Rassismus, Covid-19, Klimawandel, die Proteste in Hongkong. Alles separate Phänomene? Nein, meint Florian Maiwald in seinem neuen Beitrag. Trotz der Unbequemlichkeit der Systemfrage, ist es gerade jetzt an der Zeit zu fragen, in was für einer Welt wir leben wollen. Ansonsten geht es uns wie dem Truthahn vor der Schlachtung.
Betrachtet man das derzeitige Weltgeschehen, so könnte man nur allzu leicht zu der Schlussfolgerung verleitet werden, dass die Pandemie vorbei und die Normalität wieder wie gewohnt zurückgekehrt ist. Doch diese Normalität sollte nach wie vor mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden. Eine zweite Infektionswelle ist sehr wahrscheinlich und die Todeszahlen in Ländern wie den USA oder Brasilien sprechen für sich.
Die angeblich zurück gewonnene Normalität, in welcher wir uns gerade befinden, weist jedoch ein weiteres Element auf. Neben der Wiederaufnahme unseres alltäglichen ökonomischen Lebensstils wird die ganze Welt derzeit von Protesten verschiedenster Art überzogen, allem voran der Black Lives Matter Bewegung.
Man mag natürlich einwenden, dass all diese Proteste völlig verschiedene Intentionen zum Ziel haben. Das mag in Bezug auf die Spezifität ihrer Zielsetzungen zutreffen, aber auf einer allgemeinen Ebene lässt sich konstatieren, dass viele ihrer Ziele auf einem gemeinsamen Wertefundament beruhen: die universelle Achtung der Menschenwürde. Um dieses Ziel zu erreichen bedarf es jedoch der Überwindung eigener Partikularinteressen, um einen auf Universalität beruhenden Zusammenschluss der gesellschaftlich Benachteiligten zu ermöglichen. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Protestbewegungen kommen wir nicht umhin, die Systemfrage, mit all den ihr inhärenten Unbequemlichkeiten, zu stellen. Ansonsten unterliegen wir dem sogenannten Truthahn-Fehlschluss, welchen Nikil Mukerji und Adriano Mannino in ihrem kürzlich veröffentlichten Buch Covid-19: Was in der Krise zählt (1) schildern (offenbar angelehnt an das von dem Philosophen G.E. Moore entwickelte Prinzip des naturalistischen Fehlschlusses).
Den sogenannten Truthahn – Fehlschluss entwickeln Mukerji und Mannino vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es im Hinblick auf die Prognostizierbarkeit des Gefahrenpotenzials von Covid-19 anfangs einige Fehlurteile gab. Diese Fehlurteile, so Manninos und Mukerjis These, lassen sich kausal auf eine Form des Einseitigkeits-Fehlschlusses zurückführen, welcher sich vor allem durch einen Mangel an Vorstellungskraft charakterisieren lässt. Dieser Einseitigkeitsfehlschluss lässt sich exemplarisch am Beispiel eines Truthahns verdeutlichen, welcher für seine Schlachtung tagtäglich aufs Neue vom Bauern gemästet wird. Bedingt durch seine Erfahrung gelangt der Truthahn zu dem Schluss, dass auch jeder zukünftige Tag ähnlich wie in der Vergangenheit verlaufen wird: es gibt reichlich frisches Heu und Futter. Bis der Bauer ihn eines Tages eines besseren belehrt und den Hals umdreht (vgl. Mukerji & Mannino, 2020, 44-45). Ist unsere gegenwärtige Situation nicht in vielerlei Hinsicht mit der des Truthahns vergleichbar? Tagtäglich versuchen wir zu vertuschen, dass das Virus noch da ist, um wieder möglichst schnell zurück zur Normalität zu gelangen.
Carolin Wiedemann verdeutlicht diesen Punkt in einem Beitrag im Tagesspiegel auf treffende Art und Weise:
„Die Situation erinnert an 2008, als die Kapitalismuskritik während der Finanzkrise einige Stimmen dazu gewann – und dann trotzdem alles beim Alten blieb. Doch diesmal könnte es anders kommen. Corona offenbart die Zusammenhänge der Ausbeutung wie keine Krise zuvor und trifft auf eine Generation, die weltweit bereits in neuem Ausmaß aufbegehrt. Die Pandemie verdeutlicht die Verbindung der verschiedenen bislang scheinbar separaten Kämpfe.“.
Die von Wiedemann angedeutete Feststellung einer „[…] Verbindung der verschiedenen bislang scheinbar separaten Kämpfe […]“ sei an dieser Stelle nochmals mit Nachdruck hervorzuheben. Wir dürfen unsere Kämpfe für mehr Gerechtigkeit nicht im partikularen Raum belassen, sondern müssen erkennen, dass viele Menschen auf einer übergeordneten Ebene für die gleichen Ziele kämpfen. Wiedemann macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass nach der Finanzkrise alles beim Alten blieb. Wir zeigen uns auf einer symbolischen Ebene solidarisch mit gesellschaftlich Benachteiligten, ohne jedoch zu fragen, warum wir in einem System leben, in welchem derartige Ungerechtigkeiten erst perpetuiert werden. Die Konsequenz: Wir denken, dass wir etwas Gutes tun und reproduzieren das System in seiner ursprünglichen Form immer weiter, da wir wie der Truthahn denken, dass doch eigentlich alles gut ist, wie es ist. Bis der Bauer kommt und uns den Hals umdreht. Und das nur, weil wir unbequeme Fragen vermeiden wollten und – wie nach der Finanzkrise – alles beim alten belassen wollten. Um diesen Punkt weiter zu verdeutlichen, lohnt es sich einige der derzeitigen Protestbewegungen genauer zu betrachten.
Hongkong und der Kampf um den Erhalt der Privilegien
Vor einigen Tagen wurde in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong ein umstrittenes Sicherheitsgesetz implementiert, durch das kritische Meinungsäußerungen gegenüber der Peking Regierung kriminalisiert werden. Der Ursprung der Ausschreitungen in Hongkong liegt in der Tatsache begründet, dass Hongkong früher durch die britische Kornkolonie besetzt war, seit 1997 jedoch nach China unter der Prämisse „ein Land-zwei Systeme“ zurückgegeben wurde. Dieser Grundsatz impliziert, dass Hongkong bisher weiterhin als eigenes Territorium autonom regiert werden konnte. Im Gegensatz zur kommunistisch geprägten Volksrepublik China besaßen die Einwohner Hongkongs bis dato Grundrechte wie die Meinungs-, Presse-, und Versammlungsfreiheit, welche ihnen jetzt jedoch genommen wurden. Nun auf einer etwas abstrakteren Ebene: Was sagt uns die Lage in Hongkong im Hinblick auf den Zustand unserer Zeit? Die gesamte Situation in Hongkong scheint eine Oberflächenerscheinung eines weitaus tiefer greifenden Phänomens zu sein. Es scheint darauf hinzudeuten, dass Menschen an die universelle Gültigkeit von Menschenrechten glauben und selbst unter extremsten Bedingungen bereit sind für diese zu kämpfen. Ungeachtet der Tatsache, dass das neue Sicherheitsgesetz in Kraft getreten ist und die chinesischen Behörden jegliche Form der Demonstration explizit untersagt haben, fanden sich am 01. Juli dennoch mehrere Bewohner Hongkongs zusammen, um gegen das neue Sicherheitsgesetz zu protestieren. Die Bewohner Hongkongs sind sich ihrer Privilegien bewusst und bereit für diese zu kämpfen.
Black Lives Matter und der Kampf um die Anerkennung der eigenen Privilegien
Im Gegensatz zu den Protesten in Hongkong sind die durch den Tod von George Floyd initiierten Proteste einer etwas anderen Natur. Hier wollen die Betroffenen nicht um einen Erhalt ihrer Privilegien kämpfen, sondern primär um eine Anerkennung der ihnen eigentlich zustehenden Privilegien. Unter dem Begriff des Privilegs ist in diesem Zusammenhang die auf Menschenwürde beruhende Gleichbehandlung in einem System zu verstehen, welches sich als freiheitlich und demokratisch bezeichnet. Betrachtet man die BLM Proteste genauer, so stellt sich vor allem folgende Frage: Ist der Rassismus das Problem oder ein System, welches Rassismus ermöglicht? Eine ähnliche Frage lässt sich im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Lage in Hongkong stellen. War es jemals Chinas Absicht die Sonderverwaltungszone Hongkong wirklich als frei anzuerkennen? Oder war die Prämisse “Ein Land, zwei Systeme“ ein systemimmanenter Unterdrückungsmechanismus, welcher sich im Gewand der Freiheit gekleidet hat?
Lässt sich nicht auch eine ähnliche Frage im Hinblick auf die durch Covid-19 ausgelöste Situation stellen? Viele Menschen belächeln diejenigen, welche zu Beginn der Pandemie gesagt haben, dass unsere Welt nach Corona eine andere sein wird. Unabhängig davon, dass das Virus faktisch noch existiert, muss an dieser Stelle ebenfalls die Frage gestellt werden: Sind wir tatsächlich wieder zur Normalität zurückgekehrt, weil wir unseren alltäglichen Gewohnheiten – unter eingeschränkten Bedingungen – wieder wie gewohnt nachgehen? Oder leben wir nicht eher in der Illusion des Normalen, wohl wissend, dass unsere Gesellschaft gerade einen praktischen Paradigmenwechsel durchlaufen hat. Denjenigen, welche behaupten, dass das albernes Gerede sei, da wir doch längst wieder beim alltäglichen Chaos angelangt sind, sei folgende Gegenfrage zu stellen: Selbst wenn wir wieder bei der Normalität angelangt sind, sind nicht allein derartige Gedankengänge bereits ein Anzeichen dafür, dass viele Menschen mit dem alten System unzufrieden waren?
Wir müssen unartig sein und die böse Systemfrage stellen
Derzeit gilt es als besonders problematisch, wenn man die Systemfrage stellt, da das, was in Frage gestellt wird, vielen Menschen auf der Welt ein beträchtliches Maß an Wohlstand gebracht hat. Derartige Kritiken verkennen jedoch, dass eine derartige Systemfrage nicht zwingend nach einer radikalen Umwälzung des kapitalistischen Systems strebt. Alles was ich unter dem Begriff der Systemfrage primär verstehe, ist das Bestreben das gegenwärtige System zu perfektionieren. Diese Perfektionierung sollte vor allem auf eine Minimierung all der negativen ökologischen, sozialen und anti-egalitären Konsequenzen ausgerichtet sein.
Man mag an dieser Stelle die Frage stellen, warum ich erst über Covid-19, dann über Hongkong und BLM und zuletzt über die kapitalistische Systemfrage schreibe. Ganz einfach: Weil es alles mehr miteinander zusammenhängt, als wir es zunächst vermuten mögen. Natürlich kann man den Einwand liefern, was rassistische Einstellungen und durch den Kapitalismus erzeugte ökonomische Ungleichheiten miteinander zu tun haben. Meine naive Gegenfrage lautet: Kann man nicht davon ausgehen, dass in einer Welt, in der es allen Menschen gut geht, Hass, Gewalt und Rassismus weitaus geringere Chancen haben einen Nährboden zu finden? Es scheint nur schwer zu bestreiten, dass das Virus einige systemimmanente Ungerechtigkeiten aufgezeigt hat. Die Liste an Ungerechtigkeiten reicht von der hohen Mortalitätsrate schwarzer und ökonomisch schlechter gestellter US-Amerikaner, den grausamen Zuständen in den Favelas von Rio bis hin zu unterbezahlten Arbeitern, welche während der Ausgangsbeschränkungen dennoch weiter funktionieren mussten (Stichwort: Systemrelevanz!). Der Umgang mit den durch das Virus ausgelösten Konsequenzen hat gezeigt, dass eine auf egalitären Grundsätzen beruhende Anerkennung der Menschenwürde allenfalls ein Narrativ zu sein scheint, welches wir uns tagtäglich erzählen, um das bestehende System in unveränderter Form zu reproduzieren. Umso paradoxer mutet die Tatsache an, dass das Virus selbst, im Gegensatz zu dem Wirt, den es befällt, relativ egalitär ist.
Covid-19: der egalitäre Aufklärer und seine anti-egalitären Wirte
Im Jahr 1971 veröffentlichte der US-amerikanische Philosoph John Rawls sein magnum opus Eine Theorie der Gerechtigkeit (2). Grundlage von Rawls Theorie bilden die Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Auch wenn Rawls sich im Großen und Ganzen auf politische Rechte und Freiheiten des Menschen beruft, lassen sich einige Aspekte seiner Überlegungen problemlos auf die gegenwärtige Situation um Covid-19 applizieren.
Um jedermann die gleichen Rechte und Freiheiten zu ermöglichen, bedarf es nach Rawls eines Gesellschaftsvertrages, welcher in einem Urzustand von verschiedensten Individuen geschlossen wird. Um eine derartige, von Gerechtigkeit geprägte Situation zu gewährleisten, geht Rawls von einem sogenannten „Schleier des Nichtwissens“ aus, welcher blind gegenüber den sozialen und natürlichen Unterschieden, die zwischen den verschiedenen Individuen vorherrschen, ist. In diesem Zusammenhang legt Rawls sehr ausführlich dar:
„Zu diesem Zweck setze ich voraus, daß sich die Parteien hinter einem Schleier des Nichtwissens befinden. Sie wissen nicht, wie sich die verschiedenen Möglichkeiten auf ihre Interessen auswirken würden, und müssen Grundsätze allein unter allgemeinen Gesichtspunkten beurteilen. Es wird also angenommen, daß den Parteien bestimmte Arten von Einzeltatsachen unbekannt sind. Vor allem kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status; ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw. Ferner kennt niemand seine Vorstellung vom Guten, die Einzelheiten seines vernünftigen Lebensplanes, ja nicht einmal die Besonderheiten seiner Psyche wie seine Einstellung zum Risiko oder seine Neigung zu Optimismus oder Pessimismus. Darüber hinaus setze ich noch voraus, daß die Parteien die besonderen Verhältnisse in ihrer Gesellschaft nicht kennen, d.h. ihre wirtschaftliche und politische Lage, den Entwicklungsstand ihrer Zivilisation und Kultur. Die Menschen im Urzustand wissen auch nicht, zu welcher Generation sie gehören“ (Rawls 1971, 159-160).
Findet sich ein derartiger Schleier des Nichtwissens nicht auch bei dem SARS-CoV-2 Virus wieder? Ein Virus ist ebenfalls eine relativ egalitär agierende Entität- von einem Lebewesen kann man nicht einmal sprechen. Frei von jeglicher Form der semantischen Kategorienzuweisung sucht sich das Virus seinen jeweiligen Wirt aus – unabhängig von seinem sozialen Status, seinen natürlichen Gaben, seiner Intelligenz, seinen Vorstellungen von einem guten Leben, seinen psychologischen Dispositionen, geschweige denn von seiner wirtschaftlichen oder politischen Lage. Kurzum: Das Virus schert sich nicht darum, wer wir sind; es kann jeden von uns treffen. Bei einem Virus handelt es sich zudem um eine relativ dümmliche Form der Existenz, welche nicht einmal einen eigenen Stoffwechselapparat besitzt und zur eigenen Vermehrung unweigerlich auf einen Wirt angewiesen ist. Die Dümmlichkeit seiner eigenen Existenz wird umso mehr durch den Schleier des Nichtwissens deutlich, welchen das Virus gegenüber seinem Wirt besitzt.
Darüber hinaus scheint das Virus- trotz seiner Abwesenheit intellektueller Kapazitäten- eine aufklärerische Funktion für das menschliche Zusammenleben bereit zu stellen. Es zeigt uns, dass viele Hypothesen, die wir bisher für richtig hielten, falsifiziert gehören. Dies wird nicht allein durch saubere Wasserkanäle in Venedig und saubere Luft in China deutlich, sondern auch dadurch, dass viele unserer bisherigen Wirtschaftsmodelle und unserer Vorstellungen von guter Arbeit und wirtschaftlichem Wachstum auf falschen Annahmen zu beruhen scheinen, was durch die ökonomischen und sozialen Ungerechtigkeiten während er Krise besonders deutlich wurde.
In was für einer Welt wollen wir leben?
Vor den Hintergrund all dieser Ungerechtigkeiten scheint es unumgänglich die Systemfrage zu stellen. Wichtig ist dabei jedoch, dass wir sie auf die richtige Art und Weise stellen. Im Folgenden sollen einige Vorschläge gemacht werden, wie wir die Systemfrage auf die richtige Art und Weise stellen.
(I) Trump und Rassismus: Statt zu fragen, wie Trump und seine Anhänger nur so vulgär und rassistisch sein können, sollten wir nach den kausalen Grundmechanismen fragen, welche Trump erst zur Macht verholfen haben. Dies mag ein provokantes Statement sein: Aber machen wir es uns nicht zu leicht wenn wir uns gegenseitig diffamieren und beschimpfen? Werden hierdurch nicht ohnehin schon starke gesellschaftliche Spaltungen unweigerlich weiter perpetuiert?
Der US-amerikanische Fernsehmoderator Bill Maher hat in diesem Zusammenhang vor einigen Tagen eine äußerst treffende Kritik geäußert. Maher hat darauf aufmerksam gemacht, dass einige weiße BLM Demonstranten wenig zur Bekämpfung vom Rassismus beitragen, indem sie die Sprache und das Verhalten anderer Demonstranten rigorosen Analysen im Hinblick auf die politische Korrektheit unterziehen (den Begriff der “politischen Korrektheit“ hat Maher selbst allerdings nicht verwendet). Durch diese gegenseitigen Spaltungen und Diffamierungen wird laut Mahrer das Phänomen des Rassismus am Ende nicht effektiv bekämpft werden, sondern unweigerlich weitere gesellschaftliche Spaltungen erzeugt. Nicht jeder Mensch, so Maher, der nicht auf eine BLM Demonstration geht ist gleichzeitig ein Rassist (wie es viele gerne leichtfertig behaupten), sondern hat eventuell einfach nur zwei Jobs und muss dabei eine Familie ernähren.
Auch wenn Mahers Aussagen, gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Situation, etwas Unkomfortables an sich haben, sind sie es dennoch wert, dass man sich gedanklich mit ihnen auseinander setzt. Die Legitimation sich gedanklich mit ihnen auseinander zu setzen speist sich sogar geradezu aus ihrer Unbequemlichkeit, denn die Systemfrage ernsthaft und sinnbringend zu stellen sollte niemals bequem sein. Wie Noam Chomsky in diesem Zusammenhang in einem YouTube Interview vor einigen Wochen – sinngemäß – anmerkte: Es geht um do good und nicht um feel good Politik. Wie könnte also eine do good Politik aussehen in diesem Zusammenhang? Der Zweck dieser Politik sollte klar sein: Den Rassismus – und jegliche Form der ungerechten Diskriminierung – aus unseren Gesellschaften beseitigen. Die entscheidende Frage lautet in diesem Zusammenhang vor allem: Welche Mittel lassen sich sinnbringend einsetzen, um einen derartigen Zweck zu erreichen? Und wie bereits gesagt: Rassismus ist furchtbar. Aber ist es nicht noch furchtbarer, dass wir in einem System leben, das Rassismus überhaupt möglich macht? Es müssen sämtliche systemische Rahmenbedingungen genau überprüft werden, um die kausalen Ursprünge derartiger Probleme (Stichwort: Spaltung zwischen arm und reich, Polizeigewalt etc.) ausfindig zu machen, denn ein nachhaltiger gesellschaftlicher Wandel sollte nicht nur den Rassismus, sondern auch andere Probleme eliminieren. Und davon gibt es genug.
(II) Nun zu Hongkong. Statt die Frage zu stellen, warum China den armen Menschen in Hongkong ihre Freiheitsrechte nimmt, sollten wir erstens fragen: Was können wir als Europäische Union für die Menschen in Hongkong tun? Es reicht nicht, dass wir einfach China kritisieren und daraufhin das nächste Handelsabkommen abschließen. Die zweite Frage sollte in diesem Zusammenhang also lauten: Warum überdenken wir, als europäische Union, unser Verhältnis zu China lediglich auf einer theoretischen, nicht jedoch auf einer praktischen Ebene? Einem Land, in welchem die KP den Menschen in Hongkong nicht nur ihre grundlegenden Freiheitsrechte nehmen möchte, sondern auch die muslimische Minderheit der Uiguren in Lager gesperrt und Berichten zufolge Zwangssterilisierungen unterwirft.
(III) Klimawandel: Eine dritte wichtige Frage betrifft die Ökologie und das damit zusammenhängende Thema des Klimawandels. Auch hier gilt es die richtigen Fragen zu stellen. Die allerwichtigste Frage lautet in diesem Zusammenhang: Wie lässt sich der Klimawandel eindämmen? Sicher nicht durch moralische Diffamierungskampagnen, wenn jemand etwas zu viel Fleisch isst und Coffee- to Go Becher benutzt. Hierdurch wird dem rechten politischen Spektrum nur die Möglichkeit gegeben Begriffe wie “Öko-Diktatur“ in den allgemeinen Diskurs einzubringen. In klimaethischen Debatten ist es zudem mittlerweile Konsens, dass ein Wandel nur im Kollektiv möglich ist, wodurch auch wieder unweigerlich die Systemfrage mit ins Spiel kommt. Hier ließe sich beispielsweise die Frage stellen, wie wir eine ökologisch nachhaltige Transformation des Wirtschaftssystems vollziehen können, ohne gesellschaftliche Spaltungen zu erzeugen. Und auch hier dürfen wir die Interdependenz zwischen ökologisch nachhaltiger Wirtschaft und global-ökonomischen Faktoren nicht außer Acht lassen. So sollte in einer derartigen Transformation beispielsweise auch der lateinamerikanische Farmer berücksichtigt werden, dessen ökonomische Existenzgrundlagen meist durch den Export eigens angebauter Lebensmittel gesichert werden.
Bei all unseren Protesten für eine ökologisch nachhaltigere Zukunft dürfen wir nicht vergessen, dass wir uns nichts desto trotz in einem global-ökonomischen Wirkungsgefüge befinden. Eine Politik der Nachhaltigkeit sollte nicht auf Kosten der ökonomisch schwächer Gestellten erfolgen. Auch hier tritt die Unbequemlichkeit der Systemfrage wieder mehr als deutlich zutage. Wenn uns wirklich an dem Wohl unseres Planeten und der nachkommenden Generationen (und der bereits jetzt schon massiv betroffenen Menschen auf Teilen unseres Planeten!) gelegen ist, müssen wir auch hier die Frage erneut stellen: Welche Mittel erweisen sich als sinnvoll, um diesen Zweck zu erreichen? Feel good Politik, mit welcher ich andere verurteile, weil sie gern Fleisch essen und Auto fahren ist auch hier zu einfach, da sie jegliche Komplexitäten und sozial-historische Wirkzusammenhänge unberücksichtigt lässt. Do good Politik ist dagegen weitaus schwieriger, da sie alle relevanten Faktoren – global-ökonomische Verteilungsgerechtigkeit, ökologische Aspekte, gesellschaftlichen Strukturwandel – mit einbezieht.
Lasst uns nicht der Truthahn sein!
All die Zuvor erwähnten Aspekte deuten darauf hin, dass die Normalität, in der wir uns derzeit befinden, allenfalls illusorischer Natur ist. Wir befinden uns vielmehr – um Thomas S. Kuhns Konzept auf einen anderen Kontext zu applizieren – inmitten eines gesellschaftlichen Paradigmenwechsels. Es scheint viel Unzufriedenheit zu geben, da viele der alten Hypothesen, auf welchen unsere Vorstellungen von einem guten Leben basieren, sich als fragiler als zunächst angenommen erweisen. Deshalb scheint es jetzt umso wichtiger die Systemfrage – mit all den ihr inhärenten Unbequemlichkeiten – zu stellen: Wie können wir eine Welt schaffen, in der es möglichst vielen gut geht? Und welche Mittel sind zur Erreichung dieses Zweckes wirklich sinnvoll? Diese Fragen müssen wir uns jetzt stellen. Wenn wir weiterhin zu bequem sind, geht es uns wie dem Truthahn!
Buchquellen:
(1) Mukerji, N., & Mannino, A. (2020). Covid-19: Was in der Krise zählt: über Philosophie in Echtzeit (2. Auflage.). Ditzingen: Reclam.
(2) Rawls, J. (2008). Eine Theorie der Gerechtigkeit (1. Aufl., [Nachdr.].). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Florian Maiwald (27) studiert Philosophie, Englisch und Bildungswissenschaften im Master an der Universität Bonn und betreibt den Philosophie- Blog „Meta-Ebene“.