Der Staat finanziert die Forschung, Pharmafirmen streichen die Gewinne ein und halten billige Medikamente bewusst zurück.
Monique Ryser für die Online-Zeitung INFOsperber
Der deutsch-französische TV-Sender arte hat mit dem Dokumentarfilm «Big Pharma – die Allmacht der Konzerne» die grossen Medikamentenproduzenten unter die Lupe genommen (auf YouTube abrufbar, in der Schweiz sind die Sendungen des deutsch-französischen Senders online gesperrt).
Eines der Beispiele betrifft direkt die Schweiz: Es geht um die Altersblindheit und die Medikamente Avastin und Lucentis. Avastin ist eigentlich ein Krebsmedikament, bei dem aber festgestellt wurde, dass es sehr gut gegen Altersblindheit (Altersbedingte Makula-Degeneration AMD) wirkt (in der Schweiz war das bereits 2011 ein Thema, wie Infosperber berichtete). Nur: Das von Roche hergestellte Avastin wurde bei den Behörden nie als Mittel gegen AMD angemeldet, weil der Konzern das Medikament Lucentis mit dem gleichen Wirkstoff auf dem Markt hat. Und dieses ist sagenhafte 13-mal teurer als Avastin. Wie CH Media berichtete, lässt sich das die Krankenversicherung Helsana nicht mehr bieten: Helsana-Chef Daniel Schmutz gab bekannt, dass Avastin vergütet werde, auch wenn es gegen das Gesetz verstosse. «Wir sparen für unsere Kunden jährlich rund eine Million Franken», wird er zitiert. Auf die ganze Schweiz berechnet gäbe es ein Sparpotential von jährlich 80 Millionen Franken, wenn auf das teurere Lucentis verzichtet würde.
Konkurrenten spannen zusammen und helfen sich gegenseitig
Avastin und Lucentis sind noch in einem anderen Zusammenhang ein gutes Beispiel für die Macht der Konzerne: Beide Medikamente werden von Roche produziert. In den USA vertreibt Roche auch beide Produkte selber. Ausserhalb der USA ist aber der grosse Schweizer Konkurrent Novartis – der selber zu 33 Prozent an Roche beteiligt ist – für den Vertrieb von Lucentis zuständig. Zwei Konzerne, die eigentlich im Wettbewerb stehen sollten, arbeiten hier zusammen und sichern sich gegenseitig die Marktmacht. Allerdings beginnen sich nicht nur Versicherer, wie in der Schweiz, sondern auch staatliche Wettbewerbsbehörden zu wehren: In Frankreich wurden die beiden Schweizer Firmen mit 444 Millionen Franken gebüsst. In Italien ist eine ähnliche Klage hängig. Novartis und Roche haben in beiden Ländern Berufung eingereicht.
Öffentliche Forschungsgelder, private Profite
Marcia Angell, ehemalige Chefredaktorin des New England Journal of Medicine und heute Professorin an der Harvard Medical School, gibt sich im arte-Film desillusioniert: «Bei den Arzneimittelpreisen geht es längst nicht mehr darum, die Entwicklungskosten zu decken, sondern nur noch darum, so viel Gewinn wie möglich zu machen.» Als Beispiel wird das Medikament Kymriah genannt (Infosperber berichtete). Die Gentherapie gegen Leukämie kostet 320’000 Euro. Besonders störend, so Angell: Die Therapie wurde an der University of Pennsylvania mit öffentlichen Geldern erforscht. Novartis ist am Patent beteiligt und vertreibt die Therapie, die auch in der Schweiz und in Deutschland zugelassen ist. Der Hämatologe Jean-Paul Vernant räumt ein, dass die Gentherapie komplexe Verfahren erfordere und sehr aufwändig sei. «Das rechtfertigt aber nicht diesen überhöhten Preis. Wenn wir diese Therapie in öffentlichen Spitälern nachbauen würden, entstünden Kosten von höchstens 40’000 Euro», so der im Pariser Spital Pitié Salpêtrière praktizierende Arzt.
«Fast alle Innovationen kommen heutzutage aus öffentlicher Forschung», so Marcia Angell. Daraus entstünden oft Spin-offs, die dann von grossen Pharmafirmen übernommen würden. «Die Pharmafirmen lokalisieren sich auch örtlich rund um die Universitäten, damit sie nur die Strasse überqueren können, um ein Patent zu kaufen oder gleich die ganze Firma zu übernehmen», beschreibt es Marcia Angell.
«Wie kann ich ein Maximum verdienen»
Ein weiteres Problem: Die Staaten, in denen die grossen Pharmafirmen domiziliert sind, hätten oft kein Interesse, strengere Regeln durchzusetzen. Das sagt im Film die ehemalige Gesundheitsministerin von Frankreich, Marisol Touraine, heute Präsidentin der Hilfsorganisation Unitaid. «Die Pharmafirmen fragen sich nur noch: Wie kann ich ein Maximum verdienen.» So sei das Hepatitis-C-Medikament Sovaldi der Firma Gilead in den USA zu einem Einführungspreis von rund 80’000 Euro auf den Markt gekommen. In Europa, wo im Gegensatz zu den USA die Preise immerhin reguliert würden, koste es 42’000 Euro. Doch auch dieser Preis ist unbezahlbar für Menschen in ärmeren Ländern und ohne soziale Gesundheitssysteme. Marisol Touraine hat es mit Verhandlungen geschafft, ein Generikum herstellen zu lassen. Nun gibt es für Entwicklungsländer MyHep DVIR zum Preis von 80 US-Dollar. «Aber eben, nur in Entwicklungsländern», so Touraine. Das zeigt aber auch, zu welchem Preis man das Medikament auch noch herstellen könnte.
Tricksereien mit Pandemie
Ebenfalls von der Firma Gilead stammt das Medikament Remdesivir, das zurzeit gegen Covid-19 angewandt wird, jüngst auch an Präsident Trump. Wie unverfroren Gilead vorgeht, zeigt der zeitliche Verlauf der Markteinführung. Als erste Meldungen über eine eventuelle Wirkung eingingen, liess Gilead Remdesivir in 70 Ländern schützen, rapportieren die Journalisten der arte-Dokumentation. Da das Mittel aber als Ebola-Medikament entwickelt worden war und nur dafür eine Bewilligung vorlag, liess die Pharmafirma das Medikament als sogenannte «Orphan Drug» in den USA registrieren. «Orphan Drugs» sind Medikamente gegen seltene Krankheiten. Die Regulierungsbehörden gehen davon aus, dass damit wegen der Seltenheit der Krankheit nicht viel verdient werden kann und gewähren dafür neben einem auf 20 Jahre verlängerten Patentrecht noch eine siebenjährige Monopolstellung und Steuervorteile. Damit ein Medikament als «Orphan Drug» akzeptiert wird, muss die Zahl der Erkrankten in den USA unter 200’000 liegen. Gilead nutzte dies ganz zu Beginn der Pandemie und bekam den Status zuerkannt. Es brauchte dann die Proteste und den Druck der NGO Public Citizen, damit die US-Regulierungsbehörde Gilead den «Orphan Drug»-Status wieder entzog. «Es ist skandalös, dass Gilead das überhaupt versucht hat», empörten sich die Verantwortlichen von Public Citizen. Und sie gehen noch weiter: Nun bauen sie Druck auf, dass Gilead – im Falle der Wirksamkeit von Remdesivir – das Mittel für alle zugänglich und mit Lizenzen in grossem Mass verfügbar macht. Bei einer Pandemie und so viel Öffentlichkeit wie jetzt hat Public Citizen vielleicht auch Erfolg.