Der technologische Fortschritt ermöglicht uns, immer schneller zu Reisen. Trotzdem sparen wir keine Zeit. Hier ist der Grund dafür.

Felix Schindler für die Online-Zeitung INFOsperber.

56 Minuten dauert die Reise von Zürich nach Bern im Intercity. Die Strecke ist 125 Kilometer lang, und wir können während der Fahrt bequem in einem Buch lesen. Für viele ist das ein ganz normaler Arbeitsweg.

Früher war die Überwindung dieser Distanz mit erheblichen Strapazen verbunden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Postkutschen unbequem und holprig, selbst die schnellsten schafften nicht viel mehr als 8 Kilometer pro Stunde. Ihre Reichweite lag bei höchstens 120 Kilometer pro Tag, die Ankunft in Bern innert Tagesfrist war alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

1858 wurde die Zugstrecke von Aarau nach Olten gebaut, erstmals konnten Passagiere den ganzen Weg von Zürich nach Bern im Zug zurücklegen, wobei sie in Olten umsteigen mussten. Die kürzeste Reisezeit betrug vier Stunden und zwanzig Minuten, auch eine Dauer von über fünf Stunden war keine Seltenheit. In den Jahren 1924 und 1925 wurde die Strecke elektrifiziert – die Fahrt von Zürich nach Bern war nun innert zweieinhalb Stunden zu schaffen.

Heute tüfteln Ingenieure weltweit am Hyperloop, einer Hochgeschwindigkeitsbahn, die uns irgendwann mit Schallgeschwindigkeit durch eine luftleere Röhre schiessen soll. Einem Team der ETH Zürich gelang es 2019, eine Transportkapsel in 12 Sekunden auf 252 km/h zu beschleunigen, den Rekord für die höchste Geschwindigkeit hält ein Team der Technischen Universität München mit 463 km/h.

Zürich-Bern in sieben Minuten. Im Vergleich zu heute könnten Berufspendler mit dem Hyperloop gut eineinhalb Stunden Zeit sparen.

Könnten.

Gäbe es da nicht dieses Phänomen, das uns daran hindern wird: die sogenannte Marchetti-Konstante, beschrieben 1994 vom italienischen Physiker Cesare Marchetti. Sie besagt, dass Menschen pro Tag immer ungefähr gleich lang unterwegs sind – das «konstante Reisezeitbudget» des Menschen liegt bei täglich ungefähr eineinhalb Stunden. Praktisch überall auf der Welt, und das schon seit der Jungsteinzeit. Wenn wir schneller reisen können, legen wir grössere Distanzen zurück.

Empirisch beweisen kann man das zwar erst, seit dazu verlässliche Daten erhoben werden. Wir wissen, dass Fabrikarbeiter im 19. Jahrhundert oft mehrere Stunden benötigten, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen, und dass auch Bauern viel Zeit für Mobilität aufwenden mussten. Aber heute und in der Schweiz stimmt Marchettis Theorie – und zwar auf 24 Sekunden genau: Nach der letzten Erhebung des Bundesamtes für Statistik (Mikrozensus Mobilität und Verkehr) waren wir 2015 durchschnittlich 90,4 Minuten pro Tag unterwegs. Die Punktlandung ist allerdings ein Zufall, denn die Konstante schwankt durchaus. 1994 beispielsweise waren es 8 Minuten weniger.

Die Strecke jedoch, die wir zurücklegen, hat sich doppelt so stark verändert. Zwischen 1994 und 2015 stieg die durchschnittliche Tagesdistanz um 18 Prozent auf 37 Kilometer. Das heisst: Wir reisen heute schneller als 1994, sparen aber keine Zeit. Im Gegenteil.

Der Fortschritt hat uns keinen Zeitgewinn gebracht, sondern mehr Reichweite. Der Hyperloop würde wohl dazu führen, dass wir in Berlin arbeiten und in Mailand einkaufen. Und das entspricht durchaus unserer Natur: Der Mensch ist ein Landtier. Er strebt danach, sein Territorium auszuweiten. Denn mit wachsender Reichweite wächst auch der Zugang zu Ressourcen.

Dieser archaische Instinkt trug entscheidend zu beispiellosen Veränderungen unserer Raumstrukturen und Gewohnheiten bei. Heute ist die Schweiz – gerade mal 350 Kilometer breit – durchzogen von 5177 Kilometern Eisenbahnlinien und über 70ʻ000 Kilometern Strasse. Ein Drittel der Siedlungsfläche wird vom Verkehr beansprucht, insgesamt bedeckt dessen Infrastruktur eine Fläche so gross wie der Kanton Thurgau. Wir besassen in der Schweiz 2019 mehr als 4,6 Millionen Autos und legen damit 102 Milliarden Kilometer pro Jahr zurück. Das entspricht fast 7000 Umrundungen der Erde – an jedem einzelnen Tag des Jahres. Seit 1975 sind auf unseren Strassen 29’000 Menschen getötet und 326ʻ000 Menschen schwer verletzt worden. Kein Sektor stösst mehr CO2 aus als der Verkehr, keiner verbraucht mehr Energie. Auf der Strasse lautet der Grundsatz: Das Schnelle hat immer Vorrang gegenüber dem Langsamen.

Marchetti hat nun aber eine entschlossene Gegnerin bekommen. Falls ihr gelingt, was sie plant, ist die Marchetti-Konstante am Ende. Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, will die Stadt so umgestalten, dass alles, was der Mensch im täglichen Leben braucht, innerhalb von fünfzehn Minuten erreichbar ist. Vorzugsweise aber nicht mit dem Auto, sondern zu Fuss oder mit dem Velo. Kurze Wege, weniger Autoverkehr, weniger Umweltverschmutzung, mehr Zeit für sinnvollere Aktivitäten.

Eine zwingende Voraussetzung dafür sei, «die Strasse besser zu teilen», sagt Anne Hidalgo. Bis 2024 sollen Fussgänger viel mehr Platz erhalten und Radfahrer jede Strasse in Paris sicher und komfortabel befahren können. Jedes Quartier der «Fünfzehn-Minuten-Stadt» werde dabei sechs grundlegende soziale Funktionen erfüllen: Leben, Arbeiten, Versorgen, Sorgen, Lernen und Geniessen.

Es gab eine Zeit, da waren unsere Städte mit diesen Eigenschaften ausgestattet. Ja, sie waren eng, unhygienisch, und die Nähe zu einer Fabrik war lebensfeindlich. Trotzdem könnten wir von der Stadt der Vergangenheit etwas lernen über die Stadt der Zukunft. Unsere Lebensräume waren darauf ausgelegt, dass man mehr oder weniger alles in kurzer Zeit zu Fuss erreichen konnte: den Krämerladen, den Arzt, die Arbeit, die Schule. Die täglichen Bedürfnisse konnten in der Regel im selben Stadtquartier befriedigt werden. Und es war stets jemand in der Nähe, der einen unterstützen konnte, der aufpasst, der Verantwortung übernimmt.

dazwischen. Unterwegs mit 24 Pendlergeschichten

Dieser Text erschien zunächst im Buch «dazwischen. Unterwegs mit 24 Pendlergeschichten». Das Buch enthält 24 Beiträge von 24 Autorinnen und Autoren, die sich alle dem Pendeln widmen – dem Pendeln zwischen der Arbeit, den Kulturen und allen Gemütslagen.

Die Autorinnen und Autoren: Mark Balsiger (Herausgeber), Patti Basler, Ruedi Baumann, Evelyne Baumberger, Susan Brandy, Lisa Catena, Carmen Epp, Dagmar und Tobias Fässler, Romana Ganzoni, Christof Gertsch, Amira Hafner-al Jabaji, Peter Hossli, Fred Lauener, Fredi Lüthin, Benedikt Meyer, Felix Schindler, Christoph Simon, Roger Tinner, Claudia Vamvas, Stefan von Bergen, Karin Wenger, Gisela Widmer und Aileen Zumstein.

«dazwischen. Unterwegs mit 24 Pendlergeschichten» umfasst 112 Seiten, kostet 28 Franken (inkl. Verpackung/Porto und MWST) und kann beim Herausgeber bestellt werden: https://www.border-crossing.ch/buecher/

Der Strasse selbst kam dabei eine besondere Bedeutung zu: Sie war eine demokratische Fläche, auf der wir uns bewegten und Handel betrieben. Dort trafen und versammelten wir uns, dort plauderten und flirteten wir. Die Strasse war eine Erweiterung des Wohnraums, unsere Kinder spielten darauf.

Es könnte sein, dass Paris diese Eigenschaften zurückgewinnt. Es könnte sein, dass andere Städte diesem Beispiel folgen. Es könnte sein, dass in Zukunft die meisten von uns ihren Arbeitsplatz in sieben Minuten zu Fuss oder mit dem Velo erreichen werden.

Es könnte aber auch sein, dass wir uns in sieben Minuten durch eine luftleere Röhre von Zürich nach Bern schiessen lassen. Denn der Mensch ist schliesslich ein Landtier und will sein Territorium ausweiten. Immer schneller, immer weiter.

Literatur zur Vertiefung:

Beniamin Spielmann, «Im Übrigen ging man zu Fuss. Alltagsmobilität in der Schweiz von 1848 bis 1939», Basel 2020 (Dissertation). Herzlichen Dank an Thomas Sauter-Servaes und Benjamin Spielmann für die Gespräche während der Recherche für diesen Text.