Kanadische Ureinwohnerinnen leiden unter einer hohen Gewaltrate.
Im kanadischen Winter 2012 konnten Passanten im Osten der Innenstadt Vancouvers Rebecca Belmore, einer Angehörigen des Indianervolks der Anishinabe, zusehen, wie sie ihr langes Kleid an einen Telefonmast nagelte. Nachdem sie sich mit Mühe befreit hatte, ihr Kleid zerfetzt und ihre Unterwäsche entblößt war, las sie still die Namen vermisster Frauen, die auf ihren Unterarm geschrieben waren. Ihren Auftritt beendete sie, indem sie jeden einzelnen Namen laut ausschrie.
Der Auftritt, der nun als Video in Belmores Ausstellungen gezeigt wird, mag unbesonnene Zuschauer überraschen, aber die Realität in Kanada – welches im Ländervergleich zur Lebensqualität schon oft an der Spitze stand – ist, dass Frauen aus den nordamerikanischen Indianervölkern unter einer hohen Gewaltrate leiden. Im Jahr 2014 bestätigte die Royal Canadian Mounted Police (RCMP) 1017 Morde an Ureinwohnerinnen, 164 verschwanden seit 1980. Und dabei machen diese nur 4,3% der weiblichen Bevölkerung des Landes aus.
Eine Studie der Native Women’s Association of Canada (NWAC) offenbarte, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine indigene Frau von einem Fremden ermordet wird, fast dreimal höher ist als die einer nicht-indigenen. Die Frauen und Mädchen sterben durch die Hand Fremder (16,5% der Fälle), Bekannter (17%) oder die des Partners (23%).
Aus der Studie schließt die NWAC, dass es sich bei den Tätern ebenso um Ureinwohner, wie auch Nicht-Ureinwohner handelt, überwiegend sind sie männlich. Außerdem geht hervor, dass nur 53% dieser Fälle in eine Anklage wegen Mordes resultierten, ein Prozentsatz weit unter der nationalen Klärungsrate von 84%.
Der Verband Quebec Native Women (QNW) schilderte, dass weibliche Eingeborene vor der Ankunft der Europäer eine wichtige Rolle in der Gesundheit, Spiritualität, Bildung, Wirtschaft und Politik ihrer Gemeinschaften spielten. Diese Dynamik hat sich durch die Auferlegung europäischer, patriarchischer Richtlinien, die sich bis heute durchgesetzt haben, drastisch gewandelt.
Laut Forscher*innen verschiedener kanadischer Universitäten wie Marie-Pierre Bousquet und Sigfrid Tremblay, strebte die kanadische Bundesregierung durch die systematischen, kolonialen Richtlinien an, den Eingeborenen den Euro-Kanadischen Lebensstil einzuverleiben und so deren Kultur und Identität auszurotten.
Eine dieser Richtlinien war der Indian Act, der 1876 in Kraft getreten ist. Er bestimmt die Regelung indigener Angelegenheiten durch die Bundesregierung. Ursprünglich sollte er auf die fortschreitende Auslöschung des urkanadischen Volkes abzielen, laut dem Anthropologe Pierre Lepage hat das Gesetz jedoch bis heute Auswirkungen auf die Rechtsfähigkeit der Eingeborenen und untergräbt deren Autorität.
Die QNW nennt dies eine „Auslöschungsideologie“, welche mit dem „progressiven Diebstahl einzelner Gebiete“, die den weiblichen Eingeborenen angehörten, begann und ihnen nach und nach alles wegnahm, die Rohstoffe, ihre Autonomie, ihre Identität und letztlich ihre Kultur.
Für die QNW ist der Kolonialismus unter anderem ursächlich für das nachteilige sozio-ökonomische Umfeld der indigenen Frauen, welches deren Existenz zunehmend gefährdet. Vielmehr wurde die Gewalt an den Ureinwohnerinnen Kanadas als Völkermord bezeichnet.
Um ihr Leiden zu überwinden haben indigene Frauen das kolonialistische, rassistische und sexistische System offengelegt und sich diesem widersetzt. Mit der Zeit ist die Kunst zu einem wichtigen Werkzeug sowohl für Ausdruck als auch Kritik geworden, was den Frauen ermöglicht, eine alternative, einschneidende und herzzerreißende Version ihrer Geschichte wiederzugeben und gleichzeitig die Rolle der Gesellschaft in ihren aktuellen Herausforderungen einzufügen.
Hier sind einige ihrer bewegendsten künstlerischen Ausdrücke:
„1811“ von der Künstlerin Rebecca Belmore (Foto vom Autor der Ausstellung “Rebecca Belmore: Facing the Monumental“ im Musée d’art contemporain in Montreal 2019.
“Fringe” von Rebecca Belmore (2007)
Das Kunstwerk zeigt ein Foto einer halbnackten Frau, die mit dem Rücken zur Kamera auf der Seite liegt. Eine genähte Narbe, aus der rote Perlen hervorkommen, erstreckt sich von ihrer Schulter über ihren gesamten Rücken. Die Perlen sollen Blut symbolisieren.
Belmore selbst sagt über ihr Werk: „Es ist der Körper, der nicht verschwindet“. In ihrer Arbeit stellt sie den weiblichen Körper oft mit heilenden Wunden dar, wie die, die von vielen Überlebenden getragen werden, um die Widerstandskraft der indigenen Frauen zu demonstrieren.
“Walking with our Sisters” von Christi Belcourt (2012 bis heute)
Die gemischtrassige Künstlerin Christi Belcourt, eine Métis, halb indigen und halb weiß, hat ein Werk kreiert, auf dem etwa 1.763 improvisierte, mit feinen Perlen versehene Paare von Mokassins platziert sind. Jedes Paar repräsentiert eine vermisste oder getötete Frau, oder ein Kind, dass nie nach Hause zurückgekehrte, nachdem es in ein Internat geschickt worden war. Die Internate sind verantwortlich sind für die systematische Trennung indigener Kinder von ihren Familien und deren Kultur.
Dieses Werk umfasst die Sammlung gemeinschaftlicher Spenden von 600 roten Kleidern, die Farbe, welche Schutz vor Gewalt symbolisiert. Durch die Abwesenheit weiblicher Körper, die die Kleider tragen sollten, kreiert die Künstlerin eine visuelle Gedenkstätte für die vielen vermissten Frauen.
Bilder des “ReDress” Projekts. Das Foto auf der linken Seite wurde von Jamie Black aufgenommen, das auf der rechten Seite von von Sarah Crawley. Sie werden mit deren Erlaubnis genutzt.
“The Three Graces” von Kent Monkman (2014)
Monkman, ein halb Cree, halb irischer Künstler, ist dafür bekannt durch kraftvolle, visuelle Kritik alternative Versionen der dominanten Schilderungen des Kolonialismus aus seiner eigenen, indigenen Sichtweise wiederzugeben.
Mittels Ironie prangert er die Gewalt an weiblichen Eingeborenen an, inklusive der sexuellen Ausbeutung und den Vorurteilen gegenüber derer, die in der Sexindustrie arbeiten. Beispielsweise zeigt sein Gemälde „Le petit déjeuner sur l’herbe“ nackte Prostituierte verstreut vor einem Hotel in Winnipeg, einer Provinz, dessen Straßenstrich zu 70-80% indigene Frauen beschäftigt.
In „The Three Graces“, Monkmans Version von Rubens‘ gleichlautendem Werk, werden die Göttinnen des Anmuts, der Schönheit und der Kreativität als drei indigene Frauen mit verschiedenen Körperformen dargestellt. Mit diesem Ausstellungsstück ehrt Monkman seine „vermissten und ermordeten Schwestern“. „In Kanada“, sagte er, „herrscht viel Gewalt gegenüber indigenen Frauen […] über 1.300 werden vermisst oder wurden getötet“.
Die Kunst der Eingeborenen dient als Therapie für das individuelle, so wie das kollektive Leid. Laut der Health and Social Services Comission fördert sie die Belastbarkeit und hat einen positiven Effekt auf ihre Identität, ihr Selbstbewusstsein, ihr emotionales Wohlbefinden und sowohl ihre physische als auch psychische Gesundheit. Die Kunst als Bildungsinstrument kann auch dazu dienen, die kanadische Regierung zur Rechenschaft zu ziehen und einen echten Prozess zur Versöhnung voranzutreiben.
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