Deutschland ist einer der Hauptprofiteure vom Brain Drain aus ärmeren Ländern. Diese verlieren dadurch teuer ausgebildete Fachkräfte.
Deutschland zählt zu den Staaten, die am stärksten vom Zuzug hochqualifizierter Arbeitskräfte aus ärmeren Regionen Europas profitieren. Dies belegt eine aktuelle Studie des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche. Demnach steigt vor allem im Gesundheitswesen die Zahl etwa aus Ost- und Südosteuropa stammender Fachkräfte rasch an. In deren Herkunftsländern verursacht der Brain Drain – auch mit Blick auf die Covid-19-Pandemie – große Probleme; so ist die Quote der Ärzte und Pflegekräfte pro 100.000 Einwohner etwa in Polen nur wenig mehr als halb so groß wie in Deutschland; in Albanien liegt sie noch deutlich darunter. Die Bundesregierung stellt negative Auswirkungen auf die Herkunftsländer in Abrede und spricht von einer angeblichen Win-win-Situation. Auf europäischer Ebene formiert sich inzwischen allerdings Widerstand gegen die Abschöpfung von Fachkräften, für deren Ausbildung die Herkunftsstaaten in aller Regel hohe Summen gezahlt haben – Investitionen, von denen nun die reichen Länder West- und Nordeuropas, vor allem Deutschland, profitieren.
Go West
Nach einer aktuellen Studie des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) verzeichnet das deutsche Gesundheitswesen einen starken Zustrom von im Ausland ausgebildeten Ärzten und Pflegekräften.[1] Bei den Medizinern wuchs ihr Anteil von 2010 bis 2017 von rund sieben Prozent auf 12,5 Prozent, bei den Krankenpflegern und -pflegerinnen von rund sechs auf acht Prozent. Angaben der Bundesärztekammer für 2019 bestätigen den Trend. Demnach stieg die Zahl der aus EU-Staaten nach Deutschland eingewanderten Ärzte um 2,7 Prozent; aus anderen europäischen Staaten wanderten sogar 10,4 Prozent mehr zu als im Vorjahr.[2] Der WIIW-Untersuchung von Isilda Mara zufolge ist der Saldo trotzdem leicht negativ, weil gleichzeitig viele deutsche Mediziner auswanderten und in der Schweiz oder in anderen Ländern mit besseren Verdienstmöglichkeiten Stellen antraten. Von den Ärzten, die Deutschland als Arbeitsplatz wählten, stammen 60 Prozent aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Polen oder Tschechien. Die Krankenschwestern und -pfleger kamen ebenfalls häufig aus Ost-, zuletzt aber auch vermehrt aus Südosteuropa – aus Serbien, Albanien oder Bosnien-Herzegowina.
„Triple Win“
Um Pflegekräfte aus dem Ausland zu gewinnen, betreibt die Bundesregierung eine aktive Anwerbepolitik. 2012 initiierte sie in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der Auslandsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit das allseitigen Nutzen in Aussicht stellende „Projekt Triple Win“. In dessen Rahmen hat sie Kooperationsabkommen mit Serbien, Bosnien-Herzegowina, Tunesien, Vietnam und den Philippinen geschlossen. Oftmals bedient sich Berlin bei der Akquirierung der Pfleger und Pflegerinnen zweifelhafter Methoden. „In Bihać versuchen Agenturen, Personal für die Arbeit in Deutschland abzuwerben. Sie sind dabei nicht zimperlich, gehen sehr aggressiv vor und bombardieren die Schwestern mit Mails und Anrufen“, berichtet etwa die bosnische Krankenhausdirektorin Evresa Okanović.[3] Auch der private Sektor ist eingebunden. Die Dekra Akademie etwa bereitet geeignet befundene Auswanderungswillige schon vor Ort in der Ukraine, Serbien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien fachlich und bezüglich der Sprachkenntnisse auf ihre neuen Jobs fern der Heimat vor. „Auch auf den Philippinen, in Mexiko und Brasilien befinden sich bereits Teilnehmende in der Qualifizierung“, vermeldet das Unternehmen.[4]
Unterversorgung
Von 2010 bis 2018 haben rund 40.000 Mediziner die Staaten Ost- und Südosteuropas in Richtung Westen verlassen. In den Herkunftsländern führt diese Abwanderungsbewegung zu großen Lücken bei der medizinischen Versorgung, was besonders in der aktuellen Pandemie verheerende Auswirkungen hat. Während in Deutschland auf 100.000 Einwohner rund 420 Ärzte und 1.200 Pflegekräfte kommen, sind es beispielsweise in Polen nur 270 Ärzte und 680 Pflegekräfte, in Albanien sogar nur 150 Ärzte und 515 Pflegekräfte.[5]
Die Länder reagieren
Rumänien hat deshalb im April ein Ausreiseverbot für medizinisches Fachpersonal und für Seniorenbetreuer verhängt. Für Mediziner fordert der rumänische Ärztekammerpräsident Gheorghe Borcean angesichts der hohen Ausbildungskosten Kompensationszahlungen der Zielländer: „Es ist nicht korrekt, eine so hohe Zahl an Ärzten ohne einen Ausgleich zu verlieren.“[6] Serbien rief seine im Ausland tätigen Mediziner derweil zur Rückkehr auf und setzte das „Triple-Win“-Abkommen vorläufig aus. „Herr Spahn bekommt meine Pfleger nicht“, erklärte Staatspräsident Aleksandar Vučić.[7]
„Entwicklungspolitischer Beitrag“
Die Bundesregierung streitet negative Effekte des Programms für die Herkunftsländer in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion „Die Linke“ ab und wähnt es im Einklang mit dem Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation zur internationalen Anwerbung von Gesundheitsfachkräften: „Viele Gesundheitsfachkräfte finden in den Herkunftsländern keinen Arbeitsplatz und suchen nach Arbeitsmöglichkeiten im Ausland, unter anderem in Deutschland. Die Herkunftsländer profitieren beispielsweise von der Entlastung ihres Arbeitsmarktes, von den Rücküberweisungen der rekrutierten Fachkräfte an Familien-Angehörige und vom Wissenstransfer bei zirkulärer Migration.“[8] Die GIZ spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „entwicklungspolitischen Beitrag“.[9]
Massive Folgen
Nicht nur medizinisches Fachpersonal zieht es aus Ost- und Südosteuropa fort, sondern auch andere Hochqualifizierte. Nach dem Wettbewerbsindex, den das Davoser Weltwirtschaftsforum erstellt, gehören dabei die östlichen und südlichen EU-Mitglieder zu denjenigen Ländern auf der Welt, denen es am wenigsten gelingt, gut ausgebildete Fachkräfte zu halten.[10] Das schadet ihren Volkswirtschaften enorm, wie eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) von 2016 darlegt.[11] So trägt die Abwanderung der zumeist jungen Fachkräfte nicht wenig zur Überalterung der Gesellschaften bei, was wiederum höhere Sozial- und Gesundheitsausgaben nach sich zieht. Zudem müssen die betroffenen Länder einen Teil ihrer Bildungsinvestitionen abschreiben. Gleichzeitig gilt es, das Lohnniveau anzuheben, um größere Anreize zum Bleiben zu bieten, obwohl durch die Emigrationsbewegung die Produktivität und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit sinkt. Laut IWF hat allein der Aderlass der Jahre von 1995 bis 2012 Ost- und Südosteuropa sieben Prozent an Wirtschaftswachstum gekostet. Damit verstärkt der Brain Drain, wie die Autoren konstatieren, nicht zuletzt auch die wirtschaftliche Spaltung der Europäischen Union.
„Teufelskreis des Zerfalls“
Dieser Analyse stimmt der Europäische Ausschuss der Regionen, ein Zusammenschluss von Vertretern der Regionen in der EU, in einer im Februar veröffentlichten Stellungnahme zur Abwanderung von Hochqualifizierten zu.[12] Dem Ausschuss zufolge ist die Emigration von Talenten zugleich Ursache und Wirkung der „bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Regionen der EU“. Der Ausschuss warnt vor einem „Teufelskreis des Zerfalls“. Langfristig sieht das Gremium durch die Entwicklung sogar die „Tragfähigkeit des europäischen Projekts“ gefährdet – und fordert die EU-Kommission zu Gegenmaßnahmen auf.
„Der Kampf wird schärfer“
Zu den betroffenen Ländern, die in Brüssel am vehementesten Handlungsbedarf anmahnen, gehört Kroatien. Zagreb hat nicht nur erfolgreich auf ein EU-Kommissariat für „Demographie und Demokratie“ gedrungen, sondern es zugleich auch noch mit einer Kroatin besetzen können. Zudem fand das Thema auf Initiative Kroatiens Eingang in die „Strategische Agenda 2019-2024“ der EU. Dennoch muss es auf absehbare Zeit als unwahrscheinlich gelten, dass die Wanderungsbewegungen von Ost nach West und damit der Brain Drain zu Ungunsten der Länder Ost- und Südosteuropas gestoppt werden. Im Gesundheitsbereich rechnet WIIW-Autorin Isilda Mara sogar noch mit einer Zuspitzung, da in den westeuropäischen Ländern die Nachfrage nach medizinischen Leistungen unter anderem wegen der höheren Lebenserwartung steige und gleichzeitig viele Ärzte in Rente gingen. „Der Kampf um das Gesundheitspersonal wird schärfer“, warnt Mara: „Er hatte sich schon in den vergangenen beiden Jahrzehnten intensiviert, in denen einige reiche westliche Länder auf Kosten der ärmeren profitiert haben.“[13]
[1] Isilda Mara: Health Professionals Wanted: Chain Mobility across European Countries. Research Report 445. wiiw.ac.at.
[2] bundesaerztekammer.de.
[3] Philip Jokić, Robert Putzbach: Abwerbung und Ausverkauf. Der Freitag 20/2020.
[4] dekra-akademie.de.
[5] Isilda Mara: Health Professionals Wanted: Chain Mobility across European Countries. Research Report 445. wiiw.ac.at.
[6] Abösesumme für Ärzte aus Osteuropa verlangt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.04.2020.
[7] Britta Beeger, Andreas Mihm: „Herr Spahn bekommt meine Pfleger nicht“. faz.de 19.02.2020.
[8] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Harald Weinberg, Pia Zimmermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/16732. 23.01.2020.
[9] Nachhaltig ausgerichtete Gewinnung von Pflegekräften (Triple Win). giz.de.
[10] Abwanderung von Hochqualifizierten in der EU: Bewältigung der Herausforderung auf allen Ebenen. cor.europa.eu.
[11] Emigration and Ist Economic Impact on Eastern Europe. imf.org.
[12] Abwanderung von Hochqualifizierten in der EU: Bewältigung der Herausforderung auf allen Ebenen. cor.europa.eu.
[13] Andreas Mihm: Europas brutaler Kampf um Ärzte. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.07.2020.