Verhandlungen um die strategische nukleare Rüstungsbegrenzung in Wien
Von Thomas Roithner
Der Staatsvertrag Österreichs ist mit volksnahen Geschichten über die Trinkfestigkeit von Bundeskanzler Julius Raab und Außenminister Leopold Figl behaftet. Der Wein und die Reblaus sollten – ob mit Recht oder nicht – in der 2. Republik mit Wien als Ort und der österreichischen Art der Gesprächsführung in Verbindung bleiben. Vom Treffen Kennedy – Chruschtschow 1961 bis zu den Verhandlungen um das Iranische Atomprogramm (JCPOA) war Wien oftmals Begegnungsplatz und Austragungsort von Gesprächen zur atomaren Abrüstung und Rüstungskontrolle. Jetzt geht es in Wien betreffend Atomwaffen schon wieder um die Wurst.
New START
Die USA und Russland verhandeln bereits in mehreren Runden über den bilateral abgeschlossenen Vertrag über strategische nukleare Rüstungsbegrenzung (Strategic Arms Reduction Treaty, New START) in Wien. Die Brisanz: es ist der letzte noch bis Februar 2021 gültige Rüstungskontrollvertrag seiner Art.
Das Umfeld macht die Gespräche nicht einfacher: der Vertrag über Kurz- und Mittelstreckenraketen (INF) ist aufgekündigt und auch der Vertrag über die offenen Himmel (Open Skies) ist Opfer dessen, was mit Skepsis gegenüber dem Multilateralismus im Allgemeinen und gegenüber der Rüstungskontrolle und Abrüstung im Besonderen skizziert werden kann. Trotz allem sind Verhandlungen begrüßenswert.
Wien als „Ort des Dialogs“
Wien positioniert sich – ganz nach dem türkis-grünen Regierungsprogramm – als „Ort des Dialogs“ und übt „engagierte Friedensdiplomatie“ aus. Auch das ist zu begrüßen, hat Tradition und steht einem neutralen Staat gut zu Gesicht. Man braucht nicht Bruno Kreisky zu bemühen. Unter Sebastian Kurz fanden Gesprächsformate zu Iran, Syrien, Libyen oder Ukraine in Österreich statt.
Österreich dokumentiert gemäß dem Regierungsprogramm 2020 das aktive Engagement „für die internationale Abrüstung und Einsatz für eine Welt ohne Atomwaffen“. Österreich „tritt weiterhin für ein globalen Verbot von Atomwaffen ein und appelliert an alle Staaten, den Nuklearwaffenverbotsvertrag zu ratifizieren“ und verdeutlicht: „Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle sind fort[zu]setzen.“
International sind nationale Interessen im Zentrum
Machtausweitung sticht in diesem Spiel die Vertrauensbildung und nationale Interessen sind immer Trumpf. Die Atommächte modernisieren ihre Potenziale anstatt die Verpflichtung zur vollständigen Abrüstung aus dem Nichtweiterverbreitungsvertrag (NPT) umzusetzen. Es herrscht quantitative Abrüstung und qualitative Aufrüstung. „Mini nukes“ werden erforscht, um einen Atomkrieg auch regional führen zu können. Die Logik, dass Atomwaffen für Sicherheit sorgen, wirkt angesichts der vielen Konflikte mit der nuklearen Karte am Spieltisch schon beinahe absurd.
Ein Blick auf die letzten beiden Dekaden zeigt, warum aus der Blockkonfrontation die Rivalität von heute wurde. Natürlich nicht Eins-zu-eins. Allein zwischen den USA und Russland sind Unstimmigkeiten zahlreich: Kosovo-Krieg, NATO-Erweiterungen, Raketenschild, Irak-Krieg, Krieg gegen den Terror, Libyen-Krieg, Truppen der NATO-Staaten an der Ostgrenze oder auch die Kriege in Syrien und Ukraine. Das wechselseitige Misstrauen ist nachhaltig. Dazu kommen seit geraumer Zeit die geopolitischen und geoökonomischen Machtverschiebungen. Chinas neue Seidenstraße integriert Russland und Indien aber läuft auch ohne die USA.
Chinas Atomwaffen
Die 2018 beschlossene Nuclear Posture Review der USA benennt die „Rückkehr der Konkurrenz der Großmächte“. Russland modernisiert seine Nuklearpotenziale und China verstärkt die Kapazitäten. Multipolarität reduziert sich also nicht auf die nukleare Frage. Weder China, noch Indien oder Pakistan sind an die bilateralen Abrüstungsverträge zwischen den USA und Russland gebunden. Die Frage, die sich Washington und Moskau stellen: Warum sich an Verbote und Beschränkungen halten, wenn Peking oder Neu-Delhi diese nicht befolgen müssen, da sie außerhalb stehen?
Abrüstung und Einschluss Chinas ist wichtig, aber kein Argument für ein völliges Platzenlassen einer Lösung. Erstens liegen über 90 % der Sprengköpfe in den USA und Russland und zweitens unterschreiten Pekings Potenziale die in Wien im Gespräch befindlichen Obergrenzen bei weitem.
Atomwaffenverbotsvertrag
Im Juli 2017 haben sich 122 Staaten auf den Atomwaffenverbotsvertrag geeinigt. Dieser verbietet nicht nur den Einsatz, sondern auch den Besitz, die Lagerung, die Stationierung oder den Test von Atomwaffen. Der Kern der Sache hat humanitäre Gründe: menschliche Sicherheit statt Sicherheit für die Staaten. Es braucht 50 Ratifikationen von Staaten, damit der Vertrag in Kraft treten kann – 44 liegen bereits vor. Der Sekt ist bereits kühl gestellt.
EU-Position
Wie in vielen außenpolitischen Fragen – von Geflüchteten, Konfliktlösung in Syrien oder Chinas Seidenstraße – ist bei Atomwaffen das Gemeinsame der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ein schlechter Witz. Österreich und Irland sind vorerst allein unter den EU-27, die den Atomwaffenverbotsvertrag ratifiziert haben. Unter den 27 EU-Staaten sind 21 auch Mitglieder der NATO, die nicht am Konzept der nuklearen Teilhabe rühren. Die Debatten um die Aufkündigung des INF-Vertrages haben die EU-Staaten beunruhigt, jedoch nicht zur Ausarbeitung einer weitblickenden EU-Strategie veranlasst. Ebenso lässt die EU eine umfassende Unterstützung internationaler Organisationen zur Stärkung der bröckelig gewordenen Abrüstungsarchitektur vermissen.
Die Debatte um die Strategische EU-Autonomie, EU-Interessen und den unberechenbaren Verbündeten jenseits des Atlantiks haben auch die Diskussion um eine EU-Atombombe wieder geweckt. Die britisch-französischen Treffen sowie die deutsch-französischen Gipfel der 1990er-Jahre verdeutlichten den „Dialog über die Funktion nuklearer Abschreckung innerhalb des Kontextes Europäischer Verteidigungspolitik“ (Jaques Chriac, Helmut Kohl: Nuremberg Memorandum 1997). Die Debatte ist nicht verstummt. Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, legte 2019 dar: „Die atomaren Einsatz-Optionen Frankreichs sollten nicht nur das eigene Territorium, sondern auch das Territorium der EU-Partner mit abdecken“. Auch in Frankreich wurde über eine Europäisierung der französischen Potenziale debattiert. Der Friedensnobelpreis der EU lässt grüßen.
Verhandlungen in Wien
Bis zum Auslaufen des Vertrages über strategische nukleare Rüstungskontrolle verbleibt weniger als ein halbes Jahr. Die Verhandlungsdelegationen erhoffen vom jeweiligen Gegenüber Kompromissbereitschaft. Auch eine Verlängerung des Vertrages könnte zeitliche Spielräume für Gespräche schaffen.
Österreich stand bei nuklearer Abrüstung jüngst stets in der ersten Reihe. Die Rolle als Gastgeber erfüllt Österreich perfekt. Einige politische Klimmzüge sind nötig, damit sich Wien weiter zum aktiven Vermittler und Taktgeber von Abrüstung entwickeln kann.
Thomas Roithner ist Friedensforscher, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Mitarbeiter im Internationalen Versöhnungsbund – Österreichischer Zweig. Sein Buch „Flinte, Faust und Friedensmacht. Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik Österreichs und der EU“ ist bei myMorawa erschienen.