Am 20.Oktober trat Pepe Mujica, der ehemalige Präsident Urugays, der als «ärmster Präsident der Welt» bekannt wurde, von seinem Sitz im Senat zurück. Er ist 85 Jahre alt und tat dies nicht zum ersten Mal. Bereits im August 2018 war er „wegen Erschöpfung“ zurückgetreten, aber er kam zurück und erhielt bei der Senatswahl 2019 in Uruguay die meisten Stimmen. Sein jetziges Gehen begründet er folgendermaßen: „Die Pandemie hat mich entlassen“.
In seinem formellen Rücktritt vor der Kamera sagte er:
„(…) Das Amt des Senators schreibt unter anderem eine starke und dauerhafte Beziehung zu sozialen Akteuren und Gruppen vor. Es beinhaltet, Bürger zu empfangen und sie gelegentlich an ihren Arbeitsplätzen zu besuchen, um einen Einblick in ihre Probleme und ihren Alltag zu erhalten. Für einen Mann hohen Alters, der außerdem an einer Immunerkrankung leidet, ist dies in Zeiten einer Pandemie nicht ratsam, wenn er das Wunder des Lebens wertschätzt. Diese Situation verpflichtet mich dazu, von dem Posten zurückzutreten, den ich durch die Bevölkerung erhalten habe.“
Es ist ein wenig ungewöhnlich, dass ein Politiker von einem Amt wie dem des Senators zurücktritt, „weil er seine Mitbürger nicht mehr besuchen kann, um zu erfahren, wie es ihnen ergeht“. Aber Pepe ist ein Mann ungewöhnlicher Maßnahmen und Einstellungen. Während seiner Präsidentschaft entkriminalisierte er unter anderem Abtreibung, ermöglichte die gleichgeschlechtliche Ehe und legalisierte Marihuana. Dabei akzeptierte er niemals einen Chauffeur und fuhr weiterhin sein altes Auto; er spendete mehr als 90% seines Präsidentengehalts; er trug weiterhin einfache Kleidung, sogar bei wichtigen Anlässen – und erzeugte damit einen gewissen „Fremdscham“ bei seinen Kollegen; er lebte weiterhin im gleichen ländlichen Haus und sagt von sich, er hasse niemanden – trotz fast 15 Jahren, die er im Gefängnis unter unmenschlicher Behandlung gelitten hat.
In einer opportunistischen Umwelt voller Größenwahn und Lügen war und ist Pepe für viele ein erfrischender und inspirierender Bezugspunkt. Viele Personen und Ereignisse können dies bestätigen, wie zum Beispiel der Druck von Büchern mit seinen Reden in Japan, die auch eine illustrierte Version für Kinder beinhalten und an öffentliche Schulen verteilt wurden. Ebenfalls vielsagend ist die Zuneigung der einfachen Leute ganz Amerikas gegenüber Pepe. Die Menschen verstehen seine schlichte Art zu reden und zu handeln. Genauso wie die Tatsache, dass ihm vor einigen Jahren 10´000 junge Studierende applaudierten und seine fast zweistündige Rede an der Universidad Estadual de Rio de Janeiro feierten. Auch gestern zeigten dies die Mitarbeitenden im Senat, die ihn am Tor verabschiedeten, als er sich kurz nach seinem Rücktritt langsam entfernte: „Chau Pepe, danke. Du wirst uns fehlen“, sagten sie, als würden sie sich von einem Freund verabschieden. Auch wenn es sicher nicht bekannt wird, sagen ihm viele andere das Gleiche: „Danke, Pepe“
Es folgen der vollständige Text und das zugehörige Video seiner Rücktrittsrede vor dem Senat:
Niemand kann aus seiner Haut heraus. Ich muss Ihnen für so viel Anerkennung danken. Ich will mich jetzt bedanken, weil es im Leben eine Zeit des Ankommens und eine Zeit des Gehens gibt. Ich möchte den Mitarbeitern danken, die mich in diesen 26 Jahren in diesem Haus unterstützt haben. Ich weiß, dass einige schon nicht mehr da sind. Außerdem will ich vielen Kollegen, Abgeordneten und Senatoren danken, mit denen ich schwere, aber auch scherzhafte Stunden geteilt habe. Dabei möchte ich vor allem einen herausstellen, der euch symbolisiert und der auf dieser Bank saß – Alejandro Atchugarry, ein Liberaler höherer Qualität, kein Liberaler der Wirtschaft, sondern ein humanistischer. Wir lernten im Lauf der Jahre, Gegner zu sein, uns dabei aber nicht anzugreifen und als ich zum Minister ernannt wurde, lud er mich in eine Bar ein und sagte: „Pepe, sei vorsichtig damit, und damit, und damit… und wenn du irgendein Papier unterschreiben sollst, achte darauf, dass es von einem offiziellen Anwalt geprüft wurde“. Und auch als es bekannt wurde, dass wir Differenzen innerhalb unserer Regierung hatten, rief er mich zu sich. „Pepe…“ Ein Mann höherer Kategorie, der sich nicht mehr unter uns befindet und den ich zum Symbol von etwas Beständigen machen möchte, dass es zu bewahren gilt – seine Offenherzigkeit angesichts des rigiden politischen Systems dieses Landes, das, da es klein ist, Spaltung vermeiden muss und einen gemeinsamen Nenner finden muss, der im Lauf der Jahre stabil aufrechterhalten werden kann.
Ich möchte mich auch bei meinen Kollegen bedanken. Ehrlich gesagt, gehe ich, weil mich die Pandemie entlässt. Senator zu sein bedeutet, mit Menschen zu sprechen und viele Orte zu besuchen. Das Spiel lässt sich nicht im Büro spielen und ich bin durch die Umstände doppelt bedroht: Wegen meines Alters und meines Leidens an einer chronischen Immunerkrankung. Wenn morgen ein Impfstoff erscheint, könnte ich mich nicht impfen lassen. Nun gut…
Und jetzt muss ich die Entscheidung treffen, Ihnen für die Geduld zu danken, die Sie aufbringen mussten um mich zu ertragen. Und, dass Sie so voller Lob waren, viel zu sehr voller Lob. Ich habe auch eine gute Zahl an Schwächen. Ich bin leidenschaftlich, aber in meinem Garten habe ich seit Jahrzenten keinen Hass mehr angepflanzt, weil mich das Leben eine harte Lektion gelehrt hat…
Hass macht uns letztendlich dümmer, weil er uns die Objektivität gegenüber den Dingen verlieren lässt.
Die Zeit bringt Veränderungen mit sich, und wir bewegen uns in eine neue Epoche hinein, in eine digitale Epoche. Weder besser, noch schlechter… anders. Ich glaube, es sind technologische Probleme aufgetaucht… die in der Lage sind, vorherzusagen, wie der Charakter und die treibenden Linien des menschlichen Verhaltens im Wesentlichen aussehen – manchmal ohne mit uns zu sprechen – anhand der digitalen Welt. Dies ist ein Dilemma, dem sich die Staaten und politischen Systeme der Zukunft stellen werden müssen: Wie weit darf in Privatsphäre und menschliche Würde eingegriffen werden und bis wohin existiert die Freiheit? Denn bis vor kurzem glaubten wir leidenschaftlich an eine Definition der Freiheit – und jetzt sagt uns die Wissenschaft: „Wen man unter Freiheit versteht, seinen Neigungen und Wünschen folgen, existiert sie. Wenn man unter Freiheit versteht, dass WIR in der Lage sind, diese Neigungen und Wünsche zu steuern, existiert sie nicht.“
Ich habe mein Leben mit einer bestimmten Definition von Freiheit gelebt und jetzt tauschen sie den Wortlaut aus. Dieses Problem haben die neuen Generationen und die Politik muss sich dessen annehmen. Denn die Politik ist der Kampf für menschliche Zufriedenheit, auch wenn das wie ein Wunschtraum klingen mag.
Und deswegen spreche ich meinen Dank aus. Schließlich haben uns viele Menschen in diesen Jahren, zwanzig Jahren, ihre Unterstützung gegeben und ich bin ihnen zum Dank verpflichtet – denen, die anonym in der Mitte des Volkes entscheiden. In der Politik gibt es keine Erbfolge. In der Politik gibt es Angelegenheiten und alle Männer und auch die Frauen geben ihre Verantwortung dafür irgendwann wieder ab. Wir alle gehen irgendwann. Einige Errungenschaften überleben, die sich anpassen müssen – das einzig permanente ist die Veränderung. Die Biologie erlegt uns Veränderung auf, aber es muss auch eine Einstellung geben, die Veränderungen offen gegenüber steht – die Einstellung, den neuen Generationen Möglichkeiten zu geben, Dinge neu zu formen und die Zukunft zu gestalten, auch wenn unser Leben sich dem Ende neigt – was unvermeidbar ist – aber die Errungenschaften bleiben.
Ich habe im Leben alles erlebt. Meine Hände waren sechs Monate lang mit einem Draht auf den Rücken gefesselt. In meinen Fäkalien gesessen, weil ich es zwei oder drei Tage in einem Laster eingeschlossen nicht aushalten konnte. Zwei Jahre verbracht, in denen sie mir das Waschen unmöglich gemacht hatten – ich musste mich mit einer Flasche, einer Tasse mit Wasser und einem Taschentuch waschen. Ich habe alles durchgestanden, empfinde aber für niemanden Hass. Und möchte der Jugend Folgendes mitgeben: Für das Leben müsst ihr dankbar sein. Im Leben zu triumphieren heißt nicht, zu gewinnen. Im Leben zu triumphieren heißt, aufzustehen und jedes Mal wieder neu anzufangen, wenn man gefallen ist.
Danke.
Übersetzung aus dem Spanischen von Chiara Pohl vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!