Diesmal war es sicher nicht die COVID-19-Pandemie, nicht die Gesamtzahl der Infektionen oder der zur Zeit am Coronavirus Erkrankten, die die Kandidat*innen der Ultrarechten veranlasste, einen erneuten Aufschub der für den 6. September geplanten allgemeinen Wahlen vorzuschlagen – einziger Grund für ihren Vorstoß ist, dass weder die aktuelle Regierung unter Präsidentin Jeanine Áñez noch Ex-Präsident Jorge Quiroga oder Luis Fernando Camacho von der konservativen Partei Movimiento Nacionalista Revolucionario Aussichten hätten, die Wahl zu gewinnen.
Alle drei Kandidaturen zusammen kämen zurzeit nicht einmal auf 20% der Wählerstimmen ‑ trotz der Rückendeckung verschiedener Sektoren der nordamerikanischen Ultrarechten, trotz all‘ ihrer Anstrengungen zur Diskreditierung der Partei Movimiento al Socialismo von Expräsident Evo Morales, trotz der Verfolgung gesellschaftlicher Aktivist*innen und der Verhaftung von mehr als hundert Personen mit gefälschten Beweisen, während sieben ehemalige politische Autoritäten als Geiseln in der mexikanischen Botschaft festgesetzt wurden. Die derzeitige Umfragen zur kommenden Wahl prognostizieren den Sieg der Partei Morales‘ im ersten Durchgang. Zweiter könnte der liberale Expräsidenten Carlos Mesa werden. Wie schon im Oktober 2019 geschehen, bestünde dann für ihn die Möglichkeit, mit Hilfe von Leihstimmen einen zweiten Wahlgang zu erzwingen.
Sorge um die Bevölkerung: ein vorgeschobenes Argument
Tuto Quiroga, der sich gerne in Floskeln ausdrückt, brachte am 13. Juli durch eine Videobotschaft den Ball ins Rollen, indem er am Beispiel seines 80-jährigen Großvaters von den generellen Gefahren sprach, die der Urnengang für ältere Menschen bedeute, und, ohne ein Datum zu nennen, einen erneuten Aufschub der Wahlen vorschlug. Wenige Minuten später äußerte sich der Unternehmer Samuel Doria Medina, der offiziell für das Amt des Vizepräsidenten ins Rennen geht. Gewohnt kühl und, anders als Quiroga, in keiner Weise mitreißend erklärte er, aufgrund der derzeitigen Unmöglichkeit, einen Wahlkampf und Diskussionen zu führen, sei es angezeigt, ein realistisches Datum für die Durchführung der Wahl zu finden. Añez wiederum enthielt sich jeglicher Äußerung über die Vorstöße ihrer Parteigenossen, um negative politische Reaktionen zu vermeiden; hatte sie doch selbst das Datum für die Wahl um zwei Monate nach hinten, nämlich auf den 6. September 2020, verlegt. Immerhin stünde für sie ein Amtshaftungsverfahren wegen Nichterfüllung auf dem Spiel. Dass die Zahl der Neuinfektionen der Rechten eigentlich egal ist und die Pandemie zu einem funktionalen Instrument für die Durchsetzung anti-demokratischer Ziele mutiert ist, macht eine Twittermeldung Luis Camachos deutlich. Der Anführer paramilitärischer Gruppen im östlich gelegenen Santa Cruz erklärte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Wahlen als Mechanismus zur Wiederkehr der Diktatur dienen“. Der Aufschub der Wahlen hat also nichts damit zu tun, die Eindämmung der Pandemie erreichen, was angesichts des Kontrollverlusts der Regierung sowieso schlicht unmöglich wäre, sondern es geht darum, die Kandidatur der MAS-Partei von Evo Morales, zu verhindern. Im Übrigen ist es sicher kein Zufall, dass alle drei Politiker sich fast gleichzeitig öffentlich zu Wort melden. Was steckt dahinter?
Politisches Versagen soll kaschiert werden
Was alle drei Politiker mit ihren Äußerungen zu verstecken suchen, der eine mit dem Auftreten eines mexikanischen Schmierenkomödianten, der zweite mit diesem Gesicht, das unfähig ist, ein Gefühl auszudrücken, der Dritte mit dem Habitus eines bolivianischen Pablo Escobar, ist, dass das Coronavirus die bolivianische De-facto-Regierung eigentlich von Anfang an ins Aus gestellt hat. Die Quarantäne wurde verhängt, ohne dass eine umfassende Strategie zur Deckung des Bedarfs an Personal, Ausrüstung, Proben und Medikamenten entwickelt worden wäre, um die Pandemie effektiv einzudämmen. Und nicht nur das: Die Unwirksamkeit und fehlende Erfahrung in der Regierungsführung wurden begleitet von Korruptionsfällen wie dem Kauf von Beatmungsgeräten, die nicht funktionieren, und von repressiven Maßnahmen, angeführt von einem politisch und intellektuell defizitärem Ministerium, das nicht begreift, dass das Land sich nun in einer anderen Situation befindet als noch im November 2019. Die aktuelle Regierung habe in sechs Monaten das gesamte politische Kapital verspielt, mit dem es seine Tätigkeit aufgenommen hatte, resümiert der Politikwissenschaftler Fernando Mayorga.
Seit sich Añez die Präsidentschaft angeeignet hat, sind Verfassungsbrüche in Bolivien anscheinend zur Regel geworden, und ein neuer Verstoß bahnt sich bereits an: Das Verfassungsgericht, das die aktuelle Präsidentin im Amt bestätigte, hat bestimmt, dass die Regierung für den Zeitraum von 2020-2025 in diesem Jahr gewählt werden muss. Falls die Wahl am 6. September kein endgültiges Ergebnis bringt, hat der zweite Wahlgang höchstens 45 Tage nach dem ersten stattzufinden – für die vorgeschlagene Verschiebung der Wahl mithin ein knappes Zeitfenster.
Die Verschiebung der Wahl wäre ein erneuter Verfassungsbruch
Aber die Bevölkerung ist nicht auf den Kopf gefallen und unterstützt den Vorschlag nicht. Langsam kommen die Bolivianer*innen wieder zu Kräften und lassen sich durch die ungehaltenen Äußerungen des Innenministeriums nicht länger abschrecken: Im ganzen Land waren zahlreiche Menschen dem Aufruf des bolivianischen Gewerkschaftsdachverbands COB (Central Obrera Boliviana) gefolgt, um unter anderem den Stopp der Kündigungswellen und den Rücktritt des Bildungsministers Víctor Hugo Cárdenas zu fordern. Die Gewerkschaften selbst haben sich entschieden für das Stattfinden der Wahlen am 6. September ausgesprochen. Hier zeigt sich wieder die von der Rechten ignorierte Kehrseite der bolivianischen Geschichte. Ihre Ignoranz kam sie schon einmal teuer zu stehen.
von Ernest Reyes und übersetzt von Miriam Blaimer