht, für die Menschenrechte eines Gefangenen des britischen Empire auf die Strasse zu gehen.

Langer Atem ist dabei gefragt. Auch wenn das Urteil im Auslieferungsverfahren für den 4. Januar 2021 anberaumt ist, wird die Sache noch lange nicht vorbei sein. Die Angelegenheit wird bis in die höchsten Instanzen und wahrscheinlich bis zum Europäischen Gerichtshof getragen werden. Das alles kann Jahre dauern.

Jedem, der regelmässig auf dem Laufenden gehalten werden will, kann ich nur empfehlen, sich bei der Facebook-Gruppe „Freedom for JULIAN ASSANGE. NOW!“ anzumelden.

Ortwin Rosner
streifzuege.org

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