Das brutalste deutsche Massaker im Kolonialkrieg in China fand heute vor 120 Jahren statt – in der Kleinstadt Liangxiang.
Heute vor 120 Jahren begingen deutsche Militärs das furchtbarste Massaker ihres Kolonialkriegs in China. Unter dem Vorwand, gegen Aufständische vorgehen zu wollen, beschossen Soldaten zweier deutscher Seebataillone Wohngebiete in der Kleinstadt Liangxiang südwestlich von Beijing und brachten nach der Eroberung alle männlichen Bewohner um. Die Einwohnerzahl wurde auf 3.000 bis 4.000 geschätzt. Dem Massaker von Liangxiang folgten im Rahmen der Niederschlagung des „Boxeraufstands“ noch viele weitere. Kriegsrechtliche Normen galten nach Auffassung Berlins lediglich für „zivilisierte“ Nationen und wurden, da China und seine Bevölkerung nicht als solche eingestuft wurden, im deutschen Kolonialkrieg dort nicht berücksichtigt. Die Mordbrennereien der deutschen Truppen in China weisen klare Parallelen zur kolonialen Kriegführung des Deutschen Reichs in den afrikanischen Kolonien auf. – Aus Anlass der neuen „Indo-Pazifik“-Offensive Berlins ruft german-foreign-policy.com die mörderische deutsche Kolonialvergangenheit am Pazifik in Erinnerung.
Mobilisierung gegen Beijing
Als die deutschen Truppen, die nur wenig später das Massaker von Liangxiang begingen, am 15. August 1900 in China eintrafen, war die Niederschlagung des Boxeraufstands längst voll im Gang. Die Rebellion gegen die Kolonialmächte aus Europa, Japan und den USA hatte im Juni 1900 auf Beijing überzugreifen begonnen. Mitte Juni nahmen die Aufständischen nach Provokationen ausländischer Diplomaten – auch des deutschen Gesandten Clemens von Ketteler, der persönlich mehrere Aufständische erschoss – das Gesandtschaftsviertel in der Hauptstadt ins Visier. Der Aufstand eskalierte zum Krieg, als am 20. Juni reguläre chinesische Soldaten begannen, das Gesandtschaftsviertel zu belagern. In Europa hatte die Mobilisierung freilich einige Tage früher begonnen. Den Anlass lieferte ein am 16. Juni in der Londoner Daily Mail erschienener Bericht, in dem gänzlich unzutreffend behauptet wurde, Aufständische hätten das Gesandtschaftsviertel gestürmt und dort sämtliche Ausländer ermordet – eine Kriegslüge, wie man sie heute noch kennt. Versuchten die Kolonialmächte zunächst mit in der Region befindlichen Truppen zu intervenieren, Deutschland etwa mit Einheiten aus seinem „Pachtgebiet Kiautschou“ (Qingdao), so setzte in der zweiten Junihälfte auch im Reich eine umfassende Mobilisierung ein. Am 27. Juli verabschiedete Kaiser Wilhelm II. in Bremerhaven das Ostasiatische Expeditionskorps – als Kontingent einer internationalen Interventionsmacht unter Führung des deutschen Generalfeldmarschalls Alfred von Waldersee. Seine damalige Rede ist als „Hunnenrede“ bekannt.[1]
Ermordet, geplündert, niedergebrannt
Bereits zuvor, am 2. Juli 1900, hatte die Reichsregierung, um möglichst rasch intervenieren zu können, das Erste und das Zweite Seebataillon nach China ausgeschifft; die beiden Einheiten, die jeweils um die tausend Mann umfassten, waren einige Jahre zuvor eigens als Spezialtruppen für Interventionen in den deutschen Kolonien geschaffen worden.[2] Als die zwei Seebataillone die chinesische Hafenstadt Tianjin erreichten, hatten Streitkräfte der Kolonialmächte soeben die Belagerung des Gesandtschaftsviertels in Beijing niedergeschlagen und sofort mit der Plünderung der chinesischen Hauptstadt begonnen, über die Paula von Rosthorn, Ehefrau des Geschäftsträgers der österreichischen Gesandtschaft, später berichtete: „Erbarmungslos wurde alles niedergemacht, Männer, Frauen und Kinder, alles Wertvolle geraubt und dann die Häuser in Brand gesteckt.“[3] Tausende Chinesen wurden ermordet; geplünderte Waren wurden oft versteigert, der Ertrag wurde zur Finanzierung der Besatzungskosten genutzt oder an die Soldaten der Kolonialmächte verteilt. Das Erste Seebataillon traf am 23. August in Beijing ein, das Zweite Seebataillon folgte am 1. September. Zur Einrichtung ihrer Quartiere raubten die deutschen Militärs, wie es in einer Studie über ihren Einsatz heißt, „vornehmlich chinesische Tempel aus“.[4] Das Erste Seebataillon gab seinen Einstand am 27. August mit einem Massaker an 76 Chinesen, die vor der Erschießung – an ihren Zöpfen zusammengebunden – gezwungen worden waren, ihre eigenen Gräber auszuheben.
Wahllos erschossen
Das furchtbarste Massaker der deutschen Kolonialtruppen in China begingen Soldaten der beiden Seebataillone bereits am 11. September 1900, einen Tag, bevor das Ostasiatische Expeditionskorps unter Generalfeldmarschall von Waldersee in Tianjin eintraf. Anlass waren angebliche Schüsse auf eine deutsche Patrouille von den Wällen der Kleinstadt Liangxiang im Südwesten Beijings. Am folgenden Tag – ebenjenem 11. September – rückten die deutschen Militärs auf Liangxiang vor; sie erhielten dabei Unterstützung von rund 50 Reitern der britisch-indischen Kolonialtruppen.[5] Mit hoch überlegenen Waffen ausgestattet, eroberten sie zunächst einen Pagodenhügel vor Liangxiang, von dem aus sie die chinesische Verteidigung an den Wällen unter Beschuss nehmen konnten; sie feuerten dabei Berichten zufolge auch wahllos in Wohngebiete und auf fliehende Chinesen. Anschließend folgte der Sturm auf die Stadt, die ohne weiteres eingenommen werden konnte. Die Häuser wurden systematisch durchkämmt; „Krieger, die noch gruppenweise mit Waffen und widerstandsleistend angetroffen wurden, band man mit den Zöpfen aneinander, führte sie vor die Stadt und erschoss sie dort kriegsrechtlich“, heißt es in einem Korrespondentenbericht.[6]
Systematisch umgebracht
Tatsächlich wurden im Rahmen der sogenannten Strafexpedition nicht nur gefangengenommene Aufständische ermordet, sondern alle männlichen Bewohner. So berichtet ein Augenzeuge, es seien „sämtliche Männer, die in der Stadt waren und dort nicht bereits ihr Schicksal gefunden hatten, an die Mauer gestellt und erschossen worden“. Die Gesamtzahl der Einwohner Liangxiangs wird auf etwa 3.000 bis 4.000 geschätzt. „Die gesamte Strafexpedition“, urteilt der Historiker Bernd Martin, „kam eher einem Manöver mit scharfer Munition an lebenden Zielscheiben gleich als einer Kampfhandlung“; „die deutschen Verluste, ein getöteter Seesoldat und vier Leichtverletzte“, hätten „zahlenmäßig den bei Manövern üblichen Unfällen“ entsprochen.[7] Nach der Beendigung des Massenmords zogen die zwei deutschen Seebataillone wieder ab, allerdings nicht, ohne zuvor noch die Ruinen von Liangxiang in Brand gesetzt zu haben. In einer Darstellung eines an dem Massaker beteiligten deutschen Oberleutnants heißt es zur Begründung: „Die deutsche Minderheit musste rücksichtslos vorgehen, um dem schändlichen Treiben der Boxer ein für allemal ein Ende zu machen.“[8]
„Zivilisierte“ Nationen
Dem Massaker von Liangxiang folgten noch zahlreiche weitere. Für die damalige Provinz Zhili rings um die Hauptstadt zählen Historiker 76 sogenannte Strafexpeditionen, von denen 51 alleine von deutschen Truppen durchgeführt wurden; an den anderen waren deutsche Soldaten häufig überproportional beteiligt. Man begründete sie – außer mit dem Vorgehen gegen tatsächliche oder angebliche Aufständische – zuweilen auch mit Vergeltung für Angriffe von Rebellen auf deutsche Militärs. Üblicherweise wurde bei den „Strafexpeditionen“ nach – angeblichen – Aufständischen gefahndet, die anschließend an die lokalen Behörden übergeben oder gleich ermordet wurden; „Massenexekutionen waren die Regel“, heißt es in einer Untersuchung über die Mordbrennereien der deutschen Soldaten.[9] An die kriegsrechtlichen Normen der Haager Friedenskonferenz von 1899 fühlten sich die deutschen Streitkräfte nicht gebunden – diese galten nur für „zivilisierte“ Nationen, zu denen China und seine Bevölkerung laut Auffassung der Kolonialmächte nicht zählten. Nicht wenige deutsche Soldaten, die an den Massakern in China beteiligt waren, nahmen später an Kolonialkriegen im heutigen Namibia und im heutigen Tansania teil. Zudem weisen die Massaker Parallelen zu „Strafexpeditionen“ deutscher Kolonialtruppen in den 1890er Jahren in Afrika auf.[10] Unter den Nachfahren der Täter sind die deutschen Kolonialverbrechen weithin in Vergessenheit geraten, unter den Nachfahren der Opfer – in Afrika wie in China – freilich nicht.
[1] S. dazu Die „Hunnenrede“.
[2] Bernd Martin: Soldatische Radikalisierung und Massaker. Das deutsche Erste und Zweite Seebataillon im Einsatz im „Boxerkrieg“ in China 1900. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 69 (2010). S. 221-241.
[3] Mechthild Leutner: Die Belagerung der Gesandtschaften oder: Wie der Krieg begann. In: Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn (Hg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901. S. 102-110.
[4] Bernd Martin: Soldatische Radikalisierung und Massaker. Das deutsche Erste und Zweite Seebataillon im Einsatz im „Boxerkrieg“ in China 1900. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 69 (2010). S. 221-241.
[5] Vgl. die Schilderungen des Massakers bei: Bernd Martin: Soldatische Radikalisierung und Massaker. Das deutsche Erste und Zweite Seebataillon im Einsatz im „Boxerkrieg“ in China 1900. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 69 (2010). S. 221-241. Susanne Kuß: Deutsche Strafexpeditionen im Boxerkrieg. In: Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn (Hg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901. Berlin 2007. S. 135-146.
[6], [7], [8] Zitiert nach: Bernd Martin: Soldatische Radikalisierung und Massaker. Das deutsche Erste und Zweite Seebataillon im Einsatz im „Boxerkrieg“ in China 1900. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift 69 (2010). S. 221-241.
[9] Susanne Kuß: Deutsche Strafexpeditionen im Boxerkrieg. In: Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn (Hg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901. Berlin 2007. S. 135-146.
[10] S. dazu Auf dem Weg zum Vernichtungskrieg (I), Auf dem Weg zum Vernichtungskrieg (II) und Rezension: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika.