Olé olé – olé olá“, tönt es am Nachmittag des 12. September im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Auf Spanisch singen etwa 80 Demonstrant*innen: „wohin sie auch gehen, wir werden sie suchen!“. Sie ziehen durch die Straßen des Winsviertels. Denn in diesem Quartier wohnt seit sieben Jahren der Deutsch-Argentinier (72). In Argentinien gilt der Ex-Militär wegen Folter und Mord an Oppositionellen während der Diktatur als dringend tatverdächtig. Er wird mit internationalem Haftbefehl gesucht.
Die Demonstrant*innen halten Fotos von verschwundenen Gefangenen in die Höhe und Schilder, auf denen steht: „Dónde están?“ – „Wo sind sie?“. In kleinen Straßenperformances zeichnen sie mit Kreide die Umrisse von Menschen auf den Asphalt – Symbole für das gewaltsame Verschwindenlassen. In der Umgebunug sind Plakate mit dem Foto von Kyburg geklebt.
„Die Nachbarn sollen erfahren, wer hier wohnt“
„Wir klagen Luis Esteban Kyburg an und wir wollen, dass die Nachbarn hier erfahren, wer er ist. Kyburg war ein ranghoher Militär der Marine, und während seiner Zeit dort wurden sehr viele Menschen entführt“, sagt Ezequiel Monteros, einer der Organisatoren der Demonstration. Der argentinische Dokumentarfilmer, dessen Eltern selbst politische Gefangene waren, engagiert sich bei H.I.J.O.S. , einem vor 25 Jahren entstandenen Zusammenschluss von Söhnen und Töchtern von Opfern der Diktatur in Argentinien. Dieser waren zwischen 1976 und 1983 etwa 30.000 Menschen zum Opfer gefallen. Mit Aktionen wie der heutigen, sogenannten „escraches“, protestieren sie an den Wohnorten von Diktaturverbrechern, fordern Aufklärung des Schicksals ihrer Angehörigen und kämpfen gegen Straflosigkeit. Zur gleichen Zeit protestieren H.I.J.O.S. Gruppen vor deutschen Konsulaten in Paris und Amsterdam.
Dringend tatverdächtig
Kyburg war Offizier in einer Marinebasis in Mar del Plata, südlich der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. In der Zeit der Diktatur ab 1976 wurde in dieser ein Gefangenen- und Folterlager eingerichtet. Als stellvertretender Befehlshaber einer Kampftauchereinheit (Agrupación de Buzos Tácticos U.T. 6.1.2) auf diesem Militärstützpunkt gilt Kyburg als dringend tatverdächtig, an Entführungen, Folter und Mord an 152 Personen beteiligt gewesen zu sein.
„Darunter waren auch zwei zu diesem Zeitpunkt schwangere Frauen“, erklärt die argentinische Anwältin und Schriftstellerin Maria Ester Alonso. Es gehe auch darum, deren Schicksal und das ihrer Kinder aufzuklären. In Argentinien wurden Kinder politischer Gefangener während der Diktatur systematisch geraubt und wuchsen oftmals in Familien von Militärs auf, ohne ihre eigene Geschichte zu kennen. Maria Ester Alonso erklärt, dass diese bei ihrer Suche nach den etwa 500 geraubten Kindern bisher 130 Fälle aufklären konnten.
Kyburg entzieht sich der Justiz
„In Argentinien wäre Kyburg längst verurteilt und verhaftet“, so wie andere Mitglieder seiner Einheit auf der Marinebasis, sagt die Anwältin. Aber: „Er ist vor der argentinischen Justiz geflohen, bevor er 2013 vernommen werden sollte, und lebt seitdem straflos in Berlin“. Noch im selben Jahr wurde ein internationaler Haftbefehl über Interpol verbreitet und Kyburg 2014 in Deutschland verortet. Argentinien stellte 2015 einen Auslieferungsantrag, den Deutschland jedoch ablehnte. Denn Kyburg hat deutsche Vorfahren und besitzt neben der argentinischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Deutschland liefert seine eigenen Staatsbürger grundsätzlich nicht an Staaten außerhalb der EU aus.
Alte Fotos waren nicht mehr aktuell
Die Staatsanwaltschaft Berlin ist zwar seit 2015 mit dem Fall Kyburg befasst. Mehr Tempo scheint seit 2018 in die Sache zu kommen. Da nämlich entdeckte der argentinische Journalist Toni Hervida, der seit 35 Jahren in Berlin lebt, Kyburg nach einer langen Suche. 2017 hatte er bei einer Veranstaltung zufällig davon erfahren. Bei einer Liveschaltung nach Argentinien zu dem Staatsanwalt aus Mar del Plata, der für die Verfahren rund um die dortige Marinebasis zuständig war: „Da wurde erwähnt, dass einer der gesuchten Mittäter der Diktatur nach Deutschland gegangen wäre“. Erst danach habe er mit Unterstützung von anderen Freund*innen und Kolleg*innen den Namen und die Adresse recherchiert – und Kyburg eines Tages gefunden. „Die alten Fotos waren nicht mehr aktuell“, erinnert er sich, er fotografierte ihn und verglich die Fotos. „Als ich sicher war, dass er der Gesuchte ist, der mit 500.000 argentinischen Pesos Lösegeld gesucht wurde, gingen wir zum Europäischen Menschenrechtszentrum ECCHR .“
Angehörige eines Verschwundenen erstatten Anzeige
Noch im Jahr 2019 kam eine argentinische Hinterbliebene, Anahí Marocchi nach Berlin. Im September 1976 ist deren damals 19 Jahre alter Bruder Omar Marocchi zusammen mit seiner schwangeren Frau Haydee Susana Valor mutmaßlich in der Marinebasis von Mar del Plata verschwunden. Anahí Marocchi sucht ihren Bruder und ihre Schwägerin noch immer. Zusammen mit dem ECCHR erstattete sie Anzeige gegen Kyburg in Deutschland.
Anahís Sohn, Rodrigo Díaz (39), also der Neffe des 1976 verschwundenen Omar Marocchi, lebt inzwischen in Köln. Für den „escrache“ ist er extra nach Berlin gekommen. „Das wichtigste ist Wahrheit und Gerechtigkeit“, sagt er. „Diejenigen, die diese Verbrechen begangen haben, haben einen Schweigepakt vereinbart. Bis heute sprechen sie nicht darüber, wie die Gefangenen getötet wurden. Damit zwingen sie die Angehörigen der Verschwundenen dazu, jeden Tag wieder diese Ungewissheit und diesen Horror zu durchleben. Da Kyburg vor der argentinischen Justiz geflohen ist, muss die deutsche Justiz aktiv werden, damit Kyburg sich für seine Taten verantworten muss.“
Anklage in Deutschland?
Als positiv bewertet Andreas Schüller, beim ECCHR verantwortlich für Völkerstrafrecht, dass die Berliner Staatsanwälte bereits Zeugen in Argentinien vernommen haben. Die Ermittlungen müssten nun aber zügig abgeschlossen werden. „Wir hoffen auf eine baldige Anklageerhebung“, so Schüller – sei es aufgrund des konkreten Nachweises einer Tatbeteiligung Kyburgs oder aufgrund seiner Funktion, seiner organisatorischen Stellung innerhalb des Militärs.
Dirk Feuerberg, Leiter der zuständigen Abteilung bei der Generalstaatsanwaltschaft Berlin, erklärt: „Lange Zeit war es ja so, dass man meinte, Tathandlungen des Einzelnen nachweisen zu müssen“. Die Rechtssprechung habe sich in den letzten Jahren aufgrund von Urteilen zu Taten aus der Zeit des Nationalsozialismus allerdings sehr geändert. „Wenn jemand in eine Machtstruktur, in eine Organisationsform eingebunden war, in der für jeden und damit auch für den oder die Angeklagten erkennbar war, dass der Beitrag den man dort erbringt, der vielleicht allgemeiner Natur war, also das Besetzen eines Wachpostens o.ä., dazu beiträgt, dass Menschen in großem Maßstab gefoltert und ermordet werden, dann reicht der Nachweis der Einbindung in diese Struktur“, so Feuerberg.
Kyburg ist kein Einzelfall
„Deutschland darf kein sicherer Hafen für Diktaturverbrecher*innen sein“, heißt es in einer Erklärung des ECCHR jedenfalls. Denn Kyburg ist kein Einzelfall. So lebte der in Chile wegen mehrfachen Mordes während der Pinochet-Diktatur rechtskräftig verurteilte deutsch-chilenische Ex-Offizier Walther Klug Rivera vier Jahre lang unbehelligt im Rheinland. Auch strafrechtliche Schritte zur Aufklärung von Verbrechen in Colonia Dignidad, der deutschen Sekte im Süden Chiles, in der Oppositionelle gefoltert und ermordet wurden, verliefen in Deutschland stets im Sande. Die Ermittlungen unter anderem gegen den ehemaligen Sektenarzt Hartmut Hopp, der in Deutschland lebt und als Verbindungsmann zum chilenischen Geheimdienst galt, wurden 2019 eingestellt. Über eine Wiederaufnahme der Ermittlungen hat derzeit die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf zu entscheiden.
Gewaltsames Verschwindenlassen als Straftatbestand
Aus diesen Fällen lasse sich auch für die Zukunft ableiten, „wie wichtig ein eigenständiger Straftatbestand des zwangsweisen Verschwindenlassens wäre. Hier bleibt der Gesetzgeber gefordert“, ergänzt Schüller.
Laut der 2010 in Kraft getretenen UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen ist Deutschland „als Vertragspartei der Konvention verpflichtet, einen eigenen Straftatbestand einzuführen“, sagt Barbara Lochbihler. Die frühere Grünen-Europapolitikerin ist seit 2019 Mitglied im UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen. Die Bundesregierung erklärte im Juli in ihrem Bericht an die UNO, die bestehenden deutschen Straftatbestände ermöglichten eine umfassende Aufklärung, Verfolgung und Bestrafung von Fällen des Verschwindenlassens von Personen. Gleichzeitig erkennt die Bundesregierung an, dass die Einführung eines Straftatbestands des Verschwindenlassens möglicherweise eine bedeutende Symbolkraft haben könnte. Lochbihler fordert, dass die deutsche Regierung, die die Konvention ratifiziert hat, sie auch umsetzt. „Das hat eine Vorbildwirkung auch für andere Staaten, von denen man es ja auch einfordert, dass sie es ordentlich umsetzen.“