Das Justiz- und Gefängnissystem der USA bestraft vor allem Arme. Es zu ändern, ist schwer, denn es profitieren zu viele.
für die Online-ZeitungTara Simmons kandidiert für ein politisches Amt. Genauer gesagt: für den Posten der Landesbeauftragten für den Bezirk Kidsap im US-Staat Washington. Und sie ist vorbestraft. Im Wahlkampf ist das die stärkste Waffe der Juristin. Sie könnte die erste vorbestrafte Abgeordnete der USA werden. Ihre Gegner haben sie als «drogensüchtigen Ex-Knacki» bezeichnet.
«Ich bin nicht stolz darauf», sagt sie, «aber ich verstehe, wie Leute im Gefängnis landen.» Auch andere Kandidaten für politische Ämter gehen zunehmend offen damit um, dass sie im Gefängnis waren und ernten damit Zustimmung. Sie kennen das Justizsystem der USA aus eigener Erfahrung und wollen es ändern.
Jeder Dritte US-Amerikaner ist bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten
Denn da liegt einiges im Argen. «Mass Incarceration» ist kein neues Problem in den Vereinigten Staaten. Aktuell gibt es dort 2,1 Millionen Gefangene. Das sind sowohl absolut wie auch gemessen an der Einwohnerzahl mehr als in jedem anderen Land der Welt. Jeder dritte US-Amerikaner ist bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Simmons ist eine weisse Frau und damit ein untypischer Ex-Häftling. Etwa 40 Prozent der Inhaftierten sind männlich und schwarz. Bei einem Bevölkerungsanteil von 13 Prozent Afroamerikanern in den USA ist das viel. Auch Latinos werden überproportional oft eingesperrt, viele immer wieder. Fast die Hälfte aller Häftlinge (46 Prozent) sitzt wegen Drogendelikten. Eine Folge des «War against Drugs» und der Opioid-Epidemie. Auch Simmons führte eine Abhängigkeit in die Kriminalität.
«Das hätte auch mein Weg sein können», überlegt sich der Regisseur Roger Ross Williams nach dem Tod seines Jugendfreundes Thommy. Aufgewachsen in Easton, Pennsylvania hatten beide als Jugendliche gedealt und kleinere Einbrüche begangen, «um uns von den weissen Kids abzuheben», sagt Williams. Später zog er nach New York und wurde Regisseur. Thommy blieb und landete im Gefängnis, immer wieder, wie viele Schwarze in seinem Umfeld. Schliesslich nahm er sich das Leben.
«Verzweifelt an einem Mechanismus, der Schwarzen kaum eine Chance lässt», dachte Williams. «Was macht dieses Gefängnissystem so unentrinnbar? Und warum ist es so schwer zu ändern?», fragte er sich. Er traf sich mit Gefängnisausstattern, Sicherheitsbeamten, Aktivisten, Politikern und natürlich Häftlingen. In einer Dokumentation für das «ZDF» portraitierte er ein System, von dem zu viele profitieren. Es ist nicht primär rassistisch, bestraft aber vor allem Arme hart.
Vom Gefängnis- und Justizsystem der USA profitieren:
- Kautionsbürgen, oder «Bail Bond Agents»
- Ausstatter, Zulieferer, Sicherheitsdienstleister
- Unternehmen, die Dienstleistungen in Gefängnissen anbieten, wie Finanzdienstleister und Telefongesellschaften
- Privatisierte und staatseigene Gefängnisse, die die Arbeitskraft von Häftlingen verkaufen oder selbst nutzen
- Unternehmen, die Gefangenenarbeit einkaufen
- Anleger, die Aktien von Gefängnisunternehmen halten
- Gefängnisstandorte durch die Beschäftigung, die Gefängnisse schaffen.
«Bail Bond Agents» und «Plea Bargains»
Das fängt bereits bei der Festnahme an. Wer festgenommen wird, landet sofort in Untersuchungshaft. Ein Richter kann aber eine Kaution festlegen, mit der ein Untersuchungshäftling bis zum Gerichtstermin auf freiem Fuss bleibt. Diese ist meist so hoch, dass ein Häftling und dessen Familie nur einen Teil davon aufbringen können. Den Rest übernimmt ein professioneller Kautionsbürge oder «Bail Bonds Agent» gegen eine Gebühr von 10 bis 15 Prozent der Kautionssumme, die er in jedem Fall behält. Bis dahin ist noch nicht einmal sicher, dass der Beschuldigte überhaupt gegen ein Gesetz verstossen hat. Selbst wenn es nur eine Verwechslung ist: Wer in Untersuchungshaft bleibt, verliert sehr wahrscheinlich den Arbeitsplatz.
Einen echten Schuldspruch gibt es womöglich auch später nicht. Durch einen Handel zwischen Staatsanwalt und Verteidiger können diese das Strafmass auch ohne Verhandlung festlegen, wenn der Betroffene zustimmt. Die überwiegende Mehrheit der späteren Gefangen entscheidet sich für einen solchen «Plea Bargain», denn Gerichtsverhandlungen sind teuer. Der Beschuldigte verzichtet damit auf sein verfassungsgemässes Recht, angehört zu werden, und hält damit die Justiz am Laufen. Würde jeder Fall verhandelt, bräche das System zusammen.
So landen viele unschuldig im Gefängnis
Wer kein Geld für einen Anwalt hat, dem wird ein Pflichtverteidiger zugeordnet. Dieser ist oft wenig motiviert oder unerfahren. Dazu kommt: Nach europäischen Massstäben werden auch kleine Delikte in den USA streng bestraft. Wiederholungstäter können nach dem «Three Strikes Law» für Kleinigkeiten Jahrzehnte im Gefängnis landen.
Die Schätzungen, wie viele sich so schuldig bekennen, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, gehen je nach politischer Präferenz auseinander. Der Richter Jed Rankoff schätzt ihren Anteil für das «Marshall Project», das sich mit journalistischen Mitteln für Gefangene einsetzt, auf 2 bis 8 Prozent. Fachleute nehmen an, dass die Strafe oft zu hoch ausfällt, weil der Staatsanwalt die Höchststrafe fordert und der Beschuldigte annimmt, dass er vor Gericht keine Chance hat.
Schwarze werden öfter kontrolliert und härter bestraft, das beweist die Statistik. Das erklärt einen Teil der Wut, die die schwarze Bevölkerung der USA seit Wochen auf die Strassen treibt. Einen ausführlichen Text über «Plea Bargains» kann man hier im «Atlantic» lesen.
Ein Unternehmen namens «Gefängnis»
265 Milliarden Dollar bezahlt der amerikanische Staat im Jahr an Justizbeamte, Sicherheitspersonal, für Lebensmittel und Infrastruktur, um seine vielen Gefangenen zu unterhalten. Etwa 10 Prozent der US-Gefängnisse sind privatisiert und erwirtschaften weitere Gewinne, meist über Gefangenenarbeit.
Zwangsarbeit ist nach dem 13. Verfassungszusatz in den USA erlaubt, wenn sie Bestandteil der Strafe ist. «Chain Gangs» im Strassenbau gibt es zwar nicht mehr, die Arbeit aber ist geblieben. Gefangene arbeiten in der Gefängnisinfrastruktur oder werden wie Leiharbeiter ausgeliehen, um in der Landwirtschaft, bei der Brandbekämpfung und in allen möglichen Unternehmen zu arbeiten.
Häftlinge nähen Unterwäsche, fertigen Militärstiefel oder besetzen Telefon-Hotlines. Dafür bekommen sie nur wenige Cent in der Stunde, in manchen Bundesstaaten gar nichts. Bilder, auf denen schwarze Häftlinge überwacht von weissen Aufsehern auf Feldern in den südlichen Bundesstaaten arbeiten, geben der Forderung, «die Sklaverei noch einmal abzuschaffen», eine gewisse Berechtigung.
Ganz wohl scheint den meisten US-Amerikanern dabei nicht zu sein. Als der Milliardär Michael Bloomberg 2019 auf Gefangene zurückgriff, um per Telefonmarketing Werbung für sich als Präsidentschaftskandidat zu machen, führte das zu einem handfesten Shitstorm.
In der Summe arbeiten jedoch nur wenige Inhaftierte für die Privatwirtschaft. Die meiste Arbeit verrichten sie für den Staat oder innerhalb des Gefängnisbetriebs. Gefangene erledigen dort vom Kochen bis zu Klempnerarbeiten fast alles, was nicht direkt sicherheitsrelevant ist.
Das profitable Geschäft mit der Gefangenschaft
Von ihrem Lohn können sie sich dann nicht einmal etwas im Gefängnisladen kaufen. Waren und Dienstleistungen sind im Gefängnis sehr viel teurer als draussen. Allein an Telefongesprächen aus Gefängnissen verdienen die Telefongesellschaften pro Häftling etwa 500 Dollar im Monat, hat Williams recherchiert. Wenn sie Geld von Verwandten bekommen, kostet das Gebühren. Sogar dann, wenn es als Bargeld übergeben wird.
Wer einsitzt, hat in Folge meist Schulden, seine Familie ebenfalls. Durchschnittlich 13’600 Dollar werden laut Williams allein für Gerichtskosten und Gebühren fällig. Ein guter Teil aller Häftlinge sitzt in US-Gefängnissen, weil sie etwas nicht bezahlen konnten. Das trifft nicht nur Schwarze. «Ich sitze hier seit sechs Monaten, weil ich dem Staat 545 Dollar schulde», sagt eine junge Weisse im Interview.
Wer Geld hat, bucht Luxusknast
Wer Geld hat, dem kann das egal sein. Vermögende Häftlinge können sich sogar die Haft entspannt gestalten. Einige private Gefängnisse bieten für mehrere hundert Dollar pro Tag Luxus-Zellen mit Fernseher, Internetanschluss und eigener Dusche an, berichtete «Focus». Wieviel das noch mit Strafe zu tun hat, ist Ansichtssache.
Die Parallelen zur Tourismusbranche sind nicht zu übersehen. Andererseits gibt es immer wieder Berichte über Missstände und schlecht ausgebildetes Gefängnispersonal in privat geführten Haftanstalten.
Um Profite zu machen, rechnet ein privates US-Gefängnis mit einer bestimmten Belegung, ähnlich wie ein Hotel. Laut «Prison Legal News» halten zwei Drittel der privaten Betreiber Verträge, die eine Mindestbelegung festlegen. Gibt es weniger Häftlinge, droht eine Vertragsstrafe. Der Staat Arizona musste wegen Unterbelegung 2011 drei Millionen Dollar an das Unternehmen MTC bezahlen. Die ursprüngliche Forderung belief sich sogar auf zehn Millionen.
Rechnen tut sich das Geschäft mit dem Knast aber doch: Auch Williams hält über seine Anlagefonds Anteile an Gefängnisunternehmen und finanziert das Geschäft mit dem Knast mit, stellt er fest.
Einige Staaten haben bereits die Notbremse gezogen
Ein Grund, warum Ämter Verträge mit Belegungsgarantie unterzeichnen: Eine Haftanstalt schafft viele Arbeitsplätze. Ein Umstand, der nicht dazu führt, die Anzahl der Inhaftierten zu verringern und Ex-Häftlinge bei der Resozialisierung zu unterstützen. Einige Bundesstaaten haben bereits den Ausstieg angekündigt. Kalifornien beispielsweise wird die Privatisierung von Gefängnissen beenden. Spätestens ab 2028 soll es keine privaten Anstalten mehr geben, länger gültige Verträge werden seit diesem Jahr nicht mehr erneuert.
Um die Sicherheit der Gesellschaft zu erhöhen, taugt das System nur bedingt. Drei Viertel aller ehemaligen Gefangenen werden innerhalb von sechs Jahren rückfällig. Ein guter Teil wegen Verstössen gegen Bewährungsauflagen.
Stolperstein Bewährungsauflagen
Die Anzahl der Menschen, die zu einer Bewährungsstrafe verurteilt oder unter Auflagen entlassen wurden, ist ein Vielfaches höher als die der aktuell Inhaftierten. Auch für sie spielt Geld eine grosse Rolle. Sie müssen ihre Schulden begleichen, Arbeit und Wohnung finden, selbst der Bewährungshelfer kostet sie Geld. Durch die Strafe haben sie manchmal das Recht zur Berufsausübung verloren.
«Keine Arbeit zu haben, ist kein Verbrechen»
Simmons, die wegen ihrer Vorstrafe zunächst nicht mehr als Krankenschwester arbeiten durfte, fand zum Mindestlohn Arbeit bei Burger King. Von ihrem monatlichen Verdienst von 900 Dollar ging dennoch das meiste für die Bezahlung ihrer Schulden ab. Aus den ursprünglich 6’100 Dollar, die sie dem Staat schuldete, waren durch einen Zinssatz von 12 Prozent nach der Haft 7’600 Dollar geworden. Gerichtskosten, sagte sie bei einer Anhörung im Staat Washington, führten so zu einem Armutszyklus.
«Keine Arbeit zu haben, ist kein Verbrechen», sagt der ehemalige Staatsanwalt Adam Foss dazu. «Selbst wer keine Arbeit will und lieber auf dem Sofa abhängt, begeht keine kriminelle Handlung». Wegen solcher und anderer Verstösse gegen die Auflagen wandern aber jedes Jahr viele in den Knast. Es reicht schon ein verpasster Drogentest. Die psychische und finanzielle Belastung für ihre Angehörigen ist gross.
Wen das US-Gefängissystem Geld kostet
- Verdächtige
- Gefangene
- ihre Angehörigen und Communities
- die US-Steuerzahler
- die gesamte Wirtschaft der USA
Verlust der demokratischen Rechte für Kriminelle
Tara Simmons hat womöglich bald die Chance, daran etwas zu ändern. Vor allem aber hat sie Glück. Sie lebt in einem US-Bundesstaat, in dem sie als Vorbestrafte wählen und kandidieren kann. Wer in den USA im Gefängnis sitzt, unter Auflagen entlassen wird oder eine Bewährungsstrafe aussitzt, verliert das Wahlrecht. Je nach Bundesstaat für einige Zeit oder sogar lebenslang. In Iowa zum Beispiel wäre Simmons ihr Wahlrecht auf Lebenszeit los.
Sechs bis sieben Millionen US-Amerikaner können politisch kaum Einfluss nehmen, weil sie unter Aufsicht des Staates stehen. Einige Staaten wie Florida versuchen jedoch bereits, diese Vorschriften zu lockern.
Statt immer härterer Strafen, was sich im Wahlkampf normalerweise gut macht, setzen sich US-Politiker beider Parteien seit einigen Jahren für eine Reform des Systems ein. Sie tun das vermutlich nicht nur aus humanitären Gründen. Für jeden Dollar, der in die Gefängnisse wandert, entstehen zehnmal so hohe Folgekosten, beispielsweise im Sozial- und Gesundheitssystem. Die Gefängnisindustrie kostet die Vereinigten Staaten nach einer Studie von 2016 sechs Prozent des BIP.