Im lokalen Dialekt werden sie vage als “Türken“ definiert, während man im Italienischen die gleichermaßen undeutliche Bezeichnung „clandestini“ (blinde Passagiere oder illegale Einwanderer) verwendet. So nennen die Lampedusaner die Personen, die von der tunesischen oder libyschen Küste aus übers Meer kommen. Die steigende Zahl der Anlandungen im letzten Monate hat die Insel erneut in den Fokus der Schlagzeilen gerückt. Wenn man allerdings an den touristischen Geschäften und Restaurants in der Hauptstraße „Via Roma“ vorbeigeht, kommt es einem so vor, als sei Lampedusa – bekannt für Notsituationen und Invasionen illegaler Einwanderer – eine andere, gleichnamige Insel.
Es sind diese zwei Welten, diese zwei Realitäten, die die Lampedusaner um jeden Preis trennen zu wollen scheinen. Auf der einen Seite die paradiesischen Strände, die Sonnenuntergänge über dem Meer, der frische Fisch – andererseits der Brennpunkt, die polemischen Diskussionen, die „Clandestini“.
„Sie bringen uns Corona“, ist eine der meistverbreitetsten Anschuldigungen, mit der die Einwohner der Insel die Migranten anklagen – ein Widerhall der Hasskampagnen vieler Politiker. Sie scheinen anderer Meinung zu sein als die zahllosen Touristen, die aus Norditalien, vor allem Bergamo, über tägliche Flüge ankommen. Für sie sind Maske und „social distancing“ lediglich eine weit zurückliegende Erinnerung.
Die Besorgnis um den Rückgang der Einnahmen im touristischen Sektor ist spürbar. Es gibt keinen Lampedusaner, der sich nicht über die mageren Saisons der letzten Jahre auslässt – trotz der überfüllten Strände und gut besuchten Restaurants. Einige machen die Anlandungen dafür verantwortlich, doch auch andere Geschichten werden erzählt – zum Beispiel von Carmela*, die im touristischen Sektor aktiv ist. Sie ist gebürtige Lampedusanerin und wuchs hier mit fünf Schwestern und sechs Brüdern auf, die jetzt über ganz Italien und die Welt verteilt leben.
„Die Ankunft verzweifelter Menschen in Lampedusa gab es schon immer und hat nie dem Tourismus geschadet. Die Probleme sind das Coronavirus und die Krise, mit der die Immigranten nichts zu tun haben.“
In vielen Fällen jedoch scheinen die Lampedusaner eine regelrechte Abneigung gegen die Tunesier zu hegen, die den größten Teil der Neuankömmlinge ausmachen. Dazu verbreiten sie jene Gerüchte und Volksmärchen, die die professionellen Hetzer in der letzten Zeit so bemüht zu finden waren – zu ausschließlich politischen Zwecken (die berühmten „Clandestini“, die Hunde essen…).
In letzter Zeit haben die ungünstigen Wetterbedingungen Abreisen verhindert und der überfüllte Hotspot ist nicht mehr ganz so überfüllt. Bis vor ein paar Tagen waren es mehr als 1.000 Menschen gegenüber 200 Plätzen und die Gäste campierten auf Schaumstoffmatratzen unter den Hotels – einer neben dem anderen, unter prekären hygienischen Bedingungen. Einer Person, die sich zum Hotspot begibt, ist es strengstens untersagt, mit den dort eingeschlossenen Menschen zu reden. Allerdings kann man auch zufällig jemanden treffen, der kurz Zigaretten holen gegangen ist oder eine WLAN-Verbindung sucht, um seiner Familie mitzuteilen, dass er gesund in Italien angekommen ist. Mancher schaut sie schief an, aber wenn man sich die Zeit nimmt, ihre Geschichten anzuhören, so ähneln sie den bereits gehörten Geschichten, die seit Anbeginn der Zeit die gleichen geblieben sind, und die von der Suche nach einer besseren Zukunft handeln.
Wir haben Ahmed und Lamin getroffen, die aus dem gleichen Dorf in Gambia stammen – sie haben es nach acht Jahren Migration durch verschiedene afrikanische Länder nach Italien geschafft. So wie Mohamed, ein begeisterter Breakdancer, der mit einer kleinen tragbaren Lautsprecherbox im Rucksack aus Tunesien gekommen ist – er träumt davon, nach Belgien oder Deutschland zu gehen. Oder auch Khaled, der sein Psychologiestudium abgebrochen hat, um dem Bürgerkrieg in Libyen zu entkommen und aufgrund einer Beinverletzung ein wenig hinkt.
Zwei Welten, strikt in ihre Bereiche getrennt, so scheint es. Und doch löst eine Welt manchmal einen Sturm in der anderen aus: So badet man im kristallklaren Wasser der Isola dei Conigli und erkennt von Weitem das Kreuzfahrtschiff GNV Azzurra – beziehungsweise das Quarantäneschiff, das hunderte Besucher des Hotspots geladen hat und sich zur Insel wie eine Art lästiger Satellit verhält.
Am Donnerstag, dem 7. August, wurden weitere 350 Migranten auf das Schiff gebracht, um die Quarantäne auf dem Meer vor der Bucht Cala Pisana zu verbringen, wenige Meter entfernt von den meistbesuchten Stränden.
Während 700 Personen auf den Gewässern um Lampedusa treiben und eine ungewisse Zukunft erwarten, haben uns Ahmed und Lamin aufgeregt aus Sizilien geschrieben, wo sie ihre Quarantäne verbringen werden. Für die zwei gambischen Freunde hat der Weg zur Verwirklichung ihrer Träume gerade begonnen.
*Einige Namen wurden geändert
Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Chiara Pohl vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!