Afroreligiöse Gemeinden in Brasilien schließen sich der sozialen Bewegung an, die sich für mehr Demokratie und ein Amtsenthebungsverfahren gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro einsetzt.
In der Gemeinde Axé Abassá de Ogum in Salvador de Bahía stimmten am 17. Juni große Trommeln das Lied der Göttin der Gerechtigkeit Xangô an. Dabei verkündeten einige Sprecher*innen afroreligiöser Gemeinden der „terreiro“ (dort werden Riten der verschiedenen afroreligiösen Religionen praktiziert, wie zum Beispiel die Macumba und der Candomblé, Anm. d. Ü.) das Manifest „Fora Bolsonaro e Mourão“ („Weg mit Bolsonaro und Mourão“). Hamilton Mourão ist ehemaliger General und jetziger Vizepräsident Brasiliens. Die Bewegung schließt sich den wachsenden Mobilisierungen an, die mit Beginn der Pandemie entstanden waren. Sie kämpfen für den Erhalt der Demokratie und des Lebens in Brasilien.
Der Text wurde von mehr als 1000 Mitgliedern der Bewegung der Schwarzen, terreiro-Gemeinden und religiösen Anführer*innen unterzeichnet. Es prangert die wiederkehrenden rassistischen Hassdiskurse Bolsonaros und die fehlenden Gesundheitspolitiken vonseiten der Regierung an. Laut dem Manifest sei gerade die schwarze und arme Bevölkerung des Landes gegenüber der Corona-Pandemie am verletzlichsten. Die Organisationen kritisieren zudem die staatliche Verstrickung bei Ermordungen von jungen Schwarzen und die anhaltenden Angriffe auf ihre Kultur und Religion.
„Politisches, wirtschaftliches und moralisches Chaos“ angeprangert
In der Erklärung heißt es: „Wir, die wir von afrikanischen Traditionen geprägt sind, Anhänger*innen des linken Macumba, nehmen uns selbst in die Pflicht, uns bezüglich des politischen, aber auch wirtschaftlichen, ethischen und moralischen Chaos in unserem Land zu positionieren. Wir können nicht weiter stillschweigend den Aggressionen zusehen, die durch einen Präsidenten befeuert werden, der voller Hass und Todesgelüste ist.“ Weiterhin lautet der Text: „ ‚Weg mit Bolsonaro und Mourão‘ ist der einzige Weg, uns zu schützen, um weiterhin für eine Gesellschaft ohne Rassismus zu kämpfen.“
Die Landlosenbewegung MST (Movimento das Trabalhadoras e Trabalhadores Sem Terra) hatte das Manifest live über ihre Kanäle in den sozialen Medien mit einer anschließenden Diskussion übertragen. Sie drehte sich um die aktuelle Lage und ihre Auswirkungen auf das Leben, die Religion und die Kultur der schwarzen Bevölkerung Brasiliens.
Die Koordinatorin des Nationalen Zentrums für Afrikanismus und afrobrasilianischen Widerstand CENARAB (Centro Nacional de Africanidade e Resistência Afro-Brasileira), Makota Celinha, hat die Veranstaltung mitorganisiert und betonte: „Wir dürfen im Augenblick nicht schweigen, da es sich um einen der tragischsten Momente in der Geschichte unseres Landes handelt. Ein Land, das mit dem Blut unserer Vorfahren errichtet wurde und mit dem Blut der Indigenen. Deshalb haben wir zu dem Treffen aufgerufen und dieses Manifest veröffentlicht.“
Unter den Teilnehmer*innen der Veranstaltung waren auch Val Santos von der MST-Bewegung, Nilma Lino, Pädagogin und emeritierte Professorin der Universidade Federal de Minas Gerais (UFMG), Sonia Guajajara von der Indigenen-Organisation APIB (Articulação dos Povos Indígenas do Brasil) und João Pedro Stedile von der nationalen Führung des MST.
Über 300 tote Indigene durch das Coronavirus
Nachdem Nilma Lino das Manifest verlesen hatte, prangerte die indigene Anführerin Sonia Guajajara die bereits mehr als 300 toten Indigenen und über 5.000 Infizierten durch das neuartige Coronavirus an (laut Erhebungen der APIB). Der Grund für die Todesfälle sei nicht die Krankheit allein, sondern die Politik der Bolsonaro-Regierung, die die Bevölkerung im Stich lasse, neben dem kapitalistischen System und dem strukturellen Rassismus.
Sonia Guajajara nannte die aktuelle politische Führung des Landes eine „Nekro-Politik“ (Achille Mbembe 2003) und forderte: „Wir müssen uns in unseren Kämpfen und mit unseren Stimmen zusammen gegen Bolsonaro und Mourão stellen. Wir müssen zudem auch mit anderen chronischen Schwächen brechen, wie dem aktuellen Wirtschaftsmodell, das völlig unterdrückend, räuberisch und zentralistisch ist.“ Deshalb sei es sinnvoll, dass die terreiro-Mitglieder sich an die Bewegung der indigenen Bevölkerung und an die Landlosenbewegung MST anschließen, um gemeinsam ihre jeweiligen Lebensweisen und ihre Produktionsweise für mehr Gerechtigkeit und Freiheit zu stärken. „Auf dass nie mehr eine Trommel zum Schweigen gebracht wird, nie mehr ein Indigener verbrannt wird und all unsere Ökosysteme geschützt werden“, so die Aktivistin.
„Der Schmerz eint uns“
Auch Nilma Lino, Pädagogin und emeritierte Professorin der UFMG, unterstützte das Engagement der emanzipatorischen schwarzen, indigenen und bäuerlichen Bevölkerungsgruppen: „Der Schmerz eint uns“ im Einsatz für eine pluralistische Demokratie, so Lino. Während der Regierungszeit von Dilma Rousseff (PT) war sie als Ministerin für Frauen, ethnische Gleichstellung und Menschenrechte tätig, das unter Bolsonaros Regierung wieder abgeschafft wurde. „Eine sogenannte ‚radikale Demokratie‘ ist antikapitalistisch, antirassistisch, antipatriarchal, anti-LGBTI-phobisch, antineoliberal und antifaschistisch. Wir müssen uns vereinen und ich denke, dieses Manifest drückt diese Idee aus. Diese Demokratie ist imstande, diejenigen zu stürzen, die seit Antritt ihrer Ämter durchweg die Demokratie selbst abgelehnt haben; eine Demokratie, die wir aufgebaut haben“, erklärte Nilma Lino.
Die Krise des Kapitalismus, die eine Umweltkrise und die aktuelle Gesundheitskrise durch die Corona-Pandemie ausgelöst hat, analysierte João Pedro Stedile im Namen der MST und der Frente Brasil Popular, die ebenfalls die Forderung „Fora Bolsonaro“ unterstützt und sich der Bewegung der terreiro-Gemeinden angeschlossen hat. Diese sozialen Bewegungen seien der Meinung, dass das Problem durch die arbeitende Schicht und den Großteil der Bevölkerung gelöst werden könne, was auch dem Manifest zu entnehmen ist. Dieses post-kapitalistische Projekt würde mit dem Sturz der Regierung beginnen. Stedile betonte: „Es soll sich um ein Projekt handeln, welches auf der Gleichheit aller Brasilianer*innen beruht, die von ihrer Arbeit leben können. Um ein solches Projekt für nach der Krise zu diskutieren und aufzubauen, wie es das nun veröffentlichte Manifest besagt, ist es notwendig, zuerst die Regierung auszutauschen. Deshalb stellt „Fora Bolsonaro“ eine Bedingung für das Überleben der brasilianischen Bevölkerung dar; wenn wir diese Regierung nicht zu Fall bringen, können wir über 100.000 Tote haben.“
Widerstand gegen „Regierung des Todes“
Der Widerstand gegen diese „Regierung des Todes“ wurde durch die Journalistin Makota Celinha angestoßen, Koordinatorin des Nationalen Zentrums für Afrikanismus und afrobrasilianischen Widerstand CENARAB. „Wir entstammen alle der Tradition einer afrikanischen Herkunft. Von unseren Vorfahren sind wir deshalb dazu aufgerufen, jetzt und aktiv bessere Bedingungen zu schaffen. Für mich besteht dieses Szenario in dem Kampf gegen die Nekro-Regierung und für die Forderung ‚Fora Bolsonaro e Mourão‘. Wir müssen eine Vereinigung von guten Menschen schaffen, denn das Schweigen der Guten wird uns den Tod bringen. Wir müssen diese Trommeln schlagen und darauf hoffen, dass die momentane Todesspirale abreißt. Unsere althergebrachte Identität wird uns in diesem Moment vereinen“, so Makota Celinha.
Das Manifest sammelt weiterhin Unterschriften und gewinnt an Beteiligung, bis es als Antrag auf ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten an den Kongress übergeben wird. Bisher sind bereits 28 Anträge auf ein solches Verfahren eingegangen.
Übersetzung: Miriam Blaimer für Nachrichtenpool Lateinamerika