Als sich Wohnungssuchende noch ohne Makler*innen trafen.
Das seit 21 Jahren querfeministische Wohnprojekt Liebigstrasse 34 feierte kürzlich seinen 30ten Geburtstag mit viel Musik und Kultur auf dem Dorfplatz vor dem Haus.
Als sich Wohnungssuchende noch ohne Makler*innen trafen
Der Spaziergang begann am vergangenen Sonntag um 14 Uhr in der Nähe des S-Bahnhofs Warschauer Strasse, der damals der Startpunkt für Menschen waren, die wie Stino dringend eine Wohnung suchten. Anfang fanden sich wieder über 50 Interessierte ein, die mehr über die Geschichte der Liebig 34 wissen wollten. „So viel waren wir damals auch“, sagte Stino spontan Aber ein Unterschied zu damals fiel ihm sofort auf. Zwei Polizeiwannen standen in der Nähe des Kiezspaziergangs. „Von der Ostberliner Volkspolizei, die damals noch für Ostberlin zuständig war, hatten wir vor 30 Jahren nichts gesehen“, erklärte Stino.
Aber auch 30 Jahre später hielt sich die Polizei auch zurück und versuchte nicht, wie öfter in Berlin-Friedrichshain, Organisator*innen von Kiezspaziergängen wegen Nichtanmeldung einer Demonstration und damit Verstoss gegen das Versammlungsgesetz zu kriminalisieren. Vielleicht trug dazu auch ein Gerichtsurteil von vor 2 Wochen bei, das einen solchen Kriminalisierungsversuch zurückwies und klarstellte, dass ein Kiezspaziergang keine Demonstration ist und daher keiner Anmeldung beim Ortsamt bedarf. Stino erklärte zu Beginn, wie bunt zusammengewürfelt die Menschen waren, die sich zur vor 30 Jahren getroffen hatten.
Es gab Jüngere und Ältere, viele kamen in kleinen Gruppen, andere waren wie Stino alleine gekommen. Sie alle einte nur, dass sie eben eine Wohnung suchten. Stino berichtet auch, wie die Menschen in die vielen leerstehenden Häuser gingen und diese darauf inspizierten, ob sie noch bewohnbar waren, wie die Beschaffenheit der sanitären Anlagen und der Zustand der Öfen aussah. Mit der Zeit sei der Kreis immer kleiner geworden. Einige seien weggegangen, aber die meisten hätten ein Haus gefunden, in das sie eingezogen sind, erinnert sich Stino. Er habe es schon mit der Angst zu tun bekommen, weil er befürchtete, kein Haus zu finden, obwohl er in wenigen Tagen sein Zimmer, dass er temporär gemietet hatte, räumen musste. Etwas mehr Mut bekam er wieder, als ihm eine Frau und ein Mann versicherten, dass sie auch noch am gleichen Tag ein Haus zum Wohnen finden wollten.
Die Türöffner*innen für die Liebigstrasse 34
Die Dreiergruppe wurde dann schliesslich die Türöffner*innen für das Hausprojekt Liebigstrasse 34. Wenige später wäre eine Besetzung geräumt wurden, weil sich die Behörden in Ost- und Westberlin auf den Stichtag 24. Juli geeinigt hatten. Alle nach diesen Termin besetzten Häuser waren auch in Ostberlin bis Januar 1991 geräumt. Die anderen Häuserhatten zumindest potentiell die Möglichkeit, zu Verhandlungen. Im Laufe der Route zeigte Stino am Beispiel des Stadtteilladens Zielona Gora eine erfolgreiche Verhandlung über die Legalisierung einer Besetzung. Der Stadtteilladen ist heute auch ein Treffpunkt für Menschen mit niedrigen Einkommen im Stadtteil. Es wurde über den Namen gesprochen, mit dem revanchistischen Namen Grünberger Strasse ein Kontrapunkt gesetzt wurde. Es wurde auch eine Initiative angeregt, die Grünberger Strasse in Zielona Gora – Strasse umzubenennen. Der gleichnamige Stadtteilladen könnte dafür vielleicht ein Treffpunkt sein.
Mainzer Strasse – die grosse Niederlage der Besetzer*innenbewegung
Ca. 300 Meter weiter berichtete Stino über die grosse Niederlage der Ostberliner Besetzer*innenbewegung vor 30 Jahren. Es ging um die Mainzer Strasse und deren Räumung am 12./13. November 1990. Diese Ereignisse hat Stino in seinem Buch ebenfalls verarbeitet. Zudem lieferte ein damaliger Bewohner eines der besetzten Häuser in Mainzer Strasse wichtige Details zur Räumung und der Strategie von Politik und Polizei, jegliche Verhandlungen zur Vermeidung einer Räumung ins Leere laufen zu lassen. Es sei darum gegangen, „der Bewegung den Kopf abzuschlagen“, das sei ein Zitat aus einen der Polizeidokumente jener Tage. Rund um den 12./13. November 2020 wird es im Jugendwiderstandsmuseum eine Ausstellung zur Mainzer Strasse geben, die von Historiker*innen erarbeitet wird. Es ist zu hoffen, dass dort die Menschen einbezogen werden, die damals die Häuser besetzten. Menschen wie Stino, die einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Geschichte nicht vergessen wird.
Die Kämpfe von einkommensarmen Menschen nicht vergessen
Der Sozialaktivist Harald Rein, der zur Erwerbslosenbewegung recherchiert hat, kommt zu dem Fazit, dass die Kämpfe von einkommensarmen Menschen in der Geschichte oft vergessen werden. Sie werden verdrängt von Grossgewerkschaften und Parteien. Sie sind auch manchmal bei linken Projekten nicht gerne gesehen, weil sie ja lebendige Zeug*innen und Geschichtsmythen erschweren. Stino hat mit seinem im Selbstverlag herausgegebenen Buch einen Beitrag wieder in Erinnerung gerufen, dass die Besetzung der Liebigstrasse 34 vor 30 Jahren auch eine solche Aktion von einkommensarmen und wohnungslosen Menschen war.
Seit 1999 ist es ein querfeministisches Wohnprojekt und aktuell von Räumung bedroht, weil es dem Verwertungsinteressen des Hauseigentümers Padovicz im Wege steht. Ein solches Wissen um die differenzierte Geschichte des Hauses kann die Solidarität aktuell mit den Bewohner*innen nur fördert. Das zeigte sich am Sonntag durch das grosse Interesse an dem Spaziergang, der ausdrücklich nicht nur als historischer bezeichnet wurde. Es wurden auf der Route immer wieder über aktuelle Gentrifizierungsprojekte aber auch den Widerstand dagegen berichtet. Schliesslich ging die Initiative für den Spaziergang von einer Nachbarschaftsgruppe im Friedrichshainer Nordkiez aus, die mehrere Jahre gegen das Projekt der CG-Gruppe in der Rigaer Strasse 71- 73 mobilisiert hat.
Gemeinsam mit Stino haben sie nicht nur an einen Kampf von (einkommens)armen Menschen erinnert, sondern sich auch die Frage gestellt, warum nicht auch heute wieder Menschen auf der Suche nach Wohnraum leerstehende Wohnungen und Gebäude inspizieren, die es auch in Berlin weiterhin gibt. Und am Ende war allen Beteiligten klar, Hausprojekte wie die Liebigstrasse 34 oder die gerade wieder von einer im Fokus von Polizeiräumungen stehende Rigaer Strasse 94 zum Stadtteil gehören wie die vielen Mieter*innen mit niedrigen Einkommen auch. Nicht willkommen sind Investoren wie Padovicz oder die CG-Gruppe, die mit ihren Projekten dafür sorgen würden, dass Menschen mit geringen Einkommen vertrieben werden.