Aufwachsen im Rassismus
In den Abschnitten zu Kindheit und Jugend berichtet Shakur in sehr klarer und persönlicher Sprache vom Leben in den von strukturellem Rassismus geprägten USA. Beginnend mit dem Aufwachsen bei ihren Grosseltern im North Carolina der 1950er Jahre, wo ethnische Segregation und offener Rassismus in allen Lebensbereichen gegenwärtig waren, schildert sie nachfolgend subtilere Formen rassistischer Diskriminierung und Gewalt im New York der 1960er Jahre. Sie berichtet von internalisiertem Rassismus, (teilweise sexualisierten) Übergriffen und Diskriminierungen sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich.
„Eines Tages kam ich aus dem Laden und sah Joe. Er gesellte sich zu mir und begleitete mich ein Stück. […] Dann platze er plötzlich heraus: ‚Willst du mit mir gehen?‘ […] Ich war regelrecht schockiert. Hatte er wirklich geglaubt, dass ich mit ihm gehen und meinen guten Ruf ruinieren würde? ‚Nein‘, erwiderte ich. ‚Nein‘, wiederholte er, ‚warum nicht?‘ […] Ich stammelte und stotterte, und dann stiess ich mit eisiger Schonungslosigkeit aus: ‚Weil du zu schwarz und zu hässlich bist.‘“ (S. 114)
Sie zeichnet so ein Bild der strukturellen Ungleichheit in Politik, Bildung und dem Wirtschaftssystem der USA, das dem heutigen stark ähnelt. Darüber hinaus erzählt sie von ihrer familiären, kulturellen und politischen Bildung und davon, wie ihr das rassistische System, in dem sie aufgewachsen ist und in dem sie lebt, zunehmend bewusster wird.
„In Amerika sind Schulen daran interessiert, dir mit Amerikanismus das Hirn zu waschen, dir ein bisschen Bildung zu verpassen und Fertigkeiten anzutrainieren, die das kapitalistische System braucht, um zu funktionieren. Solange wir von den Schulen Amerikas erwarten, uns zu bilden, werden wir dumm und unwissend bleiben.“ (S. 248)
Kulturelle Bildung erlangt sie in ihrer Kindheit primär durch den Einfluss ihrer Tante, die sie an Bildende Kunst, Film und Theater heranführt. Shakur äussert grundlegend Kritik am US-amerikanischen Bildungssystem und dem ihm immanenten Rassismus. Insbesondere kritisiert sie dabei die mangelnde Weitergabe von Wissen über Sklaverei und den amerikanischen Bürgerkrieg sowie ein dominantes eurozentristisches Narrativ, das mit einer Vernachlässigung afrikanischer beziehungsweise afroamerikanischer Geschichte und Kultur einhergeht.
Ende der 1960er Jahre kommt sie an der Universität in Kontakt mit der Bürgerrechtsbewegung, wo sie zunehmend Wissen über Black History und afrikanische Kultur erlangt, sich in der Schwarzen Community vernetzt und engagiert und ihren Namen wechselt. Sie identifiziert sich als afrikanische Frau, deren Denken, Fühlen, Herz und Seele nach Afrika zurückgekehrt seien, deren Name – JoAnne Chesimard – jedoch in Europa gestrandet sei. Der Nachname Chesimard, den sie von ihrem kurzzeitigen Ehemann übernommen hatte, verweist auf den Sklavenhalter seiner Vorfahren. Als neuen Namen wählt sie einen, der mit Kampf assoziiert werden kann: Assata („die Kämpfende“) Olugbala („Liebe zu den Menschen“) Shakur („die Dankbare“).
„To my people“
Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Unterdrückung öffnet sich ihr Blick zudem für die multiplen Formen von Unterdrückung, die in unserer Gesellschaft präsent sind. Eine programmatische Sequenz ist in diesem Kontext die Rede „To my people“, in der Assata Shakur ihre individuelle Geschichte in globale Kontexte der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung einbettet. Sie schildert die politische, soziale und juristische Ungerechtigkeit ihrer persönlichen Situation und ordnet sie als Teil eines etablierten Unterdrückungssystems ein.
Sie beschäftigt sich dabei nicht allein mit den Effekten von Rassismus, sondern ebenfalls mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die eine rassistische Ideologie erst ermöglichen und erzeugen und sieht deren Ursprung im Kapitalismus und dessen didaktischen, kulturellen und ökonomischen Logiken. In diesem Kontext betont sie, dass ein antirassistischer Kampf immer zugleich auch antikapitalistisch und feministisch sein müsse und spricht sich zudem für eine Untrennbarkeit von Theorie und Praxis aus, die für ihr gesamtes Denken programmatisch ist.
„Für mich musste der revolutionäre Kampf der Schwarzen sich gegen Rassismus, Kapitalismus, Imperialismus und Sexismus richten und auf echte Freiheit unter einer sozialistischen Regierung abzielen.“ (S. 268)
Macht und Kontrolle
In den Passagen über ihre Haftaufenthalte und Gerichtsverfahren gibt sie Einblick in einen rassistischen Strafvollzug sowie die rassistische Struktur des US-amerikanischen Justizsystems (geprägt unter anderem von racial profiling, den überproportionalen Inhaftierungsraten von Afroamerikaner*innen und mangelnder Repräsentation von PoC in juristischen Berufen). Ende der 1960er- und Anfang der 1970er Jahre wurde sie Ziel einer landesweiten Fahndung, nachdem sie zur Hauptverdächtigen bei einer Serie von Banküberfällen und Mordversuchen erklärt wurde, bevor sie schliesslich 1973 verhaftet wurde. Aus einer dem Buch vorangestellten chronologischen Übersicht über die Gerichtsverfahren geht hervor, dass alle Anklagen bis auf die des Mordes an einem Polizisten abgewiesen wurden beziehungsweise die Verfahren mit Freispruch endeten. Dass sie dennoch verhaftet wird, muss im Kontext systematischer polizeilicher Repression Schwarzer Bewegungen betrachtet werden.
Die meiste Zeit ihrer Inhaftierung in unterschiedlichen Gefängnissen in den USA verbrachte Shakur in Einzelhaft; teilweise in Männergefängnissen. Sie berichtet von unzureichender medizinischer Versorgung, schlechten Hygienebedingungen, untersagtem Zugang zu Rechtsberatung, physischen und psychischen Übergriffen sowie von Nötigung. Darüber hinaus gibt sie einen detaillierten Einblick in den Kampf um gerechte Repräsentation und Gleichheit vor Gericht.
Kein Aktivismus ohne Selbstkritik
An einigen Stellen bleibt das Geschriebene – in gewissem Masse sicherlich der Gattung Autobiografie geschuldet – vage, weshalb eine kritische Lektüre und weitere Recherche empfehlenswert sind. Schade ist, dass die Autobiografie eine tiefer gehende Analyse der angesprochenen strukturellen Repression nicht ausführt, wie beispielsweise die systematische Überwachung, Unterwanderung, Störung und Verfolgung politisch aktiver Gruppierungen und Einzelpersonen durch Programme wie COINTELPRO (Counterintelligence Program) des FBI, die in den letzten Kapiteln des Buches sowie insbesondere in den Vorworten von Angela Davis und Lennox S. Hinds zwar aufgegriffen werden, jedoch nicht ins Detail gehen. Als hilfreich für eine weitere Recherche erweisen sich hier jedoch die Anmerkungen mit weiterführenden Informationen.
Die in zugänglicher, direkter und kraftvoller Sprache verfasste Autobiografie stellt eine wichtige Position im Kontext afroamerikanischer Befreiungsbewegungen dar. Sie regt an zu einer Auseinandersetzung mit Rassismus als politischem, juristischem und ideologischem System und lenkt die Blicke der Lesenden auf die rassistische Struktur, die uns umgibt, und die von politischen und juristischen Institutionen sowie insbesondere durch kapitalistische Strukturen gestützt und kontrolliert wird.
Assata Shakur schildert anhand ihrer persönlichen Geschichte und darüber hinaus eindrücklich, wie diese Struktur in unserer Gesellschaft ideologisch verankert ist und sich unter anderem in Politik, Bildung und Kultur manifestiert. Positiv hervorzuheben sind ebenfalls der kritische Blick und die Reflexion aktivistischer Praxis. Intelligent und selbstkritisch hinterfragt Shakur die Strukturen und Hierarchien in aktivistischen und militanten Gruppierungen und argumentiert für die Notwenigkeit eines intersektionalen Ansatzes im antirassistischen Kampf, der heute ebenso relevant erscheint wie vor 30 Jahren.