Hört das nie auf? Europa gedenkt der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Die Lebenden werden diskriminiert und – wie aktuell in Berlin geschehen – deportiert.
Heute, am 2. August, ist der Europäische Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. Aus diesem Anlass hat der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma zu einer virtuellen Gedenkveranstaltung ins Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau eingeladen. 500.000 europäische Sinti und Roma wurden damals umgebracht. In der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 „wurden die im Lagerabschnitt B II e des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau verbliebenen 2.900 Sinti und Roma auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes ermordet.“ In den Gaskammern starben „überwiegend Kinder, deren Mütter und alte Menschen“.
In einer Sendung zum Gedenktag weist der Zentralratsvorsitzende Romani Rose am 1. August 2020 im WDR darauf hin, dass der nationalsozialistische Völkermord an Sinti und Roma von der bundesdeutschen Regierung erst im März 1982 anerkannt wurde, nachdem zwei Jahre zuvor am Karfreitag 12 Sinti in einer Kirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte in Dachau in einen Hungerstreik getreten waren.
Die Diskriminierung der Sinti und Roma hat eine lange Geschichte. Als Roma (oder Rom*nja) werden diejenigen bezeichnet, „die seit dem Mittelalter in Ost- und Südosteuropa“ leben, als Sinti (oder Sinti*zze) diejenigen, „die seit Beginn des 15. Jahrhunderts in Deutschland und den Nachbarländern“ leben. Unter dem Titel „Rassendiagnose: Zigeuner“ informiert eine Online-Ausstellung über den „Völkermord an den Sinti und Roma“ und ihren langen „Kampf um Anerkennung“.
In allen Lebensbereichen diskriminiert
Bis heute werden Sinti und Roma diskriminiert. Eine im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014 veröffentlichte Studie „Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung – Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma“ fand heraus, dass für jede*n dritte*n Deutsche*n „Sinti und Roma als Nachbarn sehr oder eher unangenehm“ wären.
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Monitoringberichte „zur Gleichbehandlung von Sinti und Roma und zur Bekämpfung von Antiziganismus in Deutschland“, die in Zusammenarbeit mit dem Zentralrat 2019 und 2020 erstellt wurden, kommen zu dem Ergebnis, dass Sinti und Roma „übermäßig von Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen“ sind und am Wohnungsmarkt „häufig Opfer von Ausbeutung“ werden, in improvisierten Behausungen leben müssen oder obdachlos werden. Insbesondere diejenigen ohne deutschen Paß haben oft keinen Zugang zum Gesundheitssystem, ihre Kinder werden in der Schule benachteiligt (2019). Das Antidiskriminierungsgesetz gilt weder für öffentliche Schulen noch für Ämter und Behörden. „Auch die öffentliche Verwaltung und die Sozialdienste sind von antiziganistischen Einstellungen und Handlungen nicht ausgenommen. Sinti und Roma werden oftmals in der öffentlichen Verwaltung diskriminiert.“ (2020)
Zum diesjährigen Europäischen Gedenktag haben die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, die Vizepräsidentin für Werte und Transparenz, Věra Jourová, und die für Gleichheitspolitik zuständige Kommissarin Helena Dalli am 31. Juli eine Erklärung abgegeben. Darin betonen sie: „Europa steht in der Pflicht, die hier lebenden Minderheiten vor Rassismus und Diskriminierung zu schützen“. Sie fordern „alle Mitgliedstaaten auf, sich der Zusage anzuschließen, Rassismus und Diskriminierung ein Ende zu setzen, von denen die großen ethnischen Roma-Minderheiten extrem betroffen sind“. Schöne Worte, doch wie sieht die Realität aus?
Nächtliche Abschiebungen brechen Gesetz und Koalitionsvertrag
In Berlin wurden am 15. Juli 2020 bis zu 200 Menschen nachts um 3 Uhr von der Polizei aus den Betten geholt, um sie in die Republik Moldau (Moldawien) abzuschieben. Darüber informierte der Flüchtlingsrat Berlin am 30. Juli, ebenso wie darüber, dass es sich bei den Abgeschobenen überwiegend um „Angehörige der unter massiver Diskriminierung und Ausgrenzung in allen gesellschaftlichen Bereichen leidenden Roma-Minderheit“ handelt. Trotz der Bedrohung durch Corona haben sie in der Republik Moldau keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Es seien zahlreiche Familien mit kleinen Kindern abgeschoben worden, sowie eine Frau, die „sich zum Zeitpunkt der Abschiebung wegen einer Krebserkrankung in einer noch nicht abgeschlossenen Chemotherapie“ befand. Die Polizei habe sie abgeschoben, obwohl sie „im Rahmen der Krebsbehandlung einen künstlichen Darmausgang bekommen hatte“ und einen „gut sichtbare Stomabeutel am Bauch“ trug. Es sei „völlig unklar, wie die Frau in Moldawien weiter behandelt werden kann, und wie sie dort an Stomabeutel kommen kann. Zudem gehört sie wegen der Chemotherapie zu den durch Corona besonders gefährdeten Risikopersonen.“ Das Auswärtige Amt warnt ausdrücklich vor Reisen nach Moldawien und erklärt: „Für Touristen besteht weiter ein Einreiseverbot in die Republik Moldau.“
Am 31. Juli informierte der Berliner Flüchtlingsrat, dass am 30. Juli eine weitere nächtliche Abschiebung in die Republik Moldau stattgefunden haben. Er weist darauf hin, dass er immer wieder „Berichte über Willkür, Gewalt und Rechtswidrigkeit bei Abschiebungen aus Berlin“ erhielte. „Regelmäßig werden Erwachsene und Kinder zur Abschiebung mitten in der Nacht aus ihren Betten geholt, obwohl § 58 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz das verbietet“.
Dort steht eindeutig: „Zur Nachtzeit darf die Wohnung nur betreten oder durchsucht werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung andernfalls vereitelt wird.“ Laut Flüchtlingsrat wurden bei den nächtlichen Abschiebungen auch Familien getrennt. Einige der Abgeschobenen hätten sich bereits freiwillig zur Ausreise bereit erklärt.
Diese Abschiebungen widersprechen ganz klar dem Koalitionsvertrag von 2016, denn SPD, Linke und Grüne hatten damals vereinbart: „Bezogen auf die Beendigung des Aufenthaltes will die Koalition einen Paradigmenwechsel. An die Stelle einer reinen Abschiebepolitik soll die Förderung einer unterstützten Rückkehr treten. Dafür wird die Koalition bestehende Programme mehr als bisher nutzen und bei Bedarf durch ein Landesprogramm verstärken. Direktabschiebungen aus Schulen, Jugendeinrichtungen und Krankenhäusern sowie die Trennung von Familien bei Abschiebungen und Rückführungen in Regionen, in die Rückführungen aus humanitären Gründen nicht tragbar sind, wird es nicht mehr geben.“
Der Flüchtlingsrat fordert den Berliner Senat auf, „auf Abschiebungen in Coronarisikogebiete generell zu verzichten. Erst recht ist auf Abschiebungen von Kindern, Kranken, Behinderten und weiteren gesundheitlich besonders gefährdeten Risikogruppen zu verzichten.“ Innensenator Andreas Geisel fordert er auf, „das rechtswidrige nächtliche Eindringen der Berliner Polizei in Wohnungen und Unterkünfte zu unterbinden.“
Mit zweierlei Maß
Vielen politisch Verantwortlichen scheint es leichter zu fallen, der Toten zu gedenken, statt sich um die Lebenden zu kümmern. Zu Recht betont der Flüchtlingsrat: „Die Massenabschiebungen von Roma aus Berlin nach Moldawien und auf den Westbalkan verbieten sich auch vor dem Hintergrund der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands.“
In diesen Tagen kommen einige Familien aus den Elendslagern auf den griechischen Inseln nach Deutschland, einige von ihnen auch nach Berlin. Diese zögerliche Aufnahme ist angesichts der Zustände in den Lagern wie Moria auf Lesbos eine Schande. Die Berliner Landesregierung wollte darüber hinaus immerhin weitere 300 besonders schutzbedürftige Menschen über ein eigenes Landesprogramm aufnehmen. Innenminister Seehofer hat das mit rechtlich fragwürdiger Begründung verboten. „Die Innenverwaltung betonte währenddessen, dass Berlin weiterhin bereit sei, zusätzlich Flüchtlinge aus den Lagern aufzunehmen“ (taz, 30. 07.2020)
Für Georg Classen, den Sprecher des Flüchtlingsrates Berlin, ist das wenig überzeugend: „Wenn der Berliner Senat sich zu Recht darüber echauffiert, besonders schutzbedürftige Flüchtlinge (Kranke, Behinderte, Alte, Familien mit Kindern usw.) aus Griechenland nicht aufnehmen zu dürfen, aber zeitgleich hunderte besonders schutzbedürftige Angehörige der Roma-Minderheit ins Corona-Risikogebiet Moldawien abschiebt, dann scheint die Empörung über die Ablehnung des Landesaufnahmeprograms nur Heuchelei auf dem Rücken der Geflüchteten.“
Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.
Dieser Beitrag von Elisabeth Voss erschien auf ihrem Blog und in der Freitag Community