Schon der Name des ausgezeichneten Schriftstellers ist Poesie. In der Mapuche-Sprache Mapudungun bedeutet Elicura so viel wie „gläserner Stein“, Chihuailaf ließe sich etwa mit „dichtes Nebelfeld“ übersetzen. Dass ein indigener Schriftsteller einen Nationalpreis verliehen bekommt, sollte mitten im 21. Jahrhundert eigentlich kein Novum darstellen. Doch im offiziellen Literatur- und Kunstkanon wie in der Gesellschaft im Allgemeinen führen die indigenen Bevölkerungsgruppen auch heute noch ein Schattendasein. Während in Santiago de Chile der nationale Literaturpreis verliehen wird, kämpfen in der 600 Kilometer weit entfernten Provinz Araucanía indigene Landgemeinden um ihre Territorien, die sich vielfach in den Händen von Privatbesitzer*innen befinden. In der südchilenischen Provinz ist der größte Teil der indigenen Bevölkerung ansässig.
Übersetzung in 20 Sprachen
Der Premio Nacional de Literatura de Chile ist die landesweit wichtigste literarische Auszeichnung, mit dem bereits das Gesamtwerk bekannter Nationaldichter*innen wie Pablo Neruda (1945), Gabriela Mistral (1951) oder Antonio Skármeta (2014) gewürdigt wurde. Nun erhält mit Elicura Chihuailaf zum ersten Mal ein Mapuche die renommierte Auszeichnung. Chihuailaf – Dichter, Essayist und Übersetzer – kann auf einen langen und bedeutenden literarischen Werdegang zurückblicken. Der in der Gemeinde Quechurewe geborene Autor schreibt sowohl auf Spanisch als auch auf Mapudungun. Das Werk des 68-Jährigen findet international große Beachtung: Es wurde in zwanzig Sprachen übersetzt, unter anderem auch ins Deutsche.
2016 war Chihuailaf bereits als erster Mapuche für den chilenischen Nationalpreis für Literatur vorgeschlagen, aber nicht prämiert worden. Die Kultusministerin Consuelo Valdés begründete die Auszeichnung nun mit seinem bedeutenden Gesamtwerk und seiner Fähigkeit, die mündliche Überlieferung der Mapuche in eine kraftvolle und reiche Schriftsprache zu übersetzen, die über die der Mapuche hinausgehe. Mit dichterischem Können und einem ganz eigenen sprachlichen Stil habe Chihuailaf entscheidend dazu beigetragen, ihr poetisches Universum in der ganzen Welt zu verbreiten und aus der Gegenwart heraus die Stimmen seiner indigenen Vorfahr*innen zugänglich und hörbar zu machen.
Indigene Kosmovision als Teil einer Protestkultur
Aufgrund seines Jahrgangs (geboren 1952) wird Chihuailaf oft mit der chilenischen Autor*innengeneration der 1960er Jahre in Verbindung gebracht, zu der u. a. der bekannte Dichter Raúl Zurita gehört. Auch mit den Schriftsteller*innen, die nach dem Militärputsch von 1973 aktiv waren – die sogenannte Versprengte Generation (Generación Dispersa) oder Generation der Diaspora und des inneren Exils – wird Chihuailaf in einem Zuge genannt. Die Literaturkritik sah im Aufkommen der Mapuche-Dichtung den Beginn einer sich verändernden Konzeption der chilenischen Literaturgeschichte. Diese prägten bis dahin die schriftstellerischen Größen Chiles Gabriela Mistral, Vicente Huidobro, Pablo de Rokha, Pablo Neruda und Nicanor Parra. Eine rege Debatte problematisierte die Aufnahme der Mapuche-Werke in die literarische Tradition der großen chilenischen Dichtung. Die Poesie der Mapuche wurde als autonomes kulturelles Schaffen betrachtet, das in der Mündlichkeit wurzelte und damit weit entfernt von den symbolistischen und modernistischen Mustern europäischer Poesie und ihrer Dichterfigur lag. Um die Autonomie ihrer Poesie zu verteidigen und zu unterstreichen, positionierte sich ein Teil der Mapuche-Dichtung dem chilenischen Staat gegenüber kritisch und brachte durch die Fokussierung auf die eigene indigene Kosmovision und auf kulturelle Eigenheiten ihr Aufbegehren gegen kulturelle Ausgrenzung zum Ausdruck.
Gerade die Mündlichkeit ist es, die Chihuailaf in seinen Werken stark macht. Er selbst nennt sich einen Oralitor, um damit die Bedeutung des Mündlichen für das Denken und die lebendige Gedächtniskultur der Indigenen hervorzuheben sowie auf den generellen intellektuellen Wert von Oralität hinzuweisen, den ihr die Akademie und intellektuelle Kreise absprechen.
Eine nette Geste inmitten kultureller Ausgrenzung
Die erstmalige Auszeichnung eines Mapuche mit dem wichtigsten Literaturpreis Chiles wurde nicht nur als kurioses Ereignis verkündet, sondern auch als freundliche Geste verstanden. Zwischen den Zeilen interpretierte man die Auszeichnung Chihuailafs als ein wichtiges Zugeständnis der chilenischen Regierung an einen Repräsentanten einer Kultur, die durch Staat und Gesellschaft nach wie vor Ausgrenzung und Diskriminierung erleidet. Das ursprüngliche Stammesgebiet der Mapuche befindet sich heute weitgehend in den Händen staatlicher Unternehmen, Investoren und Großgrundbesitzer, ist jedoch nach indigenem Recht und internationalen, auch von Chile ratifizierten Abkommen weiterhin indigener Landbesitz. Auch auf kultureller Ebene ist die Diskriminierung und Ausgrenzung der Mapuche sichtbar. Die indigene Kultur, ihre Sprache, ihre Erfahrungen und Wissensbestände haben weder Wert noch Platz in der chilenischen Gesellschaft.
Dichtung als Fenster zu Erfahrung und Schönheit indigener Kulturen
Chihuailaf selbst erkennt in dem Preis kein Zeichen der Anerkennung für sein literarisches Werk oder für die Mapuche durch die Regierung Chiles. So erklärte der Schriftsteller in einem Fernsehinterview nach der Preisverleihung auf die Frage, was die Prämierung ihm bedeute: „Ich empfinde diese Auszeichnung nicht als Würdigung durch den chilenischen Staat. Es geht um 43 Jahre schriftstellerische Arbeit, die von einer Fachjury ausgezeichnet wurde und deren Bedeutung weit über das, was sich heute Chile nennt, hinausgeht. Meine Bücher werden bereits auf der ganzen Welt gelesen und geschätzt. Erst kürzlich hat die Generaldirektorin der UNESCO in einer Rede über die Geschichte der Weltliteratur auf meine Arbeit Bezug genommen und am Ende aus meinem Gedicht Sueño Azul (Blauer Traum) zitiert. Was mich hingegen wirklich freut, ist, wenn Kinder, Jugendliche und Erwachsene durch meine Dichtung mehr von unseren indigenen Vorfahr*innen erfahren und erinnern“. Der chilenische Literaturpreis könne jedoch, so die Hoffnung des prämierten Schriftstellers, „eine Tür oder zumindest ein Fenster sein, durch das auch das oberflächliche und verkaufte Chile – also die Mächtigen, die das Land regieren – die Tiefe, Schönheit und Zartheit der indigenen Kulturen wahrnehmen – insbesondere die der Mapuche, von denen ich einer bin.“
Übersetzung: Katharina Greff