Der belorussischer Präsident Alexander Lukaschenko sieht sich bekanntlich gerne als „Vater der Nation“ und findet an der volkstümlichen Betitelung „Väterchen“ Gefallen.
Die Menschen, die gegen Lukaschenko auf die Strasse gehen, sind einerseits rebellisch, weil das „Väterchen“ seine Lüge von der Abwesenheit der Opposition mit massiver Gewalt durchsetzt. Andererseits sind sie in ihre Rebellion untertänig, denn sie sehen sich ja selbst als ein Volk, das dringend neue Regierung benötigt. Sie riskieren ihre Freiheit, ihre Gesundheit und manchmal auch ihr Leben um bestimmen zu können, wer über sie bestimmt. Sie übernehmen die Denkfigur der „Interessen aller Belorussen“, ganz unabhängig davon, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Das Ergebnis der ersten Tage nach dem Aufruf Tichanowskajas ist durchwachsen. Rentner:innen und Studierende halten Plakate „Unterstützen wir unsere Arbeiter“. „Unsere“ heisst nicht, dass sie die Arbeitgeber:innen von diesen seien. „Unsere“ heisst – unsere oppositionell-belorussische Lohnabhängigen. Während Kleinunternehmen pünktlich zum Streikbeginn schliessen, kann man von massenhafter Arbeitsniederlegung in der Industrie nicht sprechen. Das heisst keineswegs, dass die Arbeiterschaft geschlossen Lukaschenko unterstützt.
In vielen Betrieben laufen aufgeregte Diskussionen. Vor manchen Betrieben stellten sich „Solidaritätsposten“ auf. Aber von den grossen Betrieben ist lediglich die in der Oppositionshochburg Grodno stehende Chemiefabrik „Grodno Asot“ im Prozess der Stilllegung. Eine sofortige Unterbrechung des Produktionsprozesses würde zu einer Explosion führen.
Es kam auch zur vereinzelten Kündigungen, so wurden beim Erdölunternehmen „Belarusneft“ zu Beginn der Woche sechs Personen gekündigt. Es wird über die Austritte aus den „offiziellen“ Gewerkschaften berichtet. Die Drohung mit dem kompletten Lahmlegen der Wirtschaft hat sich jedoch bisher als leer erwiesen. Am Wochenende gab es wieder Frauenmärsche und Gedenkveranstaltung für die Stalin-Opfer in Kuropaty, alljährliches Ritual der national-liberalen Opposition.
Selbst die der Opposition sehr wohlgesonnenen Medien und Experten räumen ein, dass sich Tichanowskaja mit ihrem Ultimatum verspekuliert hat. Lukaschenko ordnete an, die Streikenden zu feuern und zu exmatrikulieren. Nicht umsonst spielen bei den Protesten Rentner:innen und Hausfrauen, die weniger zu verlieren haben eine so wichtige Rolle. Die Opposition setzt auch gezielt auf die Kontrastbilder „hier friedliche Frauen – da die gewalttätigen Silowiki-Männer“, aber mit der Hemmschwelle der Sicherheitskräfte scheint es nicht sehr weit her zu sein.
Ein Streik ist qualitativ etwas anderes als ein Protestspaziergang oder das Schliessen des eigenen Unternehmens durch die Besitzer oder Lernverweigerung durch Studierende. Das Mittel ist nicht eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung, sondern das Zufügen von wirtschaftlichem Schaden.
Sollte es tatsächlich dazu kommen, sollte die Drohung von Tichanowskaja doch noch wahr werden, hätten die Lohnabhängigen in Belarus ein Mittel nicht nur gegen alte Machthaber, sondern auch gegen die neuen Anwärter:innen auf die Ämter. Es würde den Spielraum für ganz neue Zielsetzungen eröffnen. Das setzt jedoch die Erkenntnis voraus, dass das „Volk“ nun mal aus Klassen, mit allem anderen als gleichen Interessen besteht.