In einem mit Gewinn zu lesenden Interview, dass Anja Reich und Sabine Rennefanz mit Lothar de Maiziére führten (Meine Damen und Herren, wir schaffen uns ab!), meinte der letzte Ministerpräsident der DDR „nach den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Moskau 1990 hätte er angesichts der Unterzeichnung des Dokuments durch die Vertreter der 4 Siegermächte einen Moment der Gnade empfunden“. Wohl, weil damit der schreckliche 2. Weltkrieg einen völkerrechtlichen Schlusspunkt erhalten hat.
Ob so ein sanftes Wort am 2. Oktober 1990 die Bürger der DDR bewegte, ist nach den öffentlichen Debatten bis hin zum 30. Jahrestag zu bezweifeln.
Zwei Gedanken drängen sich zu den Gefühlen de Maiziéres auf:
Erstens, was hätte ein Friedensvertrag der Siegermächte im Format des Versailler Vertrages bedeutet, der den 1. Weltkrieg beendete? Ganz Deutschland hätte für lange Jahre enorme Lasten und Entbehrungen zu tragen gehabt. Angesichts der ungeheuren Zerstörungen durch die deutsche Wehrmacht hätte die berechtigte Wiedergutmachung, besonders gegenüber der UdSSR, Englands, Frankreichs u.a. enorme Geldsummen verschlungen. Vorschläge der USA sahen im Morgenthauplan die Zerstücklung Deutschlands in zwei Staaten, sowie die Internationalisierung des Ruhrgebietes und des Rheinlands vor. Deutschland sollte in zwei Agrarstaaten umgewandelt werden. Deutsche Bürger können froh sein, dass Stalin das Konzept auf den Gipfeltreffen in Teheran und Jalta abwenden konnte. 1947 stand die Truman-Doktrin als ein anderes geopolitische Konzept der westlichen Alliierten auf der Tagesordnung. Es verwandelte Deutschland aus einem ehemaligen Feind in einem Bündnispartner gegen die kommunistische UdSSR.
Es ist gut nachvollziehbar, dass de Maiziére für Deutschland kein Desaster mehr kommen sah und nach der Unterzeichnung an Gnade dachte.
Der zweite Gedanke liegt zeitlich näher. 1990 löste die Wiedervereinigung Deutschlands unterschiedliche Gefühle aus:
Westdeutsche Bürger hatten berechtigte Hoffnungen, dass die beherrschenden Politiker der Einheit ihnen das in der DDR enteignete Eigentum nach 40 Jahren wieder zurückbringe. Auch die Familie des Kaisers aus dem Haus der Hohenzoller ist bis zur Gegenwart guter Hoffnung, das Schloss Cäcilienhof in Potsdam und andere Immobilien wieder in ihrem Besitz zu nehmen. Die Großindustrie des Westens war zufrieden, lästige Konkurrenz loszuwerden und sich ein wohlfeiler Markt bot. Banken erhielten mit wenig Aufwand große Geschäftsmöglichkeiten. Reichlich vorhandene Schnäppchenjäger rieben sich die Hände. Eine ganze Volkswirtschaft war zu Ramsch Preisen zu haben.
In den alten Bundesländern war die Stimmungslage 1990 auf hohem Niveau positiv.
Anders die Gefühle der Bürger der DDR 1990 und danach bis 2020. Millionen wurden arbeitslos. Berufswege vom Facharbeiter bis zu Akademikern, Künstlern, Forschern der Akademien brachen weg. Jahrelange Weiterbildungen blieben ohne Nutzen. Bürger, die weiterhin Arbeit hatten, freuten sich über höhere Löhne und Gehälter; die Wohnungsmieten und Einzelhandelspreise stiegen jedoch schneller. Die Reisemöglichkeiten in die weite Welt hoben die Stimmung; auch die vollen Läden und die helleren Städte. Die rasant ansteigenden Schulden des Landes störten nicht unmittelbar. Dennoch sind sie Bürger zweiter Wahl geblieben, was die Chancen für die Karriereleiter angeht. Ein Prekariat und Hartz IV haben sie mit der Einheit auch erhalten.
Ihre Gefühle sind fern von Gnade und Dankbarkeit, nur ihr Wahlverhalten ist unverständlich.