„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, heißt es im ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes. Nach Kant bedeutet das, dass jeder Mensch einen Wert hat. Den Chilenen ist scheinbar dieser Wert abhandengekommen.
Es stellt sich die Frage, ob man durch das Ausrufen eines Volksaufstandes die Würde wiedererlangen kann. In Santiago wurde die „Plaza Italia“, ein Knotenpunkt im Zentrum der Hauptstadt, von der Protestbewegung in „Plaza de la Dignidad (Platz der Würde)“ umgetauft. Hier wollen sie demonstrieren und kämpfen, ‚*bis Würde zur Selbstverständlichkeit wird‘, so ihr Leitspruch.
Chile das Vorzeigeland in Südamerika?
Chile wurde nach der Abdankung des Diktators Pinochets zu einem florierenden Land, beispielhaft für ganz Südamerika. Es galt politisch und wirtschaftlich als stabil, den Chilenen ging es wesentlich besser als dem Rest Lateinamerikas. So schien es jedenfalls. Ein kurzer Blick in die geschichtliche Entwicklung erklärt, warum das Bild von einem krisensicheren Chile, indem es allen gut ging, so nicht stimmte.
Die Verfassung Chiles stammt noch aus der Zeit von Pinochet. Die nachfolgenden Regierungen haben es nicht geschafft, gegen den Widerstand der alten Militärgarde an den Machtstrukturen irgendetwas zu ändern. Die mächtige Rechte behielt ihre Privilegien.
Das Militärregime zu Zeiten General Pinochets hatte, quasi als Gegenbewegung zu den Enteignungen der linken Vorgänger-Regierung Salvador Allendes, die Privatisierung aller Güter vorangetrieben, das Land unter sich aufgeteilt, Konzessionen an ausländische Investoren regelrecht verschenkt und dabei große Reichtümer angehäuft. Alle öffentlichen Aufgaben wie Bildung, Gesundheit, öffentlicher Nahverkehr, Straßenbau, unter vielem anderem mehr, wurden privatisiert. Die Wasservorkommen, die Bodenschätzen, die Fischereirechte, einfach alles, wurde verkauft. Die Einnahmen kamen nicht dem Volk zugute, sondern einigen Wenigen an den Hebeln der Macht. Meist jedoch haben sich Minister und Abgeordnete alles unter den Nagel gerissen. So besitzt der amtierende Landwirtschaftsminister Antonio Walker einen großen Teil der Wasserrechte Chiles und der Präsident Sebastián Piñera ist einer der reichsten Männer Südamerikas. Die Schere zwischen Arm und Reich ist maximal auseinandergespreizt.
Am 18. Oktober 2019 bricht dann plötzlich eine heftige soziale Unruhe aus, weil das U-Bahn-Ticket 30 Pesos (= 0,032 Euro) teurer wurde. Schüler und Studenten wehrten sich gegen die Teuerung und bald gegen das gesamte repressive System und gingen auf die Barrikaden. Angesichts der massiven Gewalt und dem großen Zerstörungspotential gibt dieser Aufstand zu denken.
„Chile wach auf!“
Unter dem Deckmantel des prosperierenden Chiles, welches nur die Realität der Oberschicht widerspiegelte, verarmten die unteren Bevölkerungsschichten zusehends. Das Lohnniveau erreichte einen Tiefststand. Bildung war teuer, Schule und Universität konnten sich nur noch wenige leisten, damit begann für viele der Rückschritt in die Verarmung. Das Gesundheitswesen wurde unbezahlbar, wer kein Geld hatte, wurde abgewiesen. Und dann kam die Verteuerung eines U-Bahntickets, was das Fass zum Überlaufen brachte. Es waren eben nicht nur die paar Pesos, sondern für die Pendler, und in Santiago pendeln fast alle, waren es zwei Mal täglich, also zehn Mal wöchentlich die paar Pesos. Das ging ins Geld, welches nicht da war. Dabei wollte man doch nur zur Schule fahren, seiner Arbeit nachgehen, seine Kinder in die Schule schicken und ihnen etwas zu Essen geben können. Aber das Geld reichte nicht aus. In dieser Abwärtsspirale ging die Würde für eine breite Bevölkerungsschicht verloren.
Dass 1% der Bevölkerung den gesamten Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt hat, dass sich die Abgeordneten schamlos aus der Staatskasse bedienen, dass die Löhne nicht mehr ausreichen um eine Familie zu ernähren, dass die Mittelschicht praktisch verschwunden ist und heute ebenfalls am Hungertuch nagt, dass die Menschenrechte immer noch mit Füßen getreten werden, dass die Frauen immer noch Opfer von Gewalt und Missbrauch sind, dass das Rentensystem (Fondo de Pensiones) nur den großen Empresarios dient, dass Chiles Ressourcen allesamt verkauft werden, all das führte zur Erkenntnis einer würdelose Existenz, der man nicht entkommen konnte. Das Volk war müde und drohte in Lethargie zu versinken, doch dann kam der Ruf „Chile, despierta!“. Wach auf!
Die Demonstranten skandieren „El pueblo unido jamás será vencido” (Ein geeintes Volk wir niemals besiegt werden) und erstarken in einer neuen Kraft. Sie fordern die Anhebung der Löhne auf ein würdiges Niveau, eine Änderung der Verfassung, mit der die Einnahmen der Regierungsbeamten beschnitten werden, die Einhaltung der Menschenrechte, freien Zugang zum Gesundheitswesen und ein Stopp dem Ausverkauf des Landes. Und mit der Zeit kommen weitere Anliegen, die im Argen liegen, zum Vorschein, vor Allem die Gewalt gegen Frauen und ganz aktuell, Corona-bedingt, die Forderung nach einer Teilauszahlung der Rente.
Terroristen, Tagediebe und Vandalen
Der Fotograf und Psychologe Ignacio Luengo gibt einen Einblick in die Antwort der ‚staatlichen Gewalt‘ und die Zustände, die seit Oktober 2019 täglich weiter eskalieren. Denn anstatt sich inhaltlich mit den Forderungen der Protestbewegung auseinanderzusetzten, galt der staatliche Schutz nur derjenigen, denen es gut geht und die viel zu verlieren haben. Schnell wurden die Demonstranten als Terroristen, Tagediebe und Vandalen diffamiert und repressive Maßnahmen gegen die Bewegung hochgefahren.
„Jede Woche wird die Versammlungsfreiheit weiter eingeschränkt. Deshalb ist auf den Straßen ein neuer Slogan zu hören: ‚In Chile werden die Menschenrechte verletzt‘. Sie schießen gnadenlos auf uns und füllen die Straßen mit Tränengas. Die Schüsse aus den Schrotflinten werden direkt auf unsere Augen gerichtet. In der zweiten Woche erlebte ich hautnah, wie die Polizisten mit mehr Nachdruck auf alle schossen, die eine Kamera bei sich trugen. So erging es auch den von der UNO entsandten Menschenrechtsbeauftragten und den Erste-Hilfe Kräften. Und auch meine Kollegen und ich wurden mehrmals von Polizisten verfolgt und mit Wurfgeschossen und Tränengas attackiert. Es war eindeutig, dass sie uns dort nicht haben wollten.“
Die heftige Reaktion einer vernachlässigten Bevölkerungsschicht
Luengo Analyse über die Ursachen des explosionsartigen Ausbruchs der Unruhen führen in die Geschichte zurück:
„Die losgetretene Revolution in Chile ist das Ergebnis aus 30 Jahren Missbrauch des neoliberalen Wirtschaftsmodells, das ist unstrittig. Aber der Missbrauch begann schon viel früher, nämlich mit den Menschenrechtsverletzungen an den indigenen Völkern und den Plünderungen wichtiger Bodenschätze, die mit der Gründung Chiles einhergingen.
Irgendwie hat diese Revolution in uns den Kampfgeist unserer Vorfahren wiedererweckt, der uns heute mehr Kraft als je zuvor verleiht. „Newen“ bedeutet Stärke und kommt aus der indigenen Sprache der Mapuche. Demnach ist es die Kraft und die Energie, die in allen Dingen zu finden ist, die aus der Natur entspringt, uns das Leben schenkt und uns erlaubt, zu lieben, zu kämpfen und Eins mit dem Großen Geist zu sein. Dieses Wort geht mir durch den Kopf, wenn ich all jene beobachte, die mit nahezu unmenschlicher Kraft ihre Fahnen schwingen, ihre “trutrucas”(Instrumente der Mapuche) spielen oder – noch besser – auf die Dächer der Polizeiautos klettern, um sie mit ihren bloßen Händen zu zertrümmern, ebenso wie unsere Vorfahren mit bloßen Händen gegen die Eroberer und ihre Waffen gekämpft haben.“
In den Zeiten des Pinochet Regimes hatte sich die Polizei als Handlanger des Terrors der Militärdiktatur das Misstrauen und die Ablehnung des Volkes eingehandelt. Obwohl bereits eine neue Generation herangewachsen ist, die diese Zeit nicht aus eigener Anschauung kennt, sind Polizisten in den Augen der Protestierenden die Feinde des Volkes. Luengo schildert die Gemütslage sehr eindrücklich:
„Erlebt man die Demonstrationen am eigenen Leibe mit, fällt einem auf, dass man sich in der Nähe von vermummten Personen sicherer fühlt, die Steine schmeißen und Ampeln zerstören. Wenn man hingegen neben einem Polizisten steht, sollte man um die eigene Sicherheit besorgt sein, weil sie bei der Festnahme alle, die sich auf der Straße befinden, gleichermaßen wie Terroristen behandeln. Egal ob man eine Gasmaske trägt, einen Kochtopf und einen Löffel oder eine Kamera dabeihat.
Unsere Eltern und Großeltern wurden zum Schweigen gebracht, aber wir wussten, dass wir aufgrund der technologischen Globalisierung alles, was in Zukunft passiert, anprangern können und wir verloren die Angst, weil wir uns gegenseitig haben. Wegen all der Toten und denen, die wir verloren, werden unsere Herzen nicht zulassen, dass so etwas noch einmal geschieht.
Ende 2019 war es für uns bereits zur Normalität geworden, das Haus nur mit Vorsicht zu verlassen und dem anderen jeweils ein bedachtes “Pass auf dich auf” mit auf den Weg zu geben. Die Straßen Santiagos – jede Ecke, jedes Geschäft, jede Ampel – waren von Polizisten besetzt. Das Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Lebensrealitäten wird hier besonders deutlich: Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die die Interessen einiger weniger schützen. Auf der anderen Seite die, die für ihre Würde und eine bessere Lebensqualität kämpfen. Und mittendrin die, die kein Zuhause haben und von der Gesellschaft keines Blickes gewürdigt werden und dennoch jeden Tag die giftige Straßenluft einatmen müssen und dem Missbrauch ausgesetzt sind.“
Hier bezieht sich Luengo auf die Obdachlosen, die in den Zeiten des Volksaufstandes von den Demonstranten versorgt wurden und die sich aus Solidarität den Protestierenden anschlossen.
„Jeden Tag machte ich mir mehr Sorgen um die obdachlosen Menschen, die von allen links liegen gelassen wurden. Wenn ich sie fragte, wie es ihnen geht, sagten einige, sie seien froh, in den Demonstranten neue Freunde gefunden zu haben, die sich um sie kümmern und ihnen Essen geben. Trotzdem spürten alle die Gefahr, die von den Polizisten ausging, welche alle Personen auf den Straßen innerhalb der Protestzonen mit eiserner Härte angriffen. Und darum war die Situation für Obdachlose ohne rechtlichen oder gesundheitlichen Schutz umso schlimmer. Und sie ist es bis heute, denn nicht nur in den Wochen der Revolution galt es, die giftige Luft und die brutalen Schläge der Polizei zu überleben. Durch die aktuelle Pandemie werden diese Menschen wieder sich selbst überlassen.“
Nach den Wirren der ersten Tage und der bitteren Erkenntnis, dass die Regierung auf keine Forderung der Demonstranten eingehen würde, sondern mit Entschlossenheit den brutalen Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen anordnete, begann sich der Widerstand zu formieren:
„Die beste Art, die Demonstrationen vor intensiven Repressionen zu schützen, war die Gründung der Gruppe “primera línea” (erste Reihe). Eine heterogene Gruppe, die sich aus Obdachlosen, ebenso wie aus Akademikern, Schülern und jungen Menschen aus schwierigen Verhältnissen zusammensetzt, von denen viele schreckliche Erfahrungen in der Institution des Nationalen Dienstes Minderjähriger (SENAME) gemacht haben. (Eine Institution, deren Hauptaufgabe eigentlich das Beschützen von Minderjährigen in vulnerablen Situationen ist, die jedoch beschuldigt wurde, sich über Jahre hinweg an Minderjährigen vergangen zu haben.) Viele von ihnen haben sich der Gruppe “primera línea” angeschlossen, um die Bewegung zu schützen, sich der Unterdrückung der Regierung mit Steinen und vermummten Gesicht entgegenzustellen und gegen die Bewaffnung der Polizei zu demonstrieren, die auf die Straßen geschickt wurde, um das Volk zu unterdrücken, welches nur mit Töpfen, Transparenten und dem gemeinsamen Gefühl von Wut und Angst bewaffnet, Gerechtigkeit und Würde forderte.“
Das Gefühl für die Wirklichkeit klafft aber weit auseinander, das Land ist gespalten. Für die Regierung, die Klasse der Wohlsituierten und die der Neureichen sind die Demonstrationen Ausdruck von terroristischer Gewalt und Vandalismus, gegen die man mit aller Härte vorgehen muss. Für die anderen ist es ein Kampf ums Überleben. Die nationalen Medien kriminalisieren die Proteste, die Rechtfertigung für die repressiven Maßnahmen liefern Vandalismus und Zerstörung, deren Urheberschaft jedoch nie geklärt wurde. In diesem Ringen um Selbstbehauptung der Aufständischen finden die Frauen zu einem neuen Selbstbewusstsein. Sie tragen ihre Anliegen auf die Straßen und schließen sich der Protestbewegung an. Luengo kommt dadurch zu neuen Erkenntnissen:
„Die Forderungen der Frauen stärken den Widerstand und verschafft einem wenig gebildeten Volk mehr Klarheit. Die Erkenntnis reift, dass die Ungerechtigkeit dieses politisch-wirtschaftlichen Modells zum großen Teil auf das Patriarchat zurückzuführen ist, das die Schutzlosigkeit der Armen, der Studierenden, der Alten und vor allem der Frauen ausnutzt. Mir hat der Feminismus vor Augen geführt, dass wir gleichwertig sind, dass wir Rechte haben und dass diese Gefühllosigkeit, die der Staat in meiner Psyche pflegt, männliche Gewalt fördert, die uns alle verletzt. Ich habe verstanden, dass es beim Machismo nicht nur darum geht, dass Männer Frauen ausnutzen, sondern vielmehr darum, wie sich ein totalitäres wirtschaftliches Modell meiner psychischen Gesundheit, meiner Zerbrechlichkeit als menschlichen Wesen und unserer Notwendigkeit zur Selbstverwirklichung bedient.“
Das (vorläufige) Ende der sozialen Unruhen
„Am 6. März 2020 war ich – ohne es zu wissen – mit meiner Kamera bei einem der letzten riesigen Proteste auf der „Plaza de la Dignidad“ dabei, bevor sich die Revolution in Chile und die Lage der gesamten Welt drastisch veränderte. Die Protestierenden waren viel organisierter geworden, wir hatten über 5 Monate hinweg ganze Tage mit Auseinandersetzungen mit der Polizei verbracht.
5 Monate, in denen wir die erste Reihe der Proteste mit Essen versorgt, giftige Gase eingeatmet und zum ersten Mal eine gewisse Unsicherheit in den Handlungen der Regierung wahrgenommen haben. Uns war bewusst, dass die Regierung für eine Anzahl von Toten vor und während der Revolution verantwortlich war. Außerdem war uns klar, dass Polizisten Erste-Hilfe Posten angegriffen hatten und keiner in ihrer Nähe sicher sein konnte. Zudem kannten wir ihre Strategien zur Abschreckung, die sie jeden Freitag auf dem „Plaza de la Dignidad“ anwandten, indem sie die Menschen von verschiedenen Punkten aus einkesselten, was zu Verzweiflung, Panik und somit Verletzungen führte. Aber wir waren uns nicht sicher, was kommen würde. Die umstrittenste Pandemie der letzten Zeit tauchte genau dann auf, als es für die Regierung und die Eindämmung unserer Proteste am Nützlichsten war.Am 16. März, nur einige Tage nach dem großen Protest des 8. März, bei dem die Frauen die Revolution noch einmal mehr befeuerten, in dem sie die Straßen mit dem Wort “Históricas” (Die Historischen) erfüllten, wurde die Ankunft des Coronavirus in Chile verkündet. Anfangs waren die Leute misstrauisch und demonstrierten weiter, bis am 19. März in der Hauptstadt Chiles – und später im ganzen Land – der Ausnahmezustand ausgerufen wurde. Dadurch mussten wir zwangsweise zu Hause bleiben und der Volksentscheid über die neue Verfassung wurde auf den 25. Oktober verschoben.
Das war der letzte Tag, an dem ich es geschafft habe, auf die Straße zu gehen und so den Zustand der leeren Straßen und unseres „Plaza de la Dignidad“ zu fotografieren. Denn in den darauffolgenden Tagen wurde all die vom Volk erschaffene Kunst von den Polizisten unter dem Auftrag von Sebastián Piñera ausgelöscht. Sie vernichteten jedes Graffiti und jede künstlerische Darstellung des Protests auf den Mauern und in den Straßen der Stadt. Heute, nach 70 Tage absoluter Quarantäne innerhalb der städtischen Region, kehren die Proteste langsam auf die Straßen in den verletzlichsten Zonen der Stadt zurück. Dieses Mal geht es nicht nur um Menschenwürde, sondern auch um Hunger. Denn die Regierung hat seit Oktober nicht nur versucht, die soziale Unzufriedenheit mit mehr und mehr Repressionen zu unterdrücken, sondern auch die Wut durch den Mangel an Unterstützung in den armen Regionen des Landes. Und obwohl aktuell einige Projekte der Unterstützung von der Regierung initiiert wurden, sind es immer noch die unabhängigen Organisationen, die die Bedürfnisse der vom Staat im Stich gelassenen Bevölkerung am besten erkennen und befriedigen. Die psychische Gesundheit der Chilenen war noch nie ein Vorzeigebeispiel, umso schlimmer nach diesen Erfahrungen der Revolution, Unterdrückung, Social Distancing, Quarantäne und nun, sozialer Ungerechtigkeit.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Die Demonstranten sehen keine andere Möglichkeit ihre Anliegen in das Bewusstsein der Machthaber zu tragen, als weiterzumachen. Das Land wurde während der Pandemie abgeschottet, die Bevölkerung eingesperrt, es gab keine Unterstützung und keine finanziellen Erleichterungen bei Strom-, Wasser – und Mietzahlungen. Lediglich eine Kiste mit Grundnahrungsmitteln wurde pro Haushalt verteilt. Nur die Selbsthilfeprojekte und die selbstorganisierte Nachbarschaftshilfe haben gewehrleistet, dass breite Bevölkerungsschichten im Lockdown nicht verhungerten. Luengos Ausblick ist voller Fatalismus und voller Hoffnung zugleich:
„Die Leute halten es nicht noch länger ohne Arbeit und ohne Sicherung ihres Lebensunterhalts aus. Immer mehr Leute gehen wieder auf die Straßen, um gegen diese Ungerechtigkeit zu protestieren. Das Militär ist ebenfalls zurückgekehrt, genau wie die Ausgangssperre und gemeinsam mit ihr der ungewisse Ausgang einer Revolution, die durch ein Virus ausgebremst wurde. Aber sie hält sich in jedem Heim am Leben, in der Hoffnung, wieder auf die Straßen zurückzukehren und die seit so vielen Jahren gestohlene Würde wiederzuerlangen…“
Diese Fotoreportage wurde realisiert von Ignacio Luengo; Fotograf, Psychologe und Musiker aus der Quarantäne, Santiago de Chile Juni 2020. Aus dem Spanischen übersetzt von Luna Jakob und der Artikel wurde von Gaby Voigt verfasst.
„Renuncia Piñera!“ (Piñera, Danke ab!), „Plaza de la Dignidad“ – das Epizentrum der Demonstrationen in Santiago.
”Lautaro, Galvarino, Michimalonco und Caupolicán wären stolz auf uns” (Krieger der alten Mapuche-Vorfahren).
„Wir werden die Strukturen dieser Scheißgesellschaft sprengen, das ist der Zeitgeist von heute. Mit uns können sie es nicht aufnehmen!“
„Der Protest ist kein Fest – Auf! Alle in den Kampf“, U-Bahnstation Laguna Sur, Pudahuel: eine Zone, die durch Kriminalität und Armut stigmatisiert wird. Alles wurde in den ersten Tagen der Revolution vollkommen zerstört.
Nach nur einer Woche der Revolution gab es bereits diese 18 Personen, die durch den Staatsterror ihr Leben verloren.
Plaza de la Dignidad: Denkmal von Manuel Baquedano, von den Demonstranten erobert.
Von Tränengas auseinandergetrieben.
Die Fahne der Mapuches auf der Plaza de la Dignidad hat hohen Symbolcharakter, da der General Manuel Baquedano (1866) im Süden Chiles gegen die Urbevölkerung in den Krieg gezogen ist.
Tränengasbomben werden mit Natron „entschärft“ damit das Gas nicht in die Wohnhäuser dringt.
„… auch meine Kollegen und ich wurden mehrmals von Polizisten verfolgt und mit Wurfgeschossen und Tränengas attackiert.“
Demonstranten legen die Stadt lahm.
„Möge in der Geschichte geschrieben stehen, dass wir bis zum Sieg gekämpft haben“.
„… und wir verloren die Angst, weil wir uns gegenseitig haben!“
Die Straßen Santiagos – jede Ecke, jedes Geschäft, jede Ampel – waren von Polizisten besetzt.
„Keine Kugeln mehr!“ Das ist auch auf der U-Bahn-Station “Tobalaba” deutlich zu erkennen, die während der Proteste ein wenig verändert wurde: “NO + Balas” (“N0 + = no más; Balas = Kugeln”).
Die ‚Primera linea‘ (Die erste Reihe) schützt die Demonstration vor der Polizeigewalt.
Die ‚Primera linea‘ (Die erste Reihe) schützt die Demonstration vor der Polizeigewalt.
Manche benutzten Schleudern, um Steine auf die Polizeiautos zu werfen, andere noch Kühnere verwendeten Flaschen, gefüllt mit Wasser und Natron, um die Tränengasbomben zu löschen
Die Mapuche Fahne ist Symbol von Hoffnung und Liebe
Grünes Laserlicht, um die angreifenden Polizisten zu blenden, die absichtlich ihre Geschosse auf die Augen der Demonstranten richten.
Der Straßenhund “Matapaco” (Polizisten-Töter), berühmt geworden während der studentischen Proteste 2011, weil er Polizisten verfolgt und angegriffen hat.
Mütter kämpfen Seite an Seite mit ihren Kindern.
„Widerstand heißt wie sie (Mapuche Vorfahren) zu sein, mehr als 500 Jahre zu kämpfen“.
Die Menschen klettern auf die Statuen auf dem „Plaza de la Dignidad“ (Platz der Würde), um zu verkünden, dass dies keine sozialen Unruhen sind, die sich nach ein paar Wochen wieder legen.
Opfer der Unterdrückung: Gustavo Gatica verlor durch einen direkten Schuss auf sein Gesicht das Augenlicht, Roberto Campos wurde verhaftet, weil er an den ersten Tagen der Demonstrationen ein Drehkreuz der U-Bahn beschädigt hatte.
Kindern und ganze Familien demonstrieren friedlich für Veränderung.
Die Selbstorganisation geht durch die Reihen der Demonstration: zum Schutz die 1.Reihe, dahinter die Kontrolle der Organisation, dann die Erste-Hilfe und die Reihen, die die Polizisten mit grünen Lasern blendeten, um Schüsse auf die Demonstranten zu verhindern und diejenigen, die die Tränengasbomben unbrauchbar machten damit keine giftigen Gase die nahegelegenen Häuser erreichen.
Obdachlose, von allen vernachlässigt.
Geeint im Geiste der Mapuche Vorfahren und von „Newen“ der Kraft, die der Natur entspringt.
Zum Ruf nach Würde kamen im Laufe der Protestbewegung viele Dimensionen hinzu. Besonders stark haben die Frauen ihre Rechte eingefordert, vor Allem aber ein Ende der Gewalt gegen Frauen.
„Ich bin von der Erde, von Ihr komme ich in einem Frauenkörper“.
„Freie Abtreibung, sicher und kostenfrei“
Frauen in der vordersten Reihe, die dem Tränengas und der Gewalt standhielten. Mütter, Schwestern und Töchter – Frauen, die verdeutlichten, dass dies der gemeinsame Kampf aller ist.
Die Kunst ist unsere wichtigste Waffe gewesen. Die Kunst, die Musik und das Tanzen dieses großartigen Karnevals der Revolution des Bewusstseins in Chile baut uns auf, hält uns auf Trab und spendet uns Hoffnung, weil jegliche Kunst mit Liebe – Liebe zur Freiheit – und Liebe zur Würde gemacht ist.
Unzählige Schrotpatronen und Tränengasbomben bedecken die Straßen.
“… unsere rote Zone, unser Schlachtfeld!“
Eine Mauer aus Stahl wurde zur Klagemauer, an der um die Gefallenen und Verletzen geweint wurde.
„Gracias valiente juventud“ (Danke, mutige Jugend!) Ein Mann, der den jüngeren Generationen dankbar dafür ist, dass sie furchtlos das tun, was unsere Eltern und Großeltern nicht geschafft haben. Die Dankbarkeit aller Generationen, die stillschweigen mussten.
Angriff der Polizei auf einen Erste-Hilfe Stand in der Nacht vom 6. März in der Straße „Pio Nono con Bellavista“. Flammen, die den Erste-Hilfe-Posten, Teile des anliegenden Marktes und einen hundertjährigen Baum vollständig niederbrannten.