Amnesty International verstärkt Kritik an Polizeigewalt in der EU. Berlin nutzt Polizeigewalt in anderen Staaten als politisches Druckmittel.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International verstärkt ihre Kritik an Polizeigewalt in der EU. In Frankreich habe das Vorgehen der Behörden gegen die Proteste etwa der Gilets Jaunes („Gelbwesten“) gezeigt, dass man mit der Teilnahme an Demonstrationen nicht nur ein ernstes Risiko eingehe, schuldlos Verletzungen durch Polizeiwaffen zu erleiden. Es seien auch zahlreiche Regierungsgegner vor Gericht gestellt worden, „ohne Gewalttaten begangen zu haben“, heißt es in einem gestern publizierten Amnesty-Bericht. Die Organisation hatte schon zuvor die Polizeigewalt in Deutschland angeprangert und gefordert, diesbezüglich unabhängige Beschwerdestellen einzurichten. Studien bestätigen, dass Polizeigewalt in der Bundesrepublik meist straflos bleibt. Hinzu kommt, dass unter deutschen Polizisten extrem rechte Einstellungen und Netzwerke verbreitet sind. Die Polizeipraktiken in westlichen Staaten, nicht zuletzt in den USA, konstrastieren mit der Berliner Gewohnheit, sich, sobald in gegnerischen Staaten Polizeigewalt verübt wird, zum globalen Lehr- und Strafmeister aufzuschwingen.

Gefährliche Freiheiten

Schwere Vorwürfe gegen die französischen Behörden erhebt Amnesty International in einem gestern publizierten Bericht. Demnach gehen Polizei und Justiz in Frankreich unverhältnismäßig und unter Bruch international gültiger Menschenrechtsnormen gegen Demonstranten vor, auch wenn diese sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Amnesty belegt dies anhand zahlreicher Vorfälle im Kontext mit den Protesten der Gilets Jaunes („Gelbwesten“), bei denen zwischen dem 17. November 2018 und dem 12. Juli 2019 mindestens 11.203 Menschen in Gewahrsam genommen, 5.241 angeklagt sowie 3.204 verurteilt worden waren. Dabei genügte bereits das Äußern von Kritik, um eine harte Strafe wegen Beamtenbeleidigung zu kassieren; wer eine Schutzbrille gegen das von der Polizei exzessiv eingesetzte Tränengas trug, konnte aufgrund angeblicher Vorbereitung von Straftaten vor Gericht gestellt werden. Bereits im Mai 2019 hatten französische Medien berichtet, während der Proteste seien nach offiziellen Angaben 2.448 Demonstranten verletzt worden; 24 von ihnen hätten – meist durch Gummigeschosse der Polizei – ein Auge, fünf eine Hand verloren. Elf Menschen seien, meist durch Verkehrsunfälle am Rand der Proteste, ums Leben gekommen.[1] Amnesty konstatiert: „Teilnahme an Protesten im Frankreich beinhaltet heute das Risiko, Tränengas, Gummigeschossen und anderen gefährlichen Waffen ausgesetzt zu werden; eine Strafe zu kassieren; einen oder zwei Tage in polizeilichem Gewahrsam zu verbringen; und vor Gericht gestellt zu werden, ohne Gewalttaten begangen zu haben.“[2] Daraus ergäben sich „weitreichende Folgen“ für die Versammlungsfreiheit.

Aus dem Rollstuhl gekippt

Scharfe Kritik an Polizeigewalt wird regelmäßig auch in Deutschland laut, so zum Beispiel am brutalen Vorgehen der Repressionsbehörden gegen die Proteste am Rande des G20-Gipfels 2017 in Hamburg; zuletzt wurden im Windschatten der „Black Lives Matter“-Proteste in den USA eine Reihe gewalttätiger Übergriffe durch deutsche Polizisten bekannt. Jüngst, am 15. August, wurden annähernd 100 Teilnehmer einer Protestdemonstration gegen eine extrem rechte Kundgebung unter Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray in einen engen Tunnel getrieben und dort von beiden Seiten her aneinander gedrängt; Betroffene beklagten akute Atemnot. Im weiteren Verlauf schlugen Beamte auf Bewusstlose ein und kippten einen Rollstuhlfahrer aus seinem Rollstuhl.[3] Amnesty International dringt mittlerweile auf die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen in puncto Polizeigewalt.[4] Verlässliche Statistiken über Polizeigewalt in Deutschland liegen nicht vor. Für das Jahr 2019 zählt die Polizeiliche Kriminalstatistik 1.500 Fälle von Körperverletzung im Amt, von denen allerdings nur zwei Prozent zu einer Anklage und weniger als ein Prozent zu einer Verurteilung führten.[5] Eine wissenschaftliche Untersuchung zeigt, dass lediglich 14 Prozent aller polizeilichen Übergriffe angezeigt werden – dies, weil die Opfer sich keine Hoffnung auf Erfolg machen. Dabei bestätigten in der erwähnten Untersuchung 71 Prozent der Befragten, Verletzungen erlitten zu haben; 19 Prozent nannten sogar schwere Verletzungen, etwa Knochenbrüche.[6]

Extrem rechte Polizeinetzwerke

Im Zusammenhang mit – nicht selten rassistischer – Polizeigewalt ist von Bedeutung, dass in den deutschen Repressionsbehörden extrem rechte Einstellungen sowie Netzwerke verbreitet sind. Seit vor rund drei Jahren ultrarechte Netzwerke aufflogen, an denen Polizisten und Soldaten beteiligt waren und die planten, im Fall einer Katastrophe oder etwa einer „Invasion von Flüchtlingen“ missliebige Politiker und Linke festzusetzen oder zu ermorden, werden immer wieder ultrarechte Strukturen unter Einschluss von Mitarbeitern der Repressionsbehörden bekannt. Teilweise handelt es sich um lockere Chatgruppen, in denen rassistische, teils NS-verherrlichende Bilder zirkulieren; teilweise handelt es sich um klandestine Zusammenschlüsse, die Morddrohungen an missliebige Personen versenden, darunter insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund.[7] Wie stark die extrem rechten Netzwerke sind, ist nicht bekannt. Laut Untersuchungen aus den 1990er Jahren weisen bis zu 15 Prozent aller Polizisten extrem rechte Einstellungen auf; jüngere Studien liegen nicht vor.[8] Ein Lagebericht des Bundesamts für Verfassungsschutz verzeichnet für den Zeitraum von Januar 2017 bis März 2020 rund 350 „Verdachtsfälle“ in den deutschen Repressionsbehörden; allerdings handelt es sich dabei lediglich um bereits angezeigte Personen.[9] Dass die Zahl 350 tatsächlich viel zu niedrig ist, zeigt, dass alleine in Nordrhein-Westfalen mittlerweile von mehr als 100 extrem rechten Polizisten ausgegangen wird; dabei gilt es als ausgemacht, auch dies nur die Spitze eines Eisbergs darstellt.[10]

„Allerhöchste Standards“

Polizeigewalt, im Westen verbreitet und zuletzt sogar zunehmend, wird von der deutschen Politik regelmäßig kritisiert und gelegentlich auch zum Anlass von Sanktionen genommen – allerdings nur dann, wenn es sich um Polizeigewalt in rivalisierenden oder gegnerischen Staaten handelt. Im Juni etwa erklärte Außenminister Heiko Maas, die Massenproteste in den USA gegen rassistische Polizeigewalt seien „verständlich und mehr als legitim“.[11] Die Proteste richten sich nicht zuletzt gegen die Politik der Trump-Administration, gegen die Berlin und die EU ihre eigenständige Weltpolitik durchzusetzen suchen (german-foreign-policy.com berichtete [12]). Maas reagierte mit seiner Äußerung zugleich darauf, dass unmittelbar zuvor ein Journalist der regierungsfinanzierten Deutschen Welle in Minneapolis von bewaffneten Polizisten zum Abbruch seiner Berichterstattung über die Proteste gezwungen worden war. Der Journalist war schon zuvor – in sicherer Entfernung von den Protesten seiner Arbeit nachgehend – durch ein Geschoss, das nahe an ihm vorbeipfiff, eingeschüchtert worden; mutmaßlich handelte es sich um ein Gummigeschoss aus einer Polizeiwaffe.[13] Maas sah sich daraufhin zu der Bemerkung veranlasst, in Sachen Pressefreiheit müssten „allerhöchste Standards“ gelten. Weitere Folgen hatte der Vorfall nicht: Die USA sind unbeschadet aller Rivalitäten zugleich auch Verbündeter.

Sanktionen

Anders verhält es sich bei Protesten etwa in Hongkong, wo Demonstranten im vergangenen Jahr unter anderem Einkaufszentren, U-Bahn-Stationen und Universitätsgebäude verwüsteten und eine Reihe von Polizeiwachen in Brand setzten. Vor dem Hintergrund der Gewalt erklärte Maas mit Blick auf das zuweilen harte Vorgehen der Hongkonger Polizei, „freie Meinungsäußerung“ müsse „auch in Zukunft gewährleistet sein“; sie dürfe keinesfalls „durch übermäßige Gewaltanwendung eingegrenzt werden“.[14] Ende Juli beschloss die EU Boykottmaßnahmen: Geräte, die für den Einsatz gegen Demonstranten und gegen Regierungsgegner genutzt werden können, dürfen nicht mehr nach Hongkong geliefert werden. Außenminister Maas erklärte dies zum „Zeichen der Solidarität“.[15] Ähnliches wäre gegenüber westlichen Staaten nicht vorstellbar. Die doppelten Standards, die Berlin und seine westlichen Verbündeten sich selbst gegenüber auf der einen, gegenüber weltpolitischen Rivalen und Gegnern auf der anderen Seite anlegen, hatte bereits zuvor der FDP-Vorsitzende Christian Lindner unfreiwillig offengelegt. Lindner twitterte, als Hongkongs Behörden es untersagten, sich bei Protesten zu verhüllen: „Das Tragen von Atemschutzmasken durch ein Vermummungsverbot zu verbieten, ist ein weiteres Beispiel der Repression in Hongkong“; „wir stehen an der Seite derer, die friedlich für ihre Freiheit auf die Straße gehen.“[16] In Deutschland gilt ein striktes Vermummungsverbot, beschlossen von einer Regierungskoalition mit FDP-Beteiligung, schon seit den 1980er Jahren – nimmt man Lindner beim Wort, nur ein weiteres Beispiel für die deutsche Repression.

[1] Gilets jaunes, quel bilan chiffré 6 mois après l’acte 1? lejdd.fr 17.05.2019.

[2] Amnesty International: Arrested for Protest. Weaponizing the Law to Crackdown on Peaceful Protesters in France. London, September 2020.

[3] Anett Selle: Blut und Panik im Tunnel. taz.de 18.08.2020.

[4] Amnesty: Gesellschaft erwartet antirassistische Polizei. migazin.de 10.09.2020.

[5] Christian Jakob: Guter Bulle, böser Bulle? taz.de 22.08.2020.

[6] Zwischenbericht im Forschungsprojekt zu rechtswidriger Polizeigewalt. news.rub.de 17.09.2020.

[7] Sebastian Wehrhahn, Martina Renner: Schattenarmee oder Einzelfälle? Rechte Strukturen in den Sicherheitsbehörden. cilip.de 27.11.2019.

[8] Rechtsextreme bei der Polizei: Experten fordern „Blick von außen“. wdr.de 17.09.2020.

[9] Martin Lutz: Gut 350 Verdachtsfälle auf Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden. welt.de 27.09.2020.

[10] Konrad Litschko: „Das Ende noch nicht erreicht“. taz.de 24.09.2020.

[11] Marina Kormbaki: Maas äußert Verständnis für Proteste – Kritik an Trump von CDU und Grünen. rnd.de 02.06.2020.

[12] S. dazu Transatlantische Konflikte und Transatlantische Sanktionen.

[13] Minneapolis: DW in der Schusslinie der Polizei. dw.com 02.06.2020.

[14] Maas legt Hongkong-Reisenden Verschiebung nahe. dw.com 14.08.2020.

[15] Damir Fras: Hongkong-Krise: Die EU einigt sich nur auf Reaktionen. rnd.de 29.07.2020.

[16] S. dazu Die Meister der doppelten Standards.

Der Originalartikel kann hier besucht werden