Die Chilen*innen haben über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung entschieden. Und die Ergebnisse des Plebiszits haben die Prognosen noch übertroffen: Wurden die Stimmanteile für das „Ja“ („Apruebo“) zu einer neuen Verfassung im Voraus auf 60 oder 70 Prozent geschätzt, ergab sich nach Auszählung von mehr als 99 Prozent aller Stimmen eine überwältigende Mehrheit von über 78 Prozent. Demgegenüber stehen nur etwa 21 Prozent für das „Rechazo“-Lager, also gegen eine neue Verfassung. Ebenso gute 78 Prozent stimmten für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch eine verfassungsgebende Versammlung aus 100 Prozent gewählten Vertreter*innen.
Das historische Ergebnis des Plebiszits sorgte nach dieser besonderen Wahl für enorme Feierstimmung. Der „Platz der Würde“ (Plaza de la Dignidad) in der Hauptstadt Santiago, Zentrum der Proteste seit Oktober 2019, füllte sich mit Menschen. Mehrere Zehntausende feierten dort den Sieg des „Apruebo“, der den Weg für eine neue Verfassung und damit die Abschaffung des neoliberalen Grundgerüsts aus Zeiten der Militärdiktatur freimacht. […]
Einige Ergebnisse des Plebiszits zeigen – einzeln betrachtet – aber auch mit erschreckender Klarheit die Realität in Chile: die brutale Realität der Ungleichheit. Da sind beispielsweise die Wahlergebnisse aus den reichsten Vierteln Santiagos. Nur dort, in La Dehesa, Las Condes und Vitacura, konnte das „Rechazo“-Lager die Mehrheit erreichen. […]
Doch die ansonsten überwältigende Zustimmung zu einer neuen Verfassung gibt der Zivilgesellschaft nun neue Kraft. Es ist ein Sieg der Menschen auf der Straße, nicht der Politiker*innen. Nach Monaten der Proteste mit 31 Toten und tausenden Verletzten nimmt das Ergebnis des Plebiszits nicht nur der politischen Elite den Wind aus den Segeln, sondern gibt der Zivilgesellschaft die nötige Kraft und das Durchhaltevermögen für den Weg bis hin zu einer neuen Verfassung. Und der ist noch lang: Im April 2021 wählt die Bevölkerung zunächst die 155 Vertreter*innen für die verfassungsgebende Versammlung, die den Text ab Mai ausarbeiten soll. Die neue Verfassung soll dann durch ein weiteres Plebiszit im Jahr 2022 von der Bevölkerung ratifiziert werden.