Hunderte Familien verharren – in einer höchst vulnerablen Situation, zwischen Wänden aus Plastik und Karton – in den Siedlungen in Guernica (Provinz von Buenos Aires). Es sind Familien, die in den Monaten der Pandemie alles verloren haben, wobei sie sich größtenteils bereits in einer recht schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Krise befanden.
Durch den Lockdown verloren tausende Menschen ihre Arbeit, was deren Situation verschlimmerte und ihnen keine andere Möglichkeit ließ, als sich einen Ort zum Leben zu suchen, ohne sich darum zu scheren, wie prekär die Verhältnisse dort sein würden – mit der Hoffnung auf Unterstützung von der Regierung in Buenos Aires.
„Mein Sohn und ich sind diese Nacht beinahe in der Kälte umgekommen, wir mussten zum Feuer gehen, das einige Nachbarn angezündet haben. Ich konnte mich jedoch kaum bewegen – so durchgefroren, wie wir waren. Und das müssen wir aushalten, weil uns keine andere Wahl bleibt… Ich muss mich entscheiden, ob ich für Essen oder Miete zahle, weil das Geld sonst nicht reicht und ich von dem Ort, an dem ich vorher gelebt habe, vertrieben wurde“, erzählt mir Susana, die hier mit ihrem 3-jährigen Sohn Juan lebt. Die Winternächte, in denen viele kurz vor dem Erfrieren waren und die konstante Angst davor, dass einige Frauen, die alleine in diesen Hütten schlafen, nicht überleben, sind einige der lebendigen Beweise für die Stärke und Widerstandsfähigkeit dieser Menschen.
Die Familien, die dort ankommen, stammen nicht nur aus Argentinien, sondern auch aus Paraguay, Peru und sogar Brasilien – alle sind zusammen in einer Situation extremer Armut. „Gestern habe ich nichts gegessen und heute auch nicht, weil ich mich schäme, weiter zu betteln“ berichtet mir die Brasilianerin Neusa, die schon 25 Jahre in Buenos Aires lebt. Sie erzählt mir, dass sie in ihrem Alter nicht mehr arbeiten kann und keine andere Option hat, als hierherzukommen und was auch immer auszuhalten, um zu überleben.
Die Besiedlung der Gebiete begann am 20.Juli und hat sich bis heute fortgesetzt. Präsident Perón steht unter der Intendantin Blanca Cantero, die zu den progressiven Kräften des „Massismus“ zählt und Teil der Koalition „Frente de Todos“ ist, die die Interessen der Mehrheit vertritt. Blanca enttäuschte das Vertrauen, das ihr durch die Wahl zur Repräsentantin gegeben wurde.
“Dass sich die von uns gewählte Intendantin auf eine andere Seite stellt, ist schmerzhaft”, sagt mir Mariana.
Die Regierung in Buenos Aires begegnete dem Konflikt mit dem nur wenig nachhaltigen Ansatz, das Programm des IFE (Ingreso Familiar de Emergencia, eine Art Notfallfond, der zu Beginn der Corona-Pandemie im März eingerichtet wurde), sowie 50´000 Pesos als Anleihe für Sozialleistungen anzubieten. Den Bewohnern Guernicas zufolge ist dieser Vorschlag völlig irrsinnig und würde das Problem in keinster Weise lösen: „Mit solchen Maßnahmen wird nichts gegen die Inflation unternommen, nichts gegen die hohen Preise – das Geld wird gerade für zwei Monate reichen, bevor wir wieder zur gleichen Ausgangssituation zurückkehren“ wird mir berichtet.
Es gibt Repräsentanten des Polo Obrero (linke Arbeiterpartei), von Barrios de Pie – Libres del Sur (linksnationalistische Partei), der Frente der Organizaciones en Lucha (länderübergreifende Organisation) und der Frente Darío Santillán (Protestbewegung für Arbeiterrechte). Unter anderem sind auch die Bewegung Teresa Rodriguez (Arbeiterorganisation), die OLP – Resistir y Vencer (freie Organisationen des Volkes) und die Bewegung für Lateinamerikanische Einheit und sozialen Wandel aktiv. All diese sagen den Bewohnern der Siedlung Unterstützung zu – viele sehen dies lediglich als Wunsch, die Hauptrolle in einem eindeutig sozialen Kampf zu übernehmen. Für andere ist deren Unterstützung dringend notwendig, denn sie sind diejenigen, die in bestimmten Fällen für Essensausgaben sorgen und dabei helfen, die Spenden zu organisieren und sie auf gerechte und geordnete Weise zu verteilen.
Larroque, der Entwicklungsminister der Gemeinschaft Buenos Aires, versichert: „Präsident Perón stammt aus einer der drei Gemeinden, die in den letzten zwanzig Jahren demografisch gewachsen sind. Dies ist ein strukturelles Problem, das sich durch die Politik der vorherigen Regierung verschärft hat.“
Es scheint, dass der „Ball der Verantwortung“ für die tiefgreifenden Herausforderungen, vor die uns die Krise stellt, zwischen allen hin und her gereicht wird.
Der Konflikt wegen der Siedlungen auf den Gebieten hatte sich seit Juli verstärkt und wurde vor Gericht ausgetragen. Der Richter Martín Rizzo hat die Zwangsräumung zum vierten Mal festgelegt, diesmal auf den 15.Oktober.
Die Familien in Guernica erwarten keine andere Antwort auf ihre Nöte als ein Stück Land, um in Würde leben zu können. „Land für Land“ ist der Leitspruch, den sie heute immer wieder riefen, als diejenigen sich näherten, die von der Regierung in Buenos Aires mit den Verhandlungen beauftragt wurden.
Bilder und Text von Francisco Jarrín, ein ecuadorianischer Fotograf, lebt und studiert in Buenos Aires.
Übersetzung aus dem Spanischen von Chiara Pohl vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!