Die für den 1. Oktober geplante Räumung eines besetzten Gebiets in Guernica in der Provinz Buenos Aires wurde am Abend des 04. Oktober in letzter Minute ausgesetzt. Hier leben rund 2.500 Familien auf einem über 100 Hektar großen Gebiet, das in vier Stadtviertel unterteilt ist. Ihr Kampf um den Verbleib an Ort und Stelle hatte nationale Aufmerksamkeit erlangt. Der Aufschub wurde von allen Besetzer*innen als Sieg gefeiert, auch wenn die Frist für die Räumung zunächst nur bis zum 15. Oktober verlängert wurde. Der Konflikt ist nach wie vor ungelöst. Nach Angaben der Besetzer*innen-Bewegung verlangt die Regierung, dass die Familien das Gebiet verlassen, auch wenn es keine tragfähige Sofortlösung oder alternative Unterkünfte gibt. Die meisten Bewohner*innen wurden während der Covid-19-Pandemie arbeitslos. Hier leben Hunderte von Kindern, Transsexuelle und Frauen, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt wurden.

Kein Konsens

Am selben Tag fand ein Treffen mit den Anwält*innen der Familien, sozialen Organisationen, die die Besetzung begleiten, Vertreter*innen der Provinzregierung, wie dem Minister für Gemeindeentwicklung Andrés Larroque, und dem Sekretär für den Zugang zu Lebensraum Rubén Pascolini statt. Die Vorschläge der Regierung basieren auf dem „friedlichen Auszug“ der Familien. Danach erst soll eine Lösung präsentiert werden. Die Vertreter*innen der Besetzung hingegen fordern garantierten Wohnraum und Land und argumentierten, dass die Betroffenen nirgendwo hinkönnen. Am ersten Oktoberwochenende versuchte die Provinz, individuelle Vereinbarungen mit den Bewohner*innen zu treffen, indem sie Nahrungsmittel und einen Geldbetrag von 45.000 Pesos (584 US-Dollar) anbot. Der Versuch war nicht erfolgreich. Nach der Aktion gab die örtliche Regierung eine Erklärung zu „gewalttätigen Gruppen“ heraus, die an der Besetzung beteiligt seien.

Armut und Arbeitslosigkeit

Erhebungen des Nationalen Instituts für Statistik und Volkszählungen (INDEC), die in derselben Woche veröffentlicht wurden, deuten auf eine Zunahme der Armut hin, die nun 40,9% der Bevölkerung in Argentinien erreicht. Dieser Anstieg ergibt sich aus der Tatsache, dass im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahr 2,5 Millionen mehr Menschen unter die Armutsgrenze gefallen sind. Alarmierend ist außerdem, dass mittlerweile 10,5% der Bevölkerung mittellos sind, das heißt, nicht über die notwendigen Mittel zur Grundnahrungsmittelsicherung verfügen. Nach Angaben des INDEC stieg auch die Arbeitslosigkeit (mit 13,1% die höchste Rate seit 2004) und mit ihr die Unmöglichkeit, die Miete zu zahlen. Zur Bewältigung der durch die Pandemie verursachten Krise hat die argentinische Regierung die Mieten eingefroren und auch Zwangsräumungen eigentlich verboten. „Wir wissen bereits, wie es funktioniert“, sagt Eduardo Soares vom Anwaltsverband. Er ist einer der Anwälte, die die Familien vertreten. „Die Justiz in Argentinien und in ganz Lateinamerika folgt der politischen Führung der Gebiete, in denen sie sich befindet. Hier sind es lokale Feudalherren und -damen, die die Polizei, die Justiz und die Staatsanwaltschaft kontrollieren. Ohne die besetzenden Personen auch nur zu befragen, beantragt ein Staatsanwalt die Räumung, und ein Richter entscheidet innerhalb von 24 Stunden“. In diesem Fall ist der Richter Martin Rizzo. Auf der Grundlage von Beschwerden von Anwohner*innen und einer Firma, die lediglich behauptet, das Grundstück zu besitzen, beschloss er, das Land zu räumen, auch ohne Vorlage einer Besitzurkunde.

Land und Territorium: zwei Begriffe mit großer Symbolkraft

Guernica ist bekannt für seine verschiedenen luxuriösen Countries mit ihrem elitären Publikum und ihren exklusiven Zugangsvoraussetzungen. „Die Besetzung in Guernica hat eine große Symbolkraft in unserem Land und in ganz Amerika, „, erklärt Alejandro Ignaszewski von der Bewegung Resistir y Luchar, einer der Organisationen, die die besetzenden Familien begleiten. „Es gibt etwa tausend Countries in der Provinz Buenos Aires. 80% von ihnen wurden unter Missachtung der geltenden Bestimmungen gebaut. Das sind auch Besetzungen. Aber diese Besetzungen stehen im Dienste eines Sektors, der auf das beste Land spekuliert und die größte Bereitschaft hat, teure Wohnungen zu bauen“, schimpft er.

Die Kommentare in den Nachrichten über die Besetzung spiegeln einen Großteil der öffentlichen Meinung wider. Die extreme Sorge um das Privateigentum stehe dabei im Vordergrund, selbst in diesem Fall, in dem es keinen erklärten Eigentümer gebe, schildert Joana Salém, Historikerin und Forscherin der Agrarreform in Lateinamerika. Sie stellt fest, dass die bestehenden Vorstellungen über die Menschen, die unter dem Wohnungsdefizit leiden, durch die Sozialwissenschaften selbst erzeugt wurden: „Die Frage von Land und Territorium ist das schwerwiegendste und dauerhafteste Problem der lateinamerikanischen Gesellschaften. Mit dem Voranschreiten der Landflucht und der Zunahme der städtischen Peripherien in den 1950er und 1960er Jahren schuf ein Sektor der Sozialwissenschaften eine Theorie, die die Betroffen als ‚Randgruppen‘ bezeichnete.“ Eine andere dem Marxismus nahestehende sozialwissenschaftliche Strömung kritisiert diese Theorie und argumentiert, Armut sei gerade keine Randerscheinung des Systems, sondern sein Produkt. „Eine antikapitalistische Maßnahme zur Überwindung der Armut wäre die Besetzung des Raums, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt“, ergänzt Salém.

Einschüchterung

Während der mehr als zweimonatigen Besetzung gab es laut Berichten der Familien mehrere Angriffen durch Polizei und bewaffnete Gruppen sowie direkte Schikane durch Regierungsbeamte, die versuchten, eine „friedliche Lösung“ auszuhandeln. Bei einer Volkszählung, die zu Beginn der Besetzung durch die Regierung durchgeführt wurde, wurden Ausweisdokumente und Telefonnummern der Besetzenden gesammelt und anschließend Hunderte Strafanzeigen wegen „widerrechtlicher Aneignung“ gestellt. In einem der ersten Versuche eines Dialogs zwischen der Provinz und den Familien erklärte Blanca Cantero, Bürgermeisterin der Gemeinde Presidente Perón, in der Guernica liegt, im Interesse der achtzehn Countries zu handeln, die um das besetzte Gebiet herum liegen. „Die Justiz beschleunigte den Prozess der Zwangsräumung, unterstützt vom politischen Flügel, der eigentlich eine ernst zu nehmende Lösung des Problems bieten sollte“, berichtet Ignaszewski. „Sie hätten die lange Zeit nutzen können, um die von uns vorgestellten Lösungen zu analysieren, um den Konflikt zu lösen, und das haben sie nicht getan.“ Dem Aufschub der Räumung ging die Vorlage eines Urbanisierungsplans voraus, den der Anwaltsverband erstellt hatte. Der Plan sah die Nutzung eines Teils des Territoriums für die Urbanisierung und Unterbringung der Tausenden von Menschen vor, die heute in Zelten und improvisierten Baukonstruktionen leben. „Wir haben mit diesem Vorschlag gezeigt, dass es möglich ist, den Konflikt auf einfache Weise, ohne Gewalt und ohne Anwendung des Strafgesetzbuches zu lösen“, sagt Soares, einer der Verantwortlichen für das Projekt. „Sie lobten die technische Genauigkeit des Vorschlags, bestanden aber darauf, dass zuerst die Personen das Land verlassen müssen.“

Einen Tag vor der geplanten Räumung bekräftigte der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof (Frente de Todos), dass „Besetzungen nicht die Lösung sind“. Sein Vorschlag beinhaltet den Bau von 33.000 Häusern an anderen Orten und sieht vor, dass die Familien vorübergehend in ihre Gemeinden zurückkehren. Die Mehrheit der Menschen beteuert hingegen, dass es keinen Ort mehr gebe, an den sie zurückkehren könnten.

Übersetzung: Tobias Mönch

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