Nach der Corona-Zwangspause soll es Schritt für Schritt wieder zurück in die alte Normalität gehen. Fragen an die Zeit nach Corona.
Einmal Ausnahmezustand und zurück
Was also ist es, was wir uns als normalen Alltag zurückwünschen? Das Widersprüchliche des momentanen Herbeisehnens des alten Alltags tritt schon begrifflich zutage. Der „graue Alltag“, dem wir gewöhnlich zu „entfliehen“ suchen, der bestimmt ist von Routine und einem Abspulen der immer gleichen Muster steht ja nicht gerade im allerbesten Leumund. Positiv gewendet ist es dann wohl das Vertraute und Selbstverständliche, was in den Coronazeiten zu kurz kommt und entsprechend herbeigewünscht wird, unser unhinterfragter Platz in der Welt, all das, was gewohnt ist und wie geschmiert läuft und nicht weiter problematisiert, erklärt und entschieden zu werden braucht.
Selbstredend stellt sich diese Frage nach der Normalität nicht für alle in gleicher Weise. Denn Normalität ist schwerlich mit objektiv messbaren Massstäben in den Griff zu bekommen, stets ist sie auch Ausdruck von Gefühlslagen und letztlich vielleicht sogar Ansichtssache. Als kleinsten gemeinsamen Nenner könnte man nun freilich Normalität schlicht als Kehrseite der Krise fassen. Und tatsächlich wird ja Normalität immer erst dann zum Thema, wenn sich die Dinge grundlegend ändern.
Aus dieser Sichtweise ergibt sich freilich sogleich eine weitere Frage: Wie viel Abweichung vom Gewohnten verträgt Normalität und ab wann beginnt der krisenhafte Ausnahmezustand? Während sich ansonsten das Umschlagen von erlebter Normalität in Krisenzustand wohl eher in individuellen Fällen bemerkbar macht, so erfahren wir in diesen Tagen einen kollektiven Verlust von „Normalität“. Wir erleben, wie urplötzlich ein Bruch unsere Lebenswelt durchzieht und im Handumdrehen das Fraglose fraglich und das Unproblematische problematisch erscheinen lässt. Wenn uns der die Husserlsche Lebenswelt kennzeichnende „selbstverständliche, unbefragte Boden alltäglichen Handelns und Denkens“ nun aber unter den Füssen weggezogen wird, dann verlieren Handeln und Denken ihre Orientierung.
Denn grundsätzlich vertraut der Mensch darauf, dass die vertraute Wirklichkeit weiter so bleiben wird, wie sie einem bislang begegnet ist und dass darum erfolgreiches Handeln wiederholbar ist. Mit dieser Idealität des „Und So Weiter“, wie Edmund Husserl die Annahme einer konstanten Weltstruktur innerhalb unserer Lebenswelt nennt, räumt nun allerdings das Virus grundlegend auf. Ein Bruch wie dieser bringt bewährte Erfahrungen und Handlungspraktiken ins Wanken und lässt fraglich erscheinen, ob ein schlichtes „Zurück auf Start“ plausibel ist. Ist der Ausnahmezustand ein blosser Übergangszustand oder hat dieser nicht vielmehr die Vorzeichen unseres Lebens nicht nur vorübergehend drastisch, sondern bleibend verändert?
Ist es also überhaupt möglich, jenen Zustand, wie er uns aus prä-Corona-Zeiten in Erinnerung ist, wieder zu erlangen? Immerhin leben wir bereits eine gute Weile mit dem Virus und dies unter recht „unnormalen“ Bedingungen. Das Leben der meisten Menschen hat sich radikal verändert. Bis hin zur globalen Ebene haben soziale und wirtschaftliche Beziehungen einen tiefgreifenden Wandel erfahren, wie er allenfalls mit Kriegszeiten Vergleiche findet. Ist dann nicht anzunehmen, dass jene Normalität, nach deren Rückkehr sich nun kollektiv gesehnt wird, zur Illusion geworden ist? Weil unsere Normen sich längst verschoben haben und die Realität unsere Vorstellung von dem, was „normal“ und alltäglich war, überholt hat?
Denn die Herausforderung, die SARS-CoV-2 brachte, ist nicht in die gesellschaftliche Normalität zu integrieren und daher auch mit der gesellschaftlichen Kontinuität nicht zu vereinbaren. Insofern der Umgang mit der Pandemie auf die Wahrnehmung derselben Einfluss hat, verbreiten sich entsprechende Praktiken und Einstellungen, die nun unter den neuen Bedingungen für angebracht gelten.
Erst einmal verinnerlicht, sind neue Normen dann nicht länger auf den Kontext des Ausnahmezustandes limitiert. Normalität ist also keineswegs etwas Naturgegebenes. Sie wird gesellschaftlich konstruiert, weswegen sich sogleich die Frage aufdrängt: Welche Normalität wollen wir eigentlich? Der Weg in die Zeit nach Corona führt also darüber, an einer neuen Normalität zu basteln, die mehr ist als ein Rückfall in alte Zeiten. Eine Normalität, die gute Ausgangsbedingungen schafft, um, gestärkt durch die Erfolge, die Krise überwunden zu haben, mit einem Gefühl dafür, was alles „geht“, und einer Gesellschaft, die sich ein Stück weit besser kennengelernt hat, die liegengebliebenen Probleme in Angriff zu nehmen.
Neue Normalität gesucht
Nochmals gefragt: Kann es also eine Rückkehr zur Normalität geben? Ja, schon, aber die neue Normalität wird eine andere sein als die alte. Zum Schlechten muss dies freilich nicht sein! Denn es wäre ja weitaus übertrieben, stellte man heute im Rückblick fest, dass alles zum Besten gestanden hätte vor Corona – nur weil die Pandemie die grossen Probleme dieser Welt aus den täglichen Nachrichten verdrängte. Waren da nicht eben noch die Massen von Jugendlichen, die für die Rettung des Klimas auf die Strasse gingen? Wurde uns nicht eben noch weisgemacht, dass Roboter uns die Arbeitsplätze wegnähmen und die Arbeitswelt sich radikal wandeln müsse?
Wer denkt noch an Kriege und ihre Flüchtlinge? Erinnern wir uns noch an die Manipulation der öffentlichen Meinung durch Fake News mit allen damit zusammenhängenden Gefährdungen für die Demokratie? Und ganz zu schweigen von Problemen im Gesundheitswesen, auf die Corona nun höchstselbst ein Schlaglicht warf, wie etwa eine mangelhafte Krankenhausfinanzierung und ein sich ausweitender Pflegenotstand, der nun in der Krise virulent wurde. Seien wir also ehrlich: Ist das Gewohnte tatsächlich immer auch das Gewünschte?
Weil sie Anlass zu neuen Weichenstellungen gaben, zogen Krisen immer schon über ihre jeweiligen unmittelbaren Folgen hinaus gesellschaftliche Umbrüche nach sich. Nicht anders als historische Seuchen – von der „Attischen Pest“ bis zur „Spanischen Grippe“ – wird auch Corona Auslöser gesellschaftlicher Strukturveränderungen sein. Wie aber gelingt es, diesen Prozess nicht einfach dem Zufall zu überlassen, sondern ihn aktiv zu gestalten? Wie gelangt man nicht bloss zurück zum Gewohnten, sondern zum Gewünschten?
Die erzwungene Langsamkeit während der Wochen des Lockdowns haben zu Verunsicherung und Unzufriedenheit und viele an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt. Menschen wurden aus ihren gewohnten Bahnen geworfen, Arbeit und Alltag gaben nicht mehr den Takt vor, die gewohnten Gemeinschaften gaben keinen Halt mehr. Aber gerade weil das Individuum in dieser Zeit der Beschränkung und Isolation auf sich selbst zurückgeworfen ist, eröffnen sich auch neue Freiräume, über die Welt nachzudenken. Die unser Leben bestimmende Steigerungslogik des „Höher – Weiter – Schneller – Mehr“ lässt ja üblicherweise keinen Raum für Vorstellungen vom guten Leben.
Derart eingespannt ist der moderne Mensch in die Zwänge und Notwendigkeiten des Alltags, dass es kein Rasten und keine Musse gibt. Doch nun, da das Hamsterrad plötzlich stillsteht, ein kollektives Runterkommen einen neuen Ton anschlägt, stellt sich die Frage, ob sich nicht auch einige Lehren ziehen lassen aus der Corona-Zeit. Weniger pendeln und mehr Zeit für Partner, Kinder und Musse, ein selbstbestimmter Tagesablauf, mehr Ruhe, weniger Verkehr – lässt sich nicht so manches auch in die post-Coronazeit hinüberretten, was unser Leben insgesamt reicher machen könnte? Denn neben all dem Frust und den Belastungen ist doch auch zu spüren, dass die der Pandemie geschuldeten Beschränkungen unseres Lebens an vielen Stellen auch freier machen, weil sie Optionen verringern, die ansonsten in Stress versetzen.
„Das Virus ist der radikalste Entschleuniger, den wir in den letzten 200 Jahren erlebt haben“, fasst der Soziologe Hartmut Rosa den Bruch zusammen, der eine Zeitenwende sein könnte: von der Ära der Beschleunigung und des Immer-Mehr zu einer neuen Ära der Entschleunigung und des Weniger. Der aristotelischen Idee vom guten Leben folgend, suchten wir unser Glück nicht länger im Ansammeln von Habseligkeiten und Erreichen materieller Reichtümer.
Das Streben nach Glückseligkeit bestimmte unsere Lebensführung. Und der Weg dorthin führt, wollen wir Aristoteles glauben, über ein bewusstes Handeln, das entfaltet, was der Mensch als Ziel schon in sich selbst trägt. Selbstverwirklichung, so würden wir heute sagen, wäre das Rezept für ein glückliches, gelungenes Leben. Ein Leben, das der aristotelischen Glückskonzeption folgt, durchbricht die Steigerungsspirale des Immer-Mehr, denn wer das gute Leben verwirklicht, meint der antike Philosoph, dessen Streben gelangt an ein Ende. Glückseligkeit genügt sich selbst.
Vor der Krise war auch schon Krise
Daher wäre zu fragen: Kamen wir nicht auch ganz gut zurecht ohne Shopping als Freizeitvergnügen? Ohne Konsum, der über das Nötige hinausgeht? Denn in der Zeit des Ausnahmezustandes war der Mensch ja nicht nur auf sich selbst zurückgeworfen, sondern auch auf die untersten Ebenen der Bedürfnispyramide: Im Angesicht der Gesundheitsgefährdung, zeitweise leergefegter Supermarktregale und eingeschränkter Sozialkontakte gewannen die Maslowschen Grund- und Sicherheitsbedürfnisse blitzartig eine hervorragende Bedeutung, wie ihnen in unserer Konsumgesellschaft ansonsten nicht zuteilwird.
Auch der Konsum pausierte: Internetshopping stellte sich in vielen Fällen doch nicht als zufriedenstellender Ersatz für das geschlossene Ladengeschäft heraus und demonstrativer Konsum verfehlte angesichts des stillstehenden Soziallebens ohnehin seine Zweckbestimmung. Schafft es die Coronakrise also, ein Schlaglicht auf unser Konsumverhalten zu werfen und etwas vom Minimalismus der vergangenen Tage zur neuen Normalität werden lassen? Wird Alternativen jenseits von Massenkonsum und Wachstumsdruck eine Chance eingeräumt oder werden sich die alten Reflexe durchsetzen, die nichts anderes kennen, als mit allerlei Kaufanreizen die Wirtschaft „anzukurbeln“ sowie Konsum zum Rettungsanker zu stilisieren und zum Dienst an der Gemeinschaft umzudeuten?
Die Krise hat eine Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft losgetreten und gezeigt, dass es auch in einer derart individualisierten Gesellschaft wie der unsrigen möglich ist, an einem Strang zu ziehen. Wie gelingt es über die Krisentage hinaus, zwischen Gemeinsinn und Eigensinn zu vermitteln? Das gute Leben war für Aristoteles keine Privatsache, sondern eine politische Angelegenheit. Weil Glück für den griechischen Philosophen nur in der Gemeinschaft zu erreichen ist, kann das Streben nach Glückseligkeit kein individuelles, „egoistisches“ Interesse sein.
Nun da das Schlimmste überwunden scheint und ein Wettlauf um Lockerung der einschränkenden Massnahmen entbrannte, steht zu befürchten, dass die Solidarität abebbt, dass die Durchsetzung partikularer Interessen in den Vordergrund tritt. Wie können wir in einer Zeit, in der Unmengen an Staatshilfen ausgeschüttet werden eine gesunde Balance zwischen Sozialstaatsidee und Eigenverantwortung halten? Vielleicht ist es Zeit, neuerlich Anlauf zu nehmen und der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens neuen Schwung zu verleihen? Immerhin könnte das Konzept nicht nur der Masse an Menschen, die Corona in existenzielle Krisen stürzte eine Perspektive bieten, sondern wäre auch eine passende Form der Grundsicherung für eine Gesellschaft, die es ernst meint mit dem entschleunigten, selbstbestimmten Leben.
Eine neue Form der Grundsicherung könnte auch der Diskussion rund um die Zukunft der Arbeit neue Impulse verleihen. Denn es sind nicht zuletzt Solo-Selbständige, die seit Jahren als Speerspitze einer neuen Arbeitswelt gelten, denen die Krise nun gewaltig zusetzt. Gerade solchen Arbeitenden aber würde ein bedingungsloses Grundeinkommen eine gänzlich neue Ausgangsposition bieten: mehr Sicherheit und gleichzeitig mehr Raum für Kreativität. Das kommt nicht nur dem Einzelnen zugute, sondern bedeutete für die Gesellschaft als Ganzes eine Investition in Erfindungsgeist und Innovationskraft.
Kinderbetreuung und Home Office
Corona schuf ein Experimentierfeld für neue Arbeitsformen. Seit Jahren wird über die Zukunft der Arbeit debattiert – quasi über Nacht sind die neuen Arbeitsformen für viele Wirklichkeit geworden – von Home Office über neue Formen der Onlinekollaboration bis zu flexiblen Arbeitszeiten. Ist es nun nicht an der Zeit, ernsthaft über die „Arbeit der Zukunft“ nachzudenken und das Thema von hippen Konferenzen in die praktische Wirklichkeit der Arbeitswelt zu führen? Was hat sich bewährt und was nicht? Vielleicht kommen wir ja zu dem Schluss, dass die Wahrheit irgendwo zwischen Stempeluhrmentalität und gesetzlichem Anspruch auf Home Office liegt? Dass Heimarbeit durchaus seine Reize und Vorteile hat, aber eben auch jede Menge Nachteile und Schwierigkeiten mit sich bringt.
Weil der Gang ins Büro für viele eine verlässliche Struktur bietet sowie ein soziales Umfeld, ohne das sich nur schwer leben lässt. Und vielleicht sehen wir ein, dass Kinderbetreuung und Home Office doch nicht so leicht unter einen Hut zu bringen sind und es eine Illusion bleiben muss, die Karriere von zu Hause aus zu machen. Vielleicht also bringt der eremitische Arbeitsalltag der Coronazeit einen Neustart, Arbeit neu zu denken? Und zwar braucht es Nachdenken nicht nur dahingehend, wie wir arbeiten möchten, sondern auch: Was verstehen wir denn überhaupt unter Arbeit?
Denn die Herausforderung der Kinderbetreuung hat ja das alte Problem der unbezahlten, zumeist an Frauen hängenbleibenden Care-Arbeit höchst akut werden lassen. Plötzlich wurde unsichtbare Arbeit höchst sichtbar und dies könnte der längst fällige Anlass sein, neu zu definieren, was wir unter Arbeit verstehen, wofür wir Anerkennung zollen und welche Tätigkeiten auf welche Weise entlohnt werden sollten.
Dass ein grosser Anteil der Arbeitenden in Heimarbeit tätig war, wirft auch ein neues Licht auf Digitalisierung und ihre Möglichkeiten. Welche neuen Formen und Mittel des Arbeitens werden – ist das Virus erst einmal Geschichte – den Krisenmodus überstehen und dauerhaft in Unternehmen Einzug halten? Wird die Krisenerfahrung Klarheit darüber verschaffen, welche Aktivitäten sinnhaft online vollbracht werden können und wann persönliche Interaktionen angebracht sind? Wir werden also lernen müssen, bei welchen Gelegenheiten Technologie wertvolle Dienste erweisen kann, indem soziale Netzwerke virtuell reproduziert werden und wann hingegen der persönliche Kontakt, das direkte Gespräch und das Auf-Tuchfühlung-Gehen mit Anderen nicht zu ersetzen sind. Der staatlich verordnete Lockdown hat enorme Energie freigesetzt, das soziale Leben im virtuellen Raum nachzubilden – von privaten infektionsfreien Treffen in Chaträumen über kulturelle Veranstaltungen im Cyberspace bis hin zu Seminaren auf Lernplattformen und dem digitalen Büroarbeitsplatz.
Zwar ist all dies immer schon selbstverständlicher Teil des Lebens einer wachsenden Gruppe von Menschen, nichtsdestotrotz ist der digital divide nach wie vor Realität. Gesellschaftliche Ungleichverteilungen rühren in der digitalen Gesellschaft nicht zuletzt von den gegebenen Unterschieden im Zugang zu und der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie her. Doch können die digitalen Infrastrukturen nur dann zur Stärkung von solidarischen Beziehungsgefügen beitragen, wenn sie nicht schon von vornherein durch eine übergrosse digitale Kluft exkludierend wirken.
Flugzeuge am Boden
Vielleicht auch, das ist zu hoffen, gibt das notgedrungene Experimentieren mit technologischen Mitteln der vergangenen Wochen Anlass zu einem nüchterneren, realistischeren Blick auf Technologie. Weil viele mit neuen technologischen Mitteln in Berührung kamen, wurden vielleicht Schwellenängste überkommen und wird das Neue weniger verteufelt. Gleichzeitig aber wird uns das Virus möglicherweise anders auf einen von Allmachtphantasien befeuerten technologischem Solutionismus blicken lassen, wie Evgeny Morozov jenes unbändige Vertrauen in die Lösungskräfte von Technologie für komplexe soziale Probleme nannte. Werden wir nicht vielmehr demütiger werden müssen angesichts eines winzig kleinen Virus, das die Welt aus den Angeln hebt?
Man muss nicht dem Narrativ von der zurückschlagenden Natur folgen, um zu dem Schluss zu kommen, dass es eben doch einiges gibt, das sich der Mensch nicht ganz so einfach untertan machen kann. Wenn die Coronakrise eines gebracht haben wird, dann sicherlich dies: Die Einsicht, dass es Geschehnisse gibt, die zu Einschnitten ins Gewohnte führen, die uns auf ganz neue Art herausfordern, weil sie uns die Kontrolle verlieren lassen und Spontaneität erfordern. Dass wir schlagartig Herausforderungen gegenüberstehen, für die es keine Versicherung gibt und auch keine App.
Doch ist dies kein Grund für Fatalismus: Denn die Krise zeigt auch, welch unvergleichliche Geschwindigkeit und Durchsetzungskraft im Politischen möglich ist. Dass Flugzeuge am Boden, Geschäfte geschlossen bleiben und die Regierung ins Privateste hineinregiert und dass Menschen sich all dem solidarisch fügen, dies war bis noch vor kurzem unvorstellbar. Heute wissen wir, welche Kraft der gemeinsame Wille entfalten kann, um ein höheres Gut zu verwirklichen.
Daher – so abgedroschen es auch klingen mag – was bliebe anderes zu tun, als die Krise als Chance zu begreifen? Es geht eben nicht darum, einfach nur so schnell wie möglich das Heft des Handelns zurück in die Hand zu bekommen, „die Verfügbarkeit krampfhaft wiederherzustellen“, wie Hartmut Rosa die gegenwärtigen – erwartbaren – gesellschaftlichen Versuche, mit der Krise fertigzuwerden beschreibt. Auch geht es nicht darum, bloss die verfügten Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie so weit zurückzudrehen bis der gewohnte Alltag wieder erlangt ist.
Bietet nicht vielmehr der momentane erzwungene Stillstand die Chance zu einem einmaligen Experiment: Die Zwangspause zu nutzen zu kollektivem Innehalten, um die gewohnten Handlungspraktiken und -logiken auf den Prüfstand zu heben, verkrustete Strukturen zu überdenken, Abschied zu nehmen von unheilvollem Gewohnten und planvoll gestalterisch eine neue wünschbare Zukunft, eine neue Normalität zu errichten? Wenn die Normalität dann eine bessere sein sollte als die alte, wäre es nicht zum Unglück der Menschen gewesen, dass wir alle einfach einmal ruhig in unseren Zimmern geblieben sind.