Der Kampf gegen die Nahrungsmittelunsicherheit – Viertel für Viertel

Auf einer Seite eines Kühlschranks auf dem Bürgersteig in New Orleans prangen zwei Alligatoren, die eine Frau mit dunkler, mokkafarbener Haut umzingeln, die nichts als einen zerfetzten, weißen Slip trägt. Ihre Haare sind zu einem geflochtenen Zopf gebunden, der bis zum Boden reicht.  Mit dem rechten Fuß steht sie auf einer orangefarbenen Schlange. Über ihr scheinen weiße Vögel auf einen himmlischen Körper zuzufliegen. Unter ihr schleichen zwei weiße Bengalische Tiger zwischen zwei Papayahälften umher. Dieses ist nur eins der zahlreichen Gemälde der Künstlerin Sydney Calderon, die zur Unterstützung der New Orleans Community Fridges (NOCF) entstanden. Die NOCF sind eine Maßnahme zur gegenseitigen Hilfe, durch welche Kühlschränke in der gesamten Stadt aufgestellt werden, die kostenloses Essen für Gemeinschaftsmitglieder bieten; viele von ihnen müssen Hunger leiden.

Die 24-jährige Calderon, ursprünglich aus Richmond in Kalifornien, sagt über ihre Kunst: „[Ich bin] zutiefst inspiriert von meiner mexikanischen Abstammung, ich möchte sie durch meine Arbeit ehren. Für mich ist das Malen mehr als eine Karriere; es ist der Kern meiner Existenz“.

Sie sagt, New Orleans sei die Heimat, nach der sich ihr Herz immer gesehnt hatte.

„Meine Absicht war es meinen persönlichen künstlerischen Stil, den der mexikanischen Volkskunst, mit verschiedenen Aspekten von New Orleans zu verbinden, um ein Werk zu kreieren, das von dem skurrilen und bunten Charakter dieser Stadt inspiriert ist“, erklärte Calderon. „Mein Ziel beim Bemalen des [Kühlschrankes für die NOCF] ist es, etwas Schönes und Buntes zu erschaffen, das jedem auf eine Weise gehört. Ich denke, dass wir alle unsere Umgebung aufnehmen und von dem, was wir täglich sehen und erleben, beeinflusst werden. Ich glaube, dass die regelmäßige Begegnung mit Kunst im Alltag viel dazu beitragen könnte, unsere Gesellschaft zu nähren.“

Der Kühlschrank, der mit Calderons Gemälde geschmückt ist, ist nur einer von vielen Gemeinschaftskühlschränken, die draußen in New Orleans und in der gesamten Nation von Aktivisten aufgestellt wurden, um als Antwort auf die ökonomischen Folgen von COVID-19 gegenseitige Hilfen zu gewährleisten. Schon vor der Pandemie waren Hunger und Nahrungsknappheit ein großes Problem für viele Amerikaner. Seitdem viele Unternehmen durch den Ausbruch des Virus im März zur Schließung gezwungen waren, wurden massenhaft Arbeitnehmer entlassen, wodurch die Arbeitslosenrate in den USA durch die Decke schoss. Seit dem Ausbruch der Pandemie und dessen wirtschaftlichen Folgen muss ein großer Teil der Bevölkerung darum kämpfen, sich selbst und seine Kinder zu ernähren. Das Ausmaß des Virus und die unverantwortliche Reaktion der Trump-Administrative verschlimmern die ohnehin schon ernstzunehmende Hungerkrise in Amerika. Laut der Nonprofit-Organisation Feeding America werden im Jahr 2020 aufgrund der Corona-Krise mehr als 54 Millionen Menschen eine Nahrungsmittelunsicherheit erfahren.

Um einen Gemeinschaftskühlschrank aufzustellen, müssen die Organisatoren ein Gewerbe oder ein Anwesen finden, das sich bereit erklärt einen Stromanschluss in einer geeigneten Außenanlage bereit zu stellen. Die Kühlschränke werden dann gefüllt mit Spenden von Gemeinschaftsmitgliedern oder ortsansässigen Bäckereien, Restaurants, Supermärkten, Vorratsräume und manchmal auch Bauernhöfen, die ihre überschüssigen Lebensmittel dorthin abgeben. In dem Kühlschrank findet man täglich frisches Gemüse, Milchprodukte und andere leicht verderbliche Grundnahrungsmittel, um die Gemeinschaftsmitglieder in Not zu unterstützen. Lebensmittel mit einer längeren Haltbarkeit werden oft in Körben oder Kisten um den Kühlschrank herum gestapelt, bereit zur Mitnahme.

Diese von der Gemeinschaft eingeführte Lösung gegen den Hunger wurde seit Februar stark vorangetrieben. Thadaus Umpster, einer der ersten Organisatoren von In Our Hearts (IOH) NYC, einem freien Kollektiv, dass sich am Prinzip gegenseitiger Hilfe orientiert, sagt dazu, dass zu diesem Zeitpunkt die Einwohner in Zusammenarbeit mit IOH den ersten Gemeinschaftskühlschrank in New York City in Brooklyn aufstellten.

„Wir handeln mit der Absicht sicherzustellen, dass alle Menschen genug zu essen haben, und um auf die Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen“, sagt er. „Außerdem möchten wir mit diesem Projekt dazu beitragen stärkere, widerstandsfähigere, selbstversorgende und eigenständige Kommunen zu schaffen.“

Umpster beschäftigt sich bereits seit 1999 damit, Gemeinschaftsleistungen gegen die Lebensmittelverschwendung auf die Beine zu stellen, als er sich im lokalen Projekt Food Not Bombs engagierte. Er meint, das Problem liege nicht darin, dass in Amerika Nahrungsmittelknappheit herrsche, sondern im Zugang und in der Verteilung. Laut Schätzungen des U.S. Department of Agriculture (USDA), landen 30-40% der der USA bereitgestellten Nahrungsmittel im Abfall. Aus den Forschungsergebnissen geht auch hervor, dass dies 133 Milliarden Pfund Lebensmitteln und einem Wert von 161 Milliarden US-Dollar entspricht.

Auf der Website der USDA wird angegeben, dass dieses Ausmaß an Lebensmittelverschwendung die Gesellschaft hart trifft, denn „hochwertige Nahrungsmittel, die Familien in Not helfen könnten, landen auf Deponien“, sowie „Land, Wasser, Arbeitskraft, Energie und andere Ressourcen die zur Produktion, Verarbeitung, Transport, Aufbereitung, Lagerung und Verwaltung der weggeworfenen Lebensmittel benötigt werden.“

Umpster hält fest, dass die Lebensmittelverschwendung seit der Ausbreitung von COVID-19  noch schlimmer geworden ist, da Restaurants, Hotels und andere große Abnehmer von Nahrungsmitteln von Bauernhöfen und Zulieferern schließen mussten und damit die Produkte, insbesondere Milchprodukte, in Massen wegwarfen.

„Allerdings fand das schon vor der Pandemie statt“, sagt er und wirft ein, dass große Supermarktketten wie Trader Joe’s und Whole Foods schon seit Jahren jeden Tag „Tonnen von Lebensmitteln“ wegwerfen.

Seit im frühen Februar der erste Gemeinschaftskühlschrank in Brooklyn platziert wurde, wuchs der Einsatz „exponentiell“, sagt Umpster. Heute gibt es so viele Kühlschränke in New York, dass er den Überblick verloren hat, er schätzt die Zahl auf etwa 40. Außerdem führte er eine Maßnahme an, durch die Kühlschränke im ganzen Land aufgestellt werden sollen, indem er Hunderte von Organisatoren und Freiwilligen durch die verschlüsselte Nachrichten-App Signal miteinander vernetzte. Seit die Gemeinschaftskühlschränke die letzten Jahre viel Aufmerksamkeit von der Presse bekommen haben, meldeten sich diese in Massen, sagt er, und so erstellte IOH Gruppen für Gratis-Essen über Signal für verschiedene Nachbarschaften in New York City, sowie in vielen anderen Städten in den USA – schließlich bis nach Los Angeles.

Außerdem meint er, das Projekt stelle nicht nur eine Quelle für physische Nahrung dar, sondern auch einen Verbindungspunkt innerhalb der Gemeinschaften. Über seine eigene Wohngegend in Brooklyn erzählt er, dass ihm das Projekt erlaubte, die Namen und Geschichten seiner Nachbarn kennenzulernen, denen er sonst nur beim Vorbeigehen zuwinkte.

„Die Gemeinschaft ist nun viel enger verbunden als zuvor“, sagt Umpster. „Die Leute geben mehr aufeinander Acht, arbeiten mehr zusammen und unterstützen einander. Es ist einfach alles besser geworden – und das habe ich nicht nur in meinem Viertel beobachtet. Andere, die sich an dem Kühlschrank-Projekt beteiligen und in anderen Gegenden wohnen, erzählen mir, dass sie so ziemlich das Gleiche empfunden haben.“

Kunst und Kühlschränke mit kostenlosem Essen

Um anfangs das Projekt um die Kühlschränke mit dem kostenlosen Essen zu bewerben, sagt Umpster, stellte IOH Schilder auf und bildeten ein großes Netzwerk in den Sozialen Medien; trotzdem meint er, dass die Künstler, die die Kühlschränke bemalten und herrichteten, zum größten Teil verantwortlich für die Aufmerksamkeit und die Bekanntheit um die Bemühungen seien.

„Ein Freund, der unter dem Namen HUGO GYRL malt, verzierte einen unserer ersten Kühlschränke und dadurch wurde die ganze Atmosphäre, das ganze Gefühl des Blocks, in dem er stand, verändert,“, sagt er. „Er hat es zu einem der Orte gemacht, an dem Journalisten und Fotografen Bilder machen wollen und unsere Idee verbreiten.“

Bunte, vielfältige und sorgfältig ausgearbeitete Designs überziehen die Gemeinschaftskühlschränke, die sich nun über ganz Amerika verstreuen, zum großen Teil sind die Kunstwerke von Künstlern aus der BIPOC-Szene (Black, Indigenous und People of Color) kreiert, die entweder ihre Zeit und Kreativität für den guten Zweck spendeten oder einen geringen Lohn für ihre Arbeit erhielten.

Für Calderon, der die Kühlschränke in New Orleans bemalte, erzählt die Kunst für die Gemeinschaft eine größere Geschichte um Wert und Nutzen der Kunst. Sie sagt, dass sie persönlich einen „langen Prozess des Umlernens“ durchmachte, was die Dinge betrifft, die die meisten über schöne Kunst beigebracht bekommen haben, „vor allem die Vorstellung, dass sich die schöne Kunst hauptsächlich mit Reichtum und der Kultur der Weißen befassen muss.“

„Auf jeden Fall gibt es einen Platz in der Kunst für die Mitglieder der BIPOC-Szene und ich fühle mich oft dazu inspiriert, diese in klassische Kunstthemen mit einzubauen“, sagt sie und deutet auf ihre kleinen Engelchen auf einer Seite eines Kühlschrankes für die NOCF, die Banner mit den Aufschriften „Gratis Essen“ und „Gemeinschaftskühlschrank“ halten.

„Während ich heranwuchs, habe ich angefangen die Auffassung, was gute Kunst bedeutet, in Frage zu stellen“, erzählt sie weiter. „Braucht es jahrelange technische Übung und eine teure Ausbildung? Oder braucht es nur die Leidenschaft und die Emotionen, die man in seine Arbeit steckt, weil man kein anderes Ventil oder keine andere Möglichkeit hat, sich auszudrücken? Braucht man tausende von Followern auf den Sozialen Medien? Oder die direkte Einbindung in deiner Gemeinschaft?“

Calderon fügt hinzu: „In letzter Zeit habe ich die kapitalistische Seite der schönen Kunst herausgefordert. Ich glaube fest daran, dass Kunst für jeden ist, nicht nur für eine Handvoll wohlhabender Sammler, die sich den Standardpreis für ein Kunstwerk leisten können. Durch das Bemalen des [Kühlschranks für die NOCF], konnte ich dieser Idee Geltung verschaffen.“

Rassenungerechtigkeit und Zugang zu Nahrung

Umpster sagt, dass die meisten Instagram-Follower des Kühlschrankprojekts Frauen seien, beinahe 71% laut der Selbstermittlung durch Instagram. Außerdem seien farbige Frauen zum großen Teil verantwortlich für die Verbreitung der Gratis-Essen-Bewegung, da sie in der gesamten USA den größten Anteil der Organisatoren ausmachen.

„Diese Bewegung wird größtenteils von farbigen Frauen angeführt,“, sagt er. „Hauptsächlich sie sind es, die die Kühlschränke aufstellen, dafür sorgen, dass sie gefüllt bleiben und sicher gehen, dass alles glatt läuft.“

Brynn Comeaux, einer der Organisatoren der NOCF – welche erst seit Juli 2020 in Betrieb sind – hat in einem E-Mail-Interview darauf hingewiesen, dass der Zugang zu Nahrung untrennbar von den Ungerechtigkeiten zwischen den Rassen ist.

„Wenn man eine Stadtkarte betrachtet, ist es keineswegs ein Zufall, dass die Gegenden, die höhere Raten an Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot aufweisen, diejenigen Gegenden sind, in denen es an Zugang zu frischen, bezahlbaren Lebensmitteln mangelt,“, sagt sie. „Zudem leben dort zum Großteil afro-amerikanische, latein-amerikanische und vietnamesische Bürger. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man außerdem, dass diese Gegenden im Zensus unterrepräsentiert sind und wenig Beachtung finden. Das bedeutet, dass es auch schon vor der Pandemie in New Orleans schwer zu beurteilen war, zu welchem genauen Anteil in der Bevölkerung Nahrungsmittelunsicherheit herrscht. Und selbst wenn eine Not festgestellt werden würde, sind die Maßnahmen oft unterfinanziert. Diese Probleme werden durch das Auftreten einer globalen Pandemie oder einer Naturkatastrophe nur weiter verschlimmert.“

Dieselbe Tendenz zeigt sich in der gesamten USA, da Nahrungsmittelunsicherheit typischerweise vermehrt in der schwarzen und hispanischen Bevölkerung auftritt. Und die Pandemie, wie ein Artikel der New York Times es beschreibt, hat diese bereits bestehenden Missverhältnisse noch verstärkt.

Wie eine nationale Studie „Untersuchung der Auswirkungen des strukturellen Rassismus auf Nahrungsmittelunsicherheit: Folgerungen für die Befassung mit rassischen/ ethnischen Ungleichheiten“, veröffentlicht im Jahr 2018, es festhält: „Eine Analyse, die die Tendenzen betreffend der Nahrungsmittelunsicherheit innerhalb der Jahre 2001 bis 2016 untersucht hat, zeigte, dass die Raten für sowohl nicht-hispanische schwarze als auch hispanische Haushalte mindestens zweimal so hoch waren wie die für nicht-hispanische weiße Haushalte.“

Comeaux sagte, die Gemeinschaftskühlschränke seien eine „physische Manifestation der Maßnahmen, die wir direkt an die Gemeinschaft weitergeben können“.

„Angesichts dessen, wie wir uns in unserer Natur als Gesellschaft und als Gemeinschaft während der Pandemie anpassen mussten, bieten uns die Kühlschränke eine Art der Verbindung, wie sie sonst in diesen Zeiten so weit weg erscheint“, sagte sie, „Wir sahen Leute, die ihre eigenen Methoden zur Spendenbeschaffung, um dieses Projekt zu fördern, umsetzten. Wir sahen Restaurants, die für ihre Familienmahlzeiten etwas mehr kochten oder Optionen zur Vorher-Zahlung einführten, um zu helfen die Kühlschränke gefüllt zu halten. Außerdem sehen wir nun Kulturträger der Stadt wie „Mardi Gras krewes“ und die Künstler der BIPOC-Szene… zusammenkommen, um dieses einzigartige New Orleans zu erschaffen. Jeder hat eine eigene Rolle zu spielen. Wir hoffen, dass Bewegungen wie diese gegenseitige Unterstützung normalisieren. Das ist keine Wohlfahrtstätigkeit, das ist Zusammenhalt.“

Dieser Artikel von April M. Short wurde von der Local Peace Economy erstellt, ein Projekt des Independent Media Institute. Übersetzung aus dem Englischen von Lena Rexinger vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige! 


April M. Short ist Redakteurin, Journalistin und Produzentin von Dokumentarfilmen. Sie schreibt als Stipendiatin für Local Peace Economy, einem Projekt des Independent Media Institute. Zuvor arbeitete sie als leitende Redakteurin bei AlterNet sowie als preisgekrönte leitende Redakteurin für die kalifornische Wochenzeitung Santa Cruz. Ihre Arbeit wurde beim San Francisco Chronicle, In These Times, Salon und vielen anderen veröffentlicht.