Berlin zieht Abbruch der Arbeiten an Nord Stream 2 in Betracht, drängt Paris zur Aufgabe einer eigenständigen Russlandpolitik.
Ungeachtet unvermindert fortbestehender Unklarheiten verstärkt die Bundesregierung im Fall der Vergiftung des russischen Politikers Alexej Nawalny den Druck auf Moskau. Nach wie vor liegt kein Beweis für den Vorwurf vor, russische Staatsstellen hätten – womöglich sogar im Auftrag von Präsident Wladimir Putin – Nawalny mit dem Nervengift Nowitschok umzubringen versucht. Die russische Regierung moniert, die zuständigen deutschen Behörden zögerten den Austausch zur Aufklärung benötigter Informationen hinaus. Dennoch verstärken transatlantisch festgelegte Politiker vor allem aus den Unionsparteien und von Bündnis 90/Die Grünen den Druck, den Bau der Erdgasleitung Nord Stream 2 abzubrechen. Dafür setzt sich auch die Trump-Administration mit Sanktionen ein, die kürzlich zum Eklat führten. Die Ukraine nimmt den „Fall Nawalny“ zum Anlass, ein dreimonatiges Öl- und Gasembargo gegen Russland zu fordern und die komplette Einstellung aller Investitionen in dem Land zu verlangen. Berlin nutzt ihn, um Frankreichs Bemühungen um eine eigenständige Russlandpolitik zu torpedieren.
Unklarheiten
Nach wie vor dominieren Unklarheiten die Vorwürfe deutscher Politiker gegen Russland in der Auseinandersetzung um die Vergiftung des russischen Politikers Alexej Nawalny. Das betrifft vor allem den Befund eines Bundeswehrlabors, Nawalny sei mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden; er wird explizit oder implizit mit der Behauptung verbunden, daraus lasse sich die Täterschaft russischer Staatsstellen, möglicherweise gar ein Auftrag von Präsident Wladimir Putin persönlich zwingend folgern. Tatsächlich ist der erste bekannte Mord mit Nowitschok 1995 im Rahmen eines Machtkampfs zwischen konkurrierenden Privatunternehmern begangen worden, als ein russischer Geschäftsmann einen Banker und dessen Sekretärin mit dem tödlichen Nervengift umbringen ließ.[1] Diese Feststellung ist auch wegen offensichtlicher Widersprüche in der Annahme, staatliche Stellen hätten Nowitschok gegen Nawalny eingesetzt, von Bedeutung; unklar ist zum Beispiel, warum die russische Regierung dann die Einwilligung zu Nawalnys Ausreise in die Bundesrepublik gegeben haben sollte – schließlich war mit einer Ermittlung des Giftstoffes zuverlässig zu rechnen. Auf diesen und andere Widersprüche hat beispielsweise der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki mit seiner Feststellung hingewiesen, es gebe „auch Kräfte in der russischen Administration, die teilweise ein Eigenleben führen“. Kubicki warnte deshalb bereits am Donnerstag vor voreiligen Schlüssen.[2]
Drohungen
Die Bundesregierung verstärkt dessen ungeachtet den Druck auf Moskau. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bereits am Mittwoch erklärt, es stellten sich „sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und muss“.[3] Außenminister Heiko Maas kündigte gestern an, wenn es „in den nächsten Tagen auf der russischen Seite keine Beiträge zur Aufklärung“ gebe, „werden wir mit unseren Partnern über eine Antwort beraten müssen“.[4] Die EU hatte schon zuvor Sanktionen in Erwägung gezogen; NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg äußerte, das westliche Kriegsbündnis betrachte „jeden Einsatz chemischer Waffen als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit“.[5] Berichterstatter weisen darauf hin, dass diese Formulierung, sofern sie „in Resolutionen des UN-Sicherheitsrats“ verwendet wird, „friedenserzwingende Maßnahmen“ erlaubt.[6] Mit Blick auf die zahlreichen Drohungen wiegt umso schwerer, dass Berlin, wie eine Sprecherin des russischen Außenministeriums berichtet, Moskaus Bemühungen um die Aufklärung der Vorwürfe torpediert. Demnach hat sich die russische Generalstaatsanwaltschaft schon am 27. August mit einem offiziellen Rechtshilfeersuchen an die Bundesregierung gewandt. Diese freilich hat das Ersuchen offenbar erst vergangenen Freitag (4. September) an die zuständige Berliner Landesjustizverwaltung weitergeleitet. Die Moskauer Außenamtssprecherin teilte entsprechend mit, man habe „keine Gewissheit, dass Deutschland kein doppeltes Spiel spielt“.
„Nord Stream 2 stoppen“
Ins Zentrum der Auseinandersetzungen rückt dabei einmal mehr die Erdgasleitung Nord Stream 2. Einseitig transatlantisch festgelegte Politiker dringen darauf, den Bau der Pipeline, die kurz vor der Fertigstellung steht, in letzter Sekunde abzubrechen. „Die europäische Entscheidung sollte sein: Nord Stream 2 stoppen“, erklärt Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags.[7] Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, erklärt, „der offenkundige Mordversuch durch die mafiösen Strukturen des Kreml“ müsse „echte Konsequenzen haben“: „Nord Stream 2 ist nichts mehr, was wir gemeinsam mit Russland vorantreiben können.“[8] Widerstand dagegen kommt vor allem aus Wirtschaftskreisen. Maßnahmen gegen Nord Stream 2 „würden in dieser Phase vor allem europäische Unternehmen treffen, die Aufträge ausführen oder erhebliche Finanzmittel für das Projekt und damit verbundene Anschlussleitungen in Ostdeutschland bereitgestellt haben“, warnt Oliver Hermes, Vorsitzender des Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft (OAOEV).[9] Tatsächlich drohen der deutschen Wirtschaft Milliardenverluste; zudem stünde das Bemühen insbesondere von Wintershall Dea in Frage, mit Hilfe eines intensiveren Zugriffs auf russische Erdgasquellen die Spitzenstellung unter den westeuropäischen Erdgaskonzernen zu erlangen: „Wir wollen europäischer Champion werden“, teilte Konzernchef Mario Mehren im vergangenen Jahr mit.[10] Dazu sei man freilich auf Zugang zu russischen Lagerstätten angewiesen.
„Ein dreimonatiges Komplettembargo“
Außenminister Maas hat gestern auch in Sachen Nord Stream 2 den Druck auf Russland erhöht. Maas warnte zwar noch, wer einen Abbruch der Arbeiten an Nord Stream 2 fordere, „muss sich der Konsequenzen bewusst sein“: „An Nordstream 2 sind mehr als 100 Unternehmen aus zwölf europäischen Ländern beteiligt, etwa die Hälfte davon aus Deutschland.“[11] Dennoch schloss der Außenminister einen Baustopp nicht mehr aus: Er „hoffe … nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nordstream 2 zu ändern“. Faktisch käme die Bundesregierung damit den US-Sanktionen gegen die Pipeline nach, die vor kurzem empörte Reaktionen in Deutschland ausgelöst haben (german-foreign-policy.com berichtete [12]). Gleichzeitig werden aus dem verbündeten Ausland noch deutlich weiter reichende Forderungen laut. So verlangt der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, ein dreimonatiges vollständiges Embargo gegenüber Erdöl- und Erdgaslieferungen aus Russland; das sei unumgänglich, behauptet Melnyk, „um dem Putin-Regime die wichtigste Einnahmequelle für seine aggressive Politik zu entziehen“. Zudem solle es einen Stopp sämtlicher Investitionen aus der EU in Russland geben.[13] Auf Letzteres hat Kiew keinerlei Einfluss, auf Ersteres schon: Ein erheblicher Teil der russischen Lieferungen wird zur Zeit über Pipelines durch die Ukraine abgewickelt. Die ukrainische Regierung könnte sie stoppen.
„Nationale Sonderpolitiken“
Jenseits des eskalierenden Konflikts um Nord Stream 2 sucht Berlin Nawalnys Vergiftung zu nutzen, um Paris zur Aufgabe seiner jüngsten Bemühungen um eine eigenständige Russlandpolitik zu nötigen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte am 19. August 2019 seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin in seiner Sommerresidenz Fort de Brégançon an der Côte d’Azur empfangen und anschließend für eine neue „Sicherheitsarchitektur“ plädiert, die „von Lissabon bis Wladiwostok“ reichen solle – ein Versuch, unter Anknüpfung an gaullistische Traditionen in der Außenpolitik wieder eine stärkere Eigenständigkeit gegenüber der deutschen Dominanz in der EU zu erlangen. Am 26. Juni 2020 erklärte Macron nach einer Videokonferenz mit Putin, er sei der Ansicht, „mit Russland bei einer gewissen Anzahl an Themen Fortschritte machen zu können“.[14] Überdies hatte er einen baldigen Besuch in Moskau geplant. Am Freitag hat Außenminister Maas nun seinen französischen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian zu einer gemeinsamen Erklärung veranlasst, in der mit Blick auf Nawalnys Vergiftung scharfe Kritik an Russland geübt wird.[15] In deutschen Berichten heißt es bereits, mittlerweile mehrten sich „im Elysée-Palast die Zweifel, ob angesichts der Nawalnyj-Affäre und der Lage in Weißrussland ein Besuch angebracht ist“.[16] Der Vorsitzende des Auswärtigen Bundestagsausschusses, Röttgen, erklärt, „nationale Sonderpolitiken, die auf Europa keine Rücksicht nehmen, passen nicht mehr in diese Zeit“; dies gelte insbesondere für „die Verhandlungen über eine neue strategische Partnerschaft, die der französische Präsident europäisch unabgestimmt mit Putin führt“.[17] Damit stellt Deutschland einmal mehr die außenpolitische Unabhängigkeit Frankreichs in Frage.
[1] S. dazu Auf dem Weg in den Weltkrieg.
[2] Streit über Sanktionen gegen Russland wegen Giftanschlags. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.09.2020.
[3] Merkel: Nawalnyj wurde Opfer eines Verbrechens. Frankfurter Allgemeine Zeitung 03.09.2020.
[4] Das ist ein schwerer Verstoß gegen internationales Recht. Außenminister Heiko Maas im Interview mit der Bild am Sonntag. www.auswaertiges-amt.de 06.09.2020.
[5], [6] Thomas Gutschker: Brüssel braucht Beweise. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.09.2020.
[7] „Wir sollten Nord Stream 2 stoppen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.09.2020.
[8] Grüne fordern Aus für Nord Stream 2. spiegel.de 02.09.2020.
[9] „Hintergründe umfassend aufklären“: oaoev.de 03.09.2020.
[10] Christian Schaudwet: Wintershall Dea setzt auf gute Verbindung nach Russland. tagesspiegel.de 02.05.2019. S. dazu Erdgasdrehscheibe Deutschland.
[11] Das ist ein schwerer Verstoß gegen internationales Recht. Außenminister Heiko Maas im Interview mit der Bild am Sonntag. www.auswaertiges-amt.de 06.09.2020.
[12] S. dazu Transatlantische Sanktionen.
[13] Maas fordert in den nächsten Tagen Antworten aus Russland. sueddeutsche.de 06.09.2020.
[14] Pourparlers avec Vladimir Poutine : Macron «confiant» des progrès dans les relations avec la Russie. atlantico.fr 28.06.2020. S. dazu Deutsch-französische Konflikte.
[15] Gemeinsame Mitteilung der Außenministerien Deutschlands und Frankreichs. auswaertiges-amt.de 04.09.2020.
[16] Michaela Wiegel: Gescheiterte Charme-Offensive. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.09.2020.
[17] „Wir sollten Nord Stream 2 stoppen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.09.2020.