Es muss an einem Samstagabend gewesen sein. Ich erinnere mich an die Studenten, die in der Bahnhofseingangshalle lautstark das Wochenende begrüßten und zu ihrer eigenen Musik tanzten, während mir die Anzeigetafel bestätigte, dass ich gerade den letzten Anschlusszug nach Hause verpasst hatte. Als ich meinen Weg an den Läden vorbei durch die feiernde Menge Richtung Ausgang bahnte, hielt ich auf einmal inne. Vielleicht war es der mir so vertraute Duft von Pretzeln, der mich dazu bewegte, vielleicht auch das Schild „3 Pretzeln zum Preis von 1“ vor der Bäckerei, kurz Halt zu machen.
Als ich an den Shop herantrat, lächelten mich diese Pretzel so verführerisch an, dass ich mich schließlich geduldig wartend in der Schlange vor der Bäckerei wiederfand. Während ich also da stand und in Gedanken bereits bei meiner Pretzel war, zog auf einmal etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Direkt neben den Studenten stand ein älterer Herr, vermutlich ein Obdachloser – blass, dünn und ärmlich gekleidet, aber mit überraschend freundlichen Zügen und einem warmen Gesichtsausdruck, der so gar nicht zum Rest passen wollte. Etwas an diesem Mann war seltsam, aber auf eine sehr positive Weise. Was genau mich überzeugt hat, mich schließlich mit meinen drei Pretzeln noch einmal durch die Menge an feiernden Studenten hindurchzukämpfen und vor ihm zu stoppen, weiß ich nicht. Ich wusste aber, dass ich eigentlich nie alle drei Pretzeln alleine essen hätte können und bot ihm die restlichen zwei backfrischen Pretzeln an. Da er wirklich nicht so aussah, als könne er diese Extrakalorien nicht brauchen, verwunderte es mich umso mehr, als er dankend ablehnte. Mein Gesichtsausdruck muss genau das kommuniziert haben, denn er fügte sofort an: „Ich wünschte ich könnte!“ Er griff in seine Tasche und holte eine Packung Schokoriegel heraus, die von anderen Passanten stammten und erzählte mir, dass seine Zähne so schlecht seien, dass er lieber Brei anstelle der Pretzel oder der Schokolade esse. Als er mir dann die komplette Schokoriegelpackung in die Hand drückte, war ich überrascht. Ich solle sie und die Pretzeln an Menschen verteilen, die das besser brauchen könnten als er, bat er mich. Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet, und doch versprach ich, dem gerne nachzukommen – schließlich hatte ich nun mehr als genug Zeit, die es galt, weise zu nutzen. Danach kramte ich mein letztes Kleingeld heraus, warf es in sein Körbchen und verabschiedete mich. Bevor ich jedoch das Bahnhofseingangstor passieren und mich in Richtung Stadt aufmachen konnte, wandte er sich erneut an mich und meinte: „Wissen Sie, genau darum geht es hier eigentlich!“ Ich nickte ihm zu und passierte das Eingangstor – mit drei Pretzeln und 25 Schokoriegeln.
Ob eine Pretzel die Welt verändern kann?
Wagt man einen Blick in die tatsächlichen Statistiken, mag es verwundern, gerade in westlichen Ländern, einen Obdachlosen vorfinden zu müssen. Eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom Oktober 2019, welche mittels des Bruttoinlandsprodukts die Kaufkraft zwischen Industriestaaten inflationsbereinigt vergleicht, zeigt deutlich, dass sich neben Steuerparadiesen wie der Schweiz und Luxemburg oder Ölstaaten wie Katar auch viele westliche Länder unter die reichsten Staaten der Welt einreihen. Angeführt von Katar mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 134.623 USD pro Jahr, befinden sich z.B. die USA mit 64.767 USD auf Platz 12 und auf Platz 19 Deutschland mit 53.854 USD unter den reichsten Länder der Welt.[1]
Ein Obdachloser auf den Straßen irgendeiner der angeführten Nationen sollte gar undenkbar sein – wäre dieser Reichtum nicht ungleichmäßig verteilt. Niemand kann leugnen, dass paradoxerweise auch in Wohlstandsgesellschaften, in denen relativ viel Kapital akkumuliert ist, die gerechte Verteilung des tatsächlichen Wohlstands eines der größten, leider aber auch meist heruntergespielten Probleme darstellt. Ein gutes Beispiel hierfür ist der aktuelle US-Wahlkampf, in dem es sich ein Kandidat leisten kann, das seit Jahren andauernde Sterben der Mittelschicht im Gegensatz zu einer Mauer zu Mexiko nicht einmal zum Randthema machen zu wollen – und dabei handelt es sich mit den USA um eines der vermeintlich hochentwickeltsten Länder der Erde. Was aber genau meint ungleichmäßige Wohlstandsverteilung eigentlich?
Betrachtet man den Gini-Koeffizienten zur Einkommensverteilung für z.B. Deutschland, so fällt zunächst einmal auf, dass die Einkommensverteilung in Deutschland im Jahr 2015 mit einem GK von 31.74 deutlich näher an dem Optimalwert 0 ist als z.B. in China mit 49,5 oder den USA mit 41,47. Das klingt auf den ersten Blick nicht schlecht. Was auch auffällt, ist das einige der westlichen Länder im Vergleich zum Jahr 2000 steigende Koeffizienten aufweisen. D. h. die ungleichmäßige Einkommensverteilung nimmt zu.[2] Interessant wird es aber vor allem dann, wenn man die Sache aus einem anderen Blickwinkel, dem der Verteilung des tatsächlichen Nettovermögens nach Abzug der Schulden betrachtet. Das reichste Prozent der erwachsenen Deutschen verfügt über 35 % des Gesamtvermögens, die reichsten 10% gar über gut zwei Drittel. Das heißt, dass die ärmsten 90 % auf der anderen Seite der Verteilung nur ein Drittel des Vermögens besitzen.[3] Laut der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) war im Jahr 2019 mit 15,9 % gut jeder sechste Deutsche armutsgefährdet – und das inkludiert sicherlich nicht nur den relativ geringfügigen Anteil derer, die nicht arbeiten wollen. Ohne die Umverteilung durch Sozialleistungen läge dieser Satz mit 25 % noch weitaus höher.[4] Im gleichen Jahr ergibt sich damit ein Gini-Koeffizient für die Vermögensverteilung von 0,816, der Deutschland auf den hinteren Rängen bei Länder wie die Indien (0,832), Nigeria (0,809) oder Südafrika (0,806) ansiedelt.[5] Wie kann das in einem doch so hochentwickelten Land wie Deutschland sein?
Woran kann das liegen?
Liegt es lediglich an unserem System? Liegt es daran, dass manche Menschen härter arbeiten oder skrupelloser sind als manch anderer? Kann man eine ungleiche Verteilung der Güter, oder der individuellen Talente, der individuellen ´Geschenke`, die jedem von uns in die Wiege gelegt wurden, dafür verantwortlich machen? Vielleicht, vielleicht auch – was aber auf jeden Fall auch eine Rolle spielt, ist die Art und Weise, wie wir zu diesen eigentlich nur geliehenen ´Geschenken´ stehen. Zunächst einmal ist alles, was wir in unserem Leben erhalten, und indirekt selbst das, was wir uns erarbeiten können, als nichts als ein geliehenes Geschenk zu betrachten, dem man gerecht werden kann oder nicht. Wer kann schon wirklich darüber entscheiden, wie intelligent man geboren wird, welches Aussehen man hat oder in welche Familiensituation man hineingeboren wird. Niemand; und jeder, der das negiert, ist nicht bescheiden genug, zu erkennen, dass einem nahezu alles wieder innerhalb kürzester Zeit, verdient oder unverdient, genommen werden kann: Das Geld durch einen Börsencrash; die Gesundheit durch einen Autounfall oder Krankheit; die Familie durch einen Schicksalsschlag. Wer hält schon wirklich alle Fäden in der Hand? Niemand.
Folglich ist es dann eigentlich naiv, zu behaupten, dass einem in diesem Leben etwas wirklich gehöre. Wie sinnlos erscheint da zum Beispiel auch die Social-Topping-Philosophie unserer Gesellschaft – schneller, höher, weiter als der Nächste? Alles, was man bekommt, selbst das was man sich durch seine gegebenen Talente erarbeiten kann, ist de facto als nichts als ein zeitig begrenzter Kredit zu betrachten, denn am Ende kann man tatsächlich nichts mitnehmen. Leider verfügen diese temporären Geschenke wie Wissen, Geld oder Macht über das Potential, die Herzen vieler zu korrumpieren, die sich nur selbst daran erquicken, sich gar überlegen fühlen. Was bringt es dann aber zum Beispiel der Reichste, der Schönste, der Mächtigste auf dem Friedhof zu sein, und diese ´Talente´ nur zur eigenen Bereicherung genutzt zu haben? Vermutlich relativ wenig, den man hat sich derer sicherlich nicht als würdig erwiesen. Vielleicht stellen unsere Begabungen, unsere ´Geschenke´ viel mehr eine Möglichkeit dar, zu zeigen, ob wir verstanden haben, diese Gaben weise zu nutzen – effektiv, aber auch nachhaltig, bescheiden und zu guter Letzt, zum Wohle aller? Wie wenige doch verstanden haben, dass mit vielen Geschenken auch große Verantwortung einhergeht. Wie viele sie wohl nicht wiederbekämen?
Was also bedeutet es, Geschenke weise zu nutzen?
Geschenke wie Verstand, Stärke, Mitgefühl oder auch Geld – was auch immer uns gegeben wurde – stellen im Grunde eine Möglichkeit dar, die Welt durch deren weise Nutzung als besseren Ort verlassen zu können. Da jeder von uns unterschiedlich ´ausgestattet´ wurde, liegt es an jedem einzelnen, sein ganz persönliches Projekt zu finden, um die Verantwortung zu übernehmen, die mit seinen Geschenken einhergeht: Ob als Sozialarbeiter, der in unserer Gesellschaft übrigens völlig unterbewertet wird, ob als Altenpfleger, der sich Aufgaben stellt, die manche sich gar nicht ausmalen möchten, ob als Kindererzieher, der sich tatsächlich einen Nebenjob suchen muss, weil er so schlecht bezahlt wird – in welcher Form auch immer.
Wer von uns aber setzt seine Geschenke schon wirklich nur effektiv und gut ein?
„If you want to test a man’s character, give him power.“
Abraham Lincoln
Abraham Lincoln hat Recht, wenn er behauptet, dass die Art und Weise, wie ein Mensch seine Geschenke nutzt, nur auf seinen eigentlichen Charakter schließen lässt – vor allem, wenn dieses Geschenk eine gewisse Machtposition ermöglicht. Er prangert damit sicherlich nicht gesunden Egoismus an; schließlich hat jeder ein Anrecht darauf, zu essen, zu trinken oder glücklich zu leben! Was er eigentlich meint, ist die Tatsache, dass paradoxerweise Menschen, die die Möglichkeit hätten, die Welt wirklich zum positiven zu verändern, ihrer Verantwortung nicht gerecht werden können, weil die menschliche Natur zu Schwäche und Überheblichkeit neigt. Es ist interessant, zu beobachten, wie gerade Menschen, die sich selbst nicht bedingungslos lieben können, auf Geschenke reagieren. Wie nutzt man seine Talente, wenn man mit den gegebenen Möglichkeiten manipuliert oder kontrolliert, um seiner selbst willen? Wie hingegen nutzt man seine Talente, wenn man sie aus freiem Willen nutzt, um andere ohne Hintergedanken zu stärken, um Wissen zu teilen, um andere aufzubauen? Um auf welche Art und Weise auch immer eine bessere Welt zu kreieren? Muss man außerdem immer reich beschenkt sein, um zu wissen, wie man seine Möglichkeiten weise handhabt? Muss jeder spärlich beschenkte unfähig sein? War nicht dieser einfache Mann in der Bahnhofshalle, der meine Pretzel ablehnte, mir aber 25 Schokoriegel in die Hand drücke, so viel weiser als ich ?
[1] Sackmann, Christoph. (15 März 2020). Deutschland gerade noch in Top 20: Das sind die reichsten Länder der Welt. Abgerufen am 28. September über https://www.focus.de/finanzen/ueberraschung-in-der-spitzengruppe-ueberraschung-unter-den-top-10-das-sind-die-reichsten-laender-der-welt_id_11415136.html.
[2] Povcal (2018). The Chartbook of Economic Inequality (2017). Kanbur et al. (2017) Table 1.B, Population (Gapminder, HYDE (2016 & UN (2019)). Abgerufen am 29. September 2020 über https://ourworldindata.org/grapher/gini-index-around-2015-vs-gini-index-around-2000?time=latest.
[3] Dinklage, Fabian et al. (14. Juli 2020). Das obere Prozent. Abgerufen am 28. September 2020, über https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-07/vermoegensverteilung-deutschland-diw-studie-ungleichheit.
[4] Autor unbekannt (20. September 2020). Armutsgefährdungsquoten. Abgerufen am 28. September 2020, über https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61785/armutsgefaehrdung.
[5] Credite Suisse (Oktober 2020). Research Institute – Global wealth report 2019. Abgerufen am 29. September 2020 über https://www.credit-suisse.com/about-us/en/reports-research/global-wealth-report.html.