Persönliche Strategien können helfen. Zuweilen muten sie an wie Knastprogramme in exklusivem Umfeld. Eine durchdachte Diät, körperliche Ertüchtigung und feststehende Routinen. Das hilft, ist aber nur die Hälfte des Himmels.
Alleine überleben die wenigsten. Was der Mensch braucht, ist soziale Interaktion und Gemeinschaft. Wem das komplett entzogen wird, der oder die kann sich kaum halten. Dass nun, als Folge einer längeren sozialen Isolation viele Gemüter nahezu explodieren, ist nicht unbedingt ein Grund zu völliger Überraschung.
Einer forcierten Unterdrückung von Bedürfnissen – unabhängig davon, aus welchen Motiven sie veranlasst wurde – folgt irgendwann die Gegenbewegung. Selbst bei dem Phänomen des Amok ist es, in seiner geografischen Ursprungsregion, das ewige und eisern herrschende Gesetz der Mäßigung, das die Menschen irgendwann in einen Zustand des Alles-außer-Kraft-setzens katapultiert.
Gemeinschaften im Mikrokosmos
Der Umgang mit den Ausbrüchen der unterdrückten Regung zeigt, ob ein Verständnis für die Ursache vorliegt oder nicht. Doch unabhängig davon ist die entscheidende Frage, wie, neben den eigenen persönlichen Überlebensstrategien, die Gemeinschaft aussehen muss, die es ermöglicht, auch unter erschwerten Bedingungen zu lebenswerten Perspektiven zu gelangen.
Der Begriff der Schicksalsgemeinschaft ist in vieler Hinsicht überfrachtet. Zudem bezieht er sich auf die negative Ausgangslage. Gemeinschaften, die sich darüber definieren, dass sie eine konkrete Gefahr überstehen, verlieren ihre Grundlage, wenn diese überstanden ist. Dann fallen sie auseinander. Wenn der Krieg vorbei ist, dann ist er vorbei und jeder geht seinen eigenen Weg.
Anders ist es, wenn nicht gesagt werden kann, wie lange ein bestimmter Zustand anhalten und ob er sich jemals ändern wird. Viele Faktoren des aktuellen Panoramas deuten darauf hin, dass vieles, das sich auf Infektionsmöglichkeiten bezieht, durchaus sehr lange so bleiben kann. Und noch mehr Erscheinungen suggerieren, dass sich vieles auch in gesellschaftlich-struktureller Hinsicht verändern wird. Ob da irgendwann irgendwer wieder seiner Wege geht, wie wir es aus der Erinnerung kennen, kann sich als frommer Wunsch entpuppen. Vieles spricht für eine verstärkte Notwendigkeit von Gemeinschaften, die gewaltige Stürme zu überstehen vermögen.
„Wir leben in der Stunde des Mikrokosmos. Ihn zu gestalten, ist eine gewaltige Chance. Nie war mehr Raum. Und wer jetzt zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Die Epoche nach der Hyperindividualisierung
Der Vorteil einer intakten Gemeinschaft, einer Vereinigung, eines Kollektivs, eines Bundes, oder wie es immer auch genannt werden mag, besteht in der Fähigkeit der gegenseitigen Unterstützung, Hilfe und Stabilisierung.
Das klingt vielen aus der Epoche der Hyperindividualisierung, die hinter uns liegt, sehr fremd. Sind die Zeiten jedoch so, wie beschrieben, das heißt, sind die sie prägenden Ereignisse nicht als Episode apostrophiert, sondern haben sie das Potenzial für eine lange Dauer, dann reicht es als Grundlage zur Beschreibung nicht aus, das aktuelle Phänomen, das alle bedroht, quasi als programmatische Grundlage für die Gemeinsamkeit zu nehmen. Dann ist ein großer Sprung gefordert, und er muss visionäre Züge haben.
Um Missverständnissen vorzubeugen: es muss nicht expressis verbis um gesellschaftliche Visionen gehen, sondern es muss eine ideale Vorstellung davon existieren, wie sich die gefundene Gemeinschaft heute, im Hier und Jetzt, idealtypischer Weise konstituiert. Und es klingt einfach, ist aber schwer zu machen.
Die einzelnen Glieder müssen sich mit Respekt begegnen, sie müssen sich vertrauen und sie dürfen nicht glauben, zu wissen, wohin die Reise geht. Solidarität im freien Fall, so könnte es beschrieben werden. Das klingt halsbrecherisch, erscheint aber eine wichtige Dimension zu sein, die zum Erschließen einlädt. Und sie unterscheidet sich in gravierender Weise von den ganzen punktuellen, zweckrationalen Bündnissen, die momentan zu tausenden havarieren.
Wir leben in der Stunde des Mikrokosmos. Ihn zu gestalten, ist eine gewaltige Chance. Nie war mehr Raum. Und wer jetzt zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wieder einmal?
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