Janice Ferreira ist unter ihrem Spitznamen Preta bekannt. Sie war 108 Tage im Gefängnis von Santana in São Paulo eingesperrt, weil ihr vorgeworfen wurde, Geld bei Landbesetzungen erpresst zu haben. Die Anführerin des MSTC ist stolz darauf, eine Schwarze Frau und soziale Aktivistin mit Universitätsabschluss zu sein.
Mit ihren 35 Jahren hat sie bereits einige Brüche in ihrem Leben zu verzeichnen, das von einen ständigen Kampf gegen Ungerechtigkeit geprägt ist. Das hat sie von ihrer Familie geerbt. Ihre Mutter Carmen ist ebenfalls Ansprechpartnerin für wohnungslose Menschen, die auf der Straße leben oder zwischen einer unbezahlbaren Miete und dem latenten Risiko einer Räumung pendeln. Auch Pretas Mutter befand sich in Haft, wurde jedoch freigesprochen.
In São Paulo sprach sie mit der Zeitung Página 12 über die aktuellen Ereignisse in ihrem Land, die Regierung von Jair Bolsonaro, die ethnische Diskriminierung und die Auswirkungen der Pandemie auf die Gemeinden der Indigenen und Quilombolas.
Wie sieht ihr Aktivismus in der Obdachlosenbewegung Movimiento sin Techo aus?
Ich bin Aktivistin im Kampf für die moradia (Unterkunft) und beim MSTC. Ich habe eine Marketing-Ausbildung und arbeite im Kulturbereich mit Musik, Kino und Kunst. Ich bin Sängerin, Schauspielerin und jetzt auch Schriftstellerin. Ich habe gerade ein Buch fertig gestellt, das noch in diesem Jahr erscheinen soll und „Mein Fleisch – Tagebuch eines Gefängnisses“ (Mi carne, diario de una prisión) heißt. Für mich ist das ganz normal; ich wurde damit erzogen, zu tun was mir gefällt.
Seit wann sind Sie bereits Aktivistin?
Ich bin aktiv, seit ich 14 bin. Jetzt bin ich 35 und gehöre der Obdachlosenbewegung an. Ich war nie Teil der Gesellschaft, deshalb wurde ich Aktivistin; auch, damit andere Menschen nicht dasselbe erleben, was ich durchgemacht habe. Mir wurde das Recht auf Wohnraum verweigert und jetzt bin ich eine Schwarze, die für die Grundrechte kämpft. Denn hier in Brasilien befinden wir uns am selben Punkt wie 1964, als der Militärputsch stattfand.
Ist ihre Bewegung sozial und politisch breit aufgestellt oder auf einen Aufgabenbereich spezialisiert?
Es ist eine breite Bewegung, die sich um die Menschen kümmert, die ein Dach über dem Kopf brauchen, unabhängig von ihren sozialen Bedingungen oder ihrem Glauben. Es ist eine vielfältige Bewegung, die für die von der Verfassung garantierten Rechte kämpft. Es geht uns nicht nur darum, Wohnraum zu beschaffen; es geht uns auch um Gesundheit, Bildung und Rechtsfragen für die Mitglieder des MSTC.
In Brasilien waren 2018 laut einer Studie fast sieben Millionen Familien obdachlos; gleichzeitig standen sechs Millionen Gebäude leer. Wie viele Menschen sind Ihres Wissens nach in São Paulo oder ganz Brasilien obdachlos?
Wie viele Menschen hier in São Paulo obdachlos sind, weiß ich nicht, aber ihre Zahl nimmt zu. Es gibt 86.000 Brachflächen, aber noch mehr Menschen auf der Straße. Es fehlt der politische Wille, um das Problem mit dem Wohnraum zu lösen. Auch die Immobilienspekulation wird nicht angegangen. Wenn du kein Geld hast, um die Miete zu bezahlen, wirst du rausgeschmissen. Die Immobilienspekulation ist ein weltweites Problem, nicht nur hier in São Paulo. Das Recht auf Wohnraum sollte ein weltweites Recht sein. Viele Menschen sind ohne Wohnraum, weil alles durch die Immobilienspekulation aufgekauft wird.
Identifizieren Sie sich mit der Besetzer*innenbewegung, die Mitte der 1980er Jahre entstanden ist?
Ich habe von dieser Bewegung gehört, aber wir besetzen brachliegende Flächen, die seit über 20 Jahren komplett unbewohnt und nutzlos waren. Die sozialen Bewegungen wollen für den Wohnraum zahlen, aber es ist wichtig zu erwähnen, dass es keine funktionierenden öffentlichen Maßnahmen gibt, damit die Leute den Wohnraum zu einem fairen Preis bekommen. Wir wollen, dass die Leute ein paar Jahre Zeit bekommen, um zu bezahlen, aber anscheinend ist es nicht lukrativ genug, diese Flächen den ärmeren Menschen für wenig Miete zur Verfügung zu stellen; denn es gibt große Unternehmen, die die Flächen kaufen wollen, um dort luxuriöse oder auch winzige Apartments zu errichten, um sie zu einem Preis zu verkaufen, den sich ein Geringverdiener nicht leisten kann. Deshalb sieht sich unsere Bewegung verpflichtet, diese Immobilienspekulation anzuzeigen und deshalb werden wir kriminalisiert. So wurde ich 2019 für 108 Tage eingesperrt, ohne irgendeine Straftat begangen zu haben.
Hat die Schwarze Bevölkerung Brasiliens mehr Schwierigkeiten als die Weißen oder Mestiz*innen?
Wenn es um Wohnraum geht, spielt die Hautfarbe natürlich eine Rolle. Das ist seit der Sklaverei so und den Staat interessiert es nicht, ob eine Schwarze Frau studiert oder ein Diplom hat, denn das Recht auf Wohnraum wird verweigert, das zeigen auch die Statistiken. Auch mir ist das schon passiert. Der Rassismus in diesem Land ist wie ein Krebsgeschwür.
Wie hat sich die Arbeit von Bewegungen wie dem MSTC unter der Regierung von Bolsonaro verändert?
Diese Regierung ist diktatorisch, totalitär, faschistisch, rassistisch, machistisch. Eine Regierung, die ausschließt und nur für eine organisierte Clique regiert. Der Präsident fühlt sich für die Indigenen und Quilombolas nicht zuständig. Er ist nicht der Präsident der Republik, denn ein Präsident sollte für alle regieren, für die ganze Republik. Bolsonaro regiert für die Reichen, denen geht es gut. Sein Sohn ist in den Mord an Marielle Franco verwickelt. Bolsonaro und der Gouverneur von São Paulo, Joao Doria, haben die Bundespolizei geschickt, um uns festzunehmen. Und jetzt, wo wir mit der Pandemie leben müssen, verweigert der Präsident einem Teil der Bevölkerung ihre Rechte. Ein Präsident, der ein Veto einlegt, damit die Indigenen und Quilombolas keine medizinische Betreuung während einer globalen Pandemie bekommen, ist ein Mörder.
Wie haben Sie die Ereignisse in den USA mit dem Mord an George Floyd und die Reaktion in der Bevölkerung verfolgt?
Ich denke, dass wir in Brasilien unsere Kämpfe wertschätzen sollten, denn hier stirbt alle 23 Minuten ein George Floyd. Alle 23 Minuten wird ein junger Schwarzer ermordet.
Von Gustavo Veiga Erstveröffentlicht bei Página/12.