Als Präsident Piñera ein neues wirtschaftliches Unterstützungspaket ankündigte, das vor allem den Mittelstand begünstigt, entlarvte die Bevölkerung die politische Absicht dahinter in den sozialen Medien: Die Regierung wollte den Gesetzesentwurf verhindern, der sich am folgenden Tag in der Abgeordnetenkammer klären sollte. Es stand zur Abstimmung, ob 10% aus den privaten Pensionsfonds (AFPs) vorzeitig ausgezahlt werden oder nicht.
Der besagte Gesetzesvorschlag würde vielen Menschen die Möglichkeit bieten, weiterzuleben, ohne sich zu verschulden. Das Vorhaben wurde zum Sinnbild der sozialen Kämpfe, bei denen sich Menschen seit Jahren unter der Devise „NO+AFP“ vereinigen.
„Das Land wird nie vergessen, dass der Präsident Sebastian Piñera in dem Moment, in welchem man die chilenische Regierung stärker gebraucht hat als je zuvor, lieber die Eigentümer des AFPs weiter verteidigte anstatt den Millionen Chilenen und Chileninnen zuzustimmen, die sich landesweit in tiefster Armut, Arbeitslosigkeit und Hilfslosigkeit befinden. Nie werden wir es vergessen. Denn es macht sich bemerkbar, wenn ein Land erwacht. Und das Land ist bereits erwacht. Deswegen werden wir diese konstitutionelle Reform unterstützen“, postet Tomás Hirsch auf seiner Facebookseite, womit sich der Abgeordnete der Humanistischen Partei klar positioniert.
Auch wenn es der passende Moment dafür wäre, ist es nicht so, dass die Existenz der „Administradoras de los Fondos de Pensiones“ allgemein zur Debatte steht. Zumindest würde die 10%-Auszahlung aus den Ersparnissen einen Fortschritt bedeuten und die Hoffnung wecken, das System – irgendwann einmal – hinter sich lassen zu können.
„Die Bevölkerung muss morgen eine seiner wichtigsten Rollen in der Demokratie ausüben: Kontrollieren, wie ihre Abgeordneten abstimmen.“, twitterte Luis Mesina, Stimme der „Coordinadora Nacional NO+AFP“.
So kam es wegen der Verabschiedung des Gesetzesentwurfes am folgenden Tag in dieser Nacht zu Aufläufen in ganz Chile und in Valparaíso wurden darauf anspielende Botschaften auf Gebäude projiziert.
Ist dies ein zweites Kapitel der „sozialen Explosion“ im Oktober 2019? Entsprechen diese Demonstrationen dem, was beispielsweise das Überspringen der U-Bahn-Drehkreuze gewesen ist? Im Hinblick auf die jüngste Vergangenheit des „sozialen Erwachens“, sowie die massiven Ungerechtigkeiten und Probleme, die auch während des coronabedingten Lockdowns deutlich wurden, ist in Chile alles möglich.
Während wir diese Zeilen beenden, hören wir, wie sich die Proteste fortsetzen. Ein Zeichen dafür, dass sich etwas sehr Wichtiges wieder manifestiert.
Übersetzung aus dem Spanischen von Chiara Pohl vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!