Mit dem Wahlspruch „Wir werden keine Opfer sein!“ demonstrierten letzte Woche mehrere tausend Frauen in Warschau gegen den Plan der polnischen Regierung, die „Istanbul-Konvention“ aufzukündigen, ein internationales Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Frauen und Menschen aus der LGBTQI-Community sind in dem Land zunehmend Anfeindungen und tätlichen Angriffen ausgesetzt, die Europäische Union reagiert mit dem Zurückhalten von Fördergeldern.
Der polnische Justizminister und Generalstaatsanwalt, Zbigniew Ziobro, erklärte jüngst, aus der sogenannten „Istanbul-Konvention“ austreten zu wollen, wie die Zeit berichtet. Dabei handelt es sich um einen 2011 vom Europarat – der kein Organ der Europäischen Union ist – verabschiedeten Gesetzesvorschlag, der Gewalt gegen Frauen, insbesondere im häuslichen Umfeld, eindeutig als Verbrechen definiert. Weiterhin verpflichten sich die unterzeichnenden Staaten, „einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu leisten und eine echte Gleichstellung von Frauen und Männern, auch durch die Stärkung der Rechte der Frauen, zu fördern“.
Das geht Ziobro allerdings zu weit: Der Vertrag sei eine „feministische Schöpfung zur Rechtfertigung homosexueller Ideologie“. Er bedient damit die gleiche weltfremde Kausalkette, die der kürzlich wiedergewählte polnische Staatspräsident Andrzej Duda und die regierende Partei PiS bereits seit Jahren vereinnahmen: Frauenrechte führten zu einer Auflösung der tradierten Geschlechterrollen, fehlende Geschlechterrollen verunsicherten Kinder, verunsicherte Kinder seien leichter mit dieser vielbeschworenen homosexuellen Ideologie zu beeinflussen. Doch auch hier gilt, wie so häufig bei Beschwörungen: Alles Hokuspokus. Hasserfüllter rhetorischer Hokuspokus in diesem Fall.
Die polnische Regierung scheint das Abkommen absichtlich missverstehen zu wollen. Sie bezieht sich auf die in Kapitel 1, Artikel 3, Abschnitt c genannte Definition des Begriffs „Geschlecht“, im Rahmen der Konvention als „die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht“ festgelegt.
Duda, Ziobro und dem polnischen Klerus zufolge sei das der Versuch, das biologische durch ein soziologisches Geschlechtsverständnis zu ersetzen – was entweder von fehlendem Textverständnis zeugt oder aber von perfider politischer Instrumentalisierung.
Es gibt in jedem spezifischen Kulturkosmos eine Normierung dessen, was opportun für „Frauen“ und für „Männer“ ist. Dabei wird die Zuordnung in eine dieser Kategorien nicht vom Individuum vorgenommen, sondern von der Gesellschaft. Menschen, die diese Zuordnung dann infrage stellen, werden unter Umständen mit Gewalt konfrontiert.
Wenn Frauen Gewalt erfahren, weil sie Ehemännern oder Partnern widersprechen, wenn Transfrauen Gewalt erfahren, weil sie öffentlich als Frau auftreten, dann spielen einzig und allein Verhaltensweisen und Geschlechtsidentitäten eine Rolle. Bei einem Übergriff denkt niemand über Chromosomen oder Gonaden nach. Das biologische Geschlecht von Opfern ist im Kontext der Aufarbeitung und Prävention irrelevant.
Die Konvention transportiert somit also keineswegs irgendwelche Ideologien, sondern nutzt schlicht die Definition des Begriffs „Frau“, die notwendig ist, um Gewalt gegen Frauen auszumerzen. Und Transfrauen sind Frauen, auch wenn das den Horizont gewisser konservativ-klerikaler Akteure sprengen mag. Die Abwicklung der „Istanbul-Konvention“ wäre „ein großer Schritt zurück für den Schutz von Frauen vor Gewalt in Europa“, so Marija Pejcinovic Buric, Generalsekretärin des Europarats.
Dass Polen eines der ungemütlichsten Länder in der EU speziell für die GSD-Community („geschlechtlich und sexuell divers“) ist, zeigte im Juni eine Umfrage der Agency For Fundamental Rights (der hpd berichtete). Zahlreiche polnische Städte und Landkreise haben „LGBT-freie Zonen“ eingerichtet, die mittlerweile ein Drittel des Landes umfassen. Sechs polnischen Städten, die im Rahmen eines Partnerstädteprogramms Zuschüsse zwischen 5.000 und 25.000 Euro hätten erhalten sollen, wurde die Förderung aufgrund der Einrichtung solcher Zonen verwehrt, schreibt die New York Times.
Die Gelder des Programms seien „allen europäischen Bürger*innen, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Religion, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung“ zugänglich zu machen, so die Begründung. „Die Werte und Grundrechte der Europäischen Union müssen von den Mitgliedsstaaten respektiert werden“, sagte Helena Dalli, Gleichstellungsbeauftragte der EU.
Es ist nicht das erste Mal in der jüngsten Zeit, dass die polnische Regierung und die Europäische Union aneinandergeraten. Aufgrund einer umstrittenen Justizreform läuft aktuell ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen das Land. Wenn Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die „Istanbul-Konvention“ also dem Verfassungsgericht überantwortet, dann heißt das: Man guckt selbst mal drüber.