Neuer Bericht von Amnesty International dokumentiert Repressalien gegen Beschäftigte im Gesundheitswesen, unsichere Arbeitsbedingungen sowie ungerechte Bezahlung
Mehr als 3.000 Gesundheitsarbeiter*innen starben nach COVID-19-Infektion – tatsächliche Zahl der Toten könnte jedoch viel höher liegen
Regierungen müssen sicherstellen, dass Gesundheitsarbeiter*innen und ihre Rechte geschützt werden, dazu zählt u. a. die ausreichende Versorgung mit angemessenen Schutzausrüstungen
Regierungen auf der ganzen Welt haben versagt, Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens während der COVID-19-Pandemie angemessen zu schützen: In einem neuen Bericht dokumentiert Amnesty International alarmierende Fälle von Gesundheitsarbeiter*innen, die mangelnde Schutzmaßnahmen gegen COVID-19 kritisiert hatten und daraufhin mit Repressalien konfrontiert waren – von Drohungen, Kündigungen bis hin zu Festnahmen.
Staaten, denen der schlimmste Teil der Pandemie noch bevorsteht, dürfen nicht die Fehler jener Regierungen wiederholen, deren Versagen beim Schutz der Rechte dieser besonders gefährdeten Berufsgruppen desaströse Folgen nach sich zog.
Sanhita Ambast, Amnesty-Expertin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
„Angesichts einer Situation, in der sich die COVID-19-Pandemie auf der ganzen Welt weiterhin rasant ausbreitet, fordern wir von den Regierungen, das Leben und Wohlergehen von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen endlich ernst zu nehmen. Staaten, denen der schlimmste Teil der Pandemie noch bevorsteht, dürfen nicht die Fehler jener Regierungen wiederholen, deren Versagen beim Schutz der Rechte dieser besonders gefährdeten Berufsgruppen desaströse Folgen nach sich zog“, sagt Sanhita Ambast, Amnesty-Expertin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, und sagt weiter:
„Besonders verstörend sind Fälle, in denen Regierungen diejenigen bestrafen, die lebensbedrohliche Arbeitsbedingungen kritisieren. Gesundheitsarbeiter*innen sind an vorderster Front tätig und merken sofort, wenn Regierungsmaßnahmen ins Leere laufen. Versuchen die Behörden, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, verwandelt sich ihr Anspruch, alles für die öffentliche Gesundheit zu tun, schnell in eine Farce.“
Regierungen müssen Rechenschaft für die zahlreichen Toten unter den Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen ablegen, die sich nicht angemessen vor den Gefahren der Pandemie schützen konnten, fordert Amnesty International.
Mangel an überlebenswichtiger Schutzausrüstung
In fast allen der 63 Staaten und Territorien, die Amnesty International für den Bericht untersucht hat, berichteten Gesundheitsarbeiter*innen vom kritischen Mangel an persönlicher Schutzausrüstung (PSA).
Das schließt auch Länder wie Indien, Brasilien und diverse Staaten in Afrika ein, denen der Höhepunkt der Pandemie noch bevorsteht. Ein Arzt aus Mexiko-Stadt berichtete Amnesty International, dass er und seine Kolleg*innen rund 12 Prozent ihres Monatseinkommens für die Beschaffung privater Schutzausrüstung ausgeben.
Auch in Österreich gab es Berichte aus den Medien sowie Auskünfte von Betroffenen direkt an Amnesty International, die belegen, dass es zu wenige geeignete Mund-Nase-Schutzmasken für das Gesundheitspersonal gab. 24h-Pflegebetreuer*innen wurden erst sehr spät geeignete Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt oder mussten diese selbst besorgen, kritisierte Amnesty International in einer kürzlich veröffentlichten Analyse über soziale Menschenrechte in Österreich. In der Analyse wurde die Einhaltung von sicheren und gesunden Arbeitsbedingungen, unter anderem für prekär und a-typsich beschäftigte Menschen, näher untersucht.
Neben einer weltweiten Knappheit dieser Produkte haben Handelsbeschränkungen den Mangel möglicherweise zusätzlich verschärft.
Im Juni 2020 ordneten 56 Staaten und zwei Handelsgemeinschaften (die Europäische Union und die Eurasische Wirtschaftsunion) Maßnahmen zum Verbot bzw. zur Beschränkung des Exports einiger oder aller Arten von Schutzausrüstung und deren Einzelbestandteilen an.
„Jede Regierung muss sicherstellen, dass ihre Gesundheitsarbeiter*innen ausreichend mit angemessenen Schutzausrüstungen versorgt sind. Für importabhängige Länder jedoch verstärkten die Handelsbeschränkungen den ohnehin bestehenden Mangel zusätzlich“, sagt Sanhita Ambast
„Die COVID-19-Pandemie ist ein globales Problem, das globale Zusammenarbeit erfordert.“
Sanhita Ambast, Amnesty-Expertin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Tausende Todesopfer
Derzeit gibt es keine systematische und global koordinierte Erfassung der nach einer COVID-19-Infektion verstorbenen Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen.
Gemäß der von Amnesty International zusammengetragenen Werte haben folgende Länder die bislang höchsten Todeszahlen in der Berufsgruppe der Gesundheitsarbeiter*innen zu verzeichnen: USA (507), Russland (545), Großbritannien (540, einschließlich 262 Sozialarbeiter*innen), Brasilien (351), Mexiko (248), Italien (188), Ägypten (111), Iran (91), Ecuador (82) und Spanien (63).
Der Gesamtwert liegt wegen nicht gemeldeter Fälle sehr wahrscheinlich noch um einiges höher als angegeben. Zudem sind genaue Vergleiche zwischen den Ländern schwierig, da es unterschiedliche Methoden für die Erfassung gibt. Frankreich beispielsweise hat nur in einigen Krankenhäusern und Gesundheitszentren Daten gesammelt, während in Ägypten und Russland die Regierung die Zahlen der gestorbenen Gesundheitsarbeiter*innen liefert.
Repressalien
In mindestens 31 der von Amnesty International untersuchten Länder beobachtete die Organisation, dass Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und anderen systemrelevanten Berufsgruppen wegen unsicherer Arbeitsbedingungen streikten, mit Streik drohten oder protestierten. In vielen Ländern reagierten die Behörden auf derartige Aktionen mit Repressalien.
In Ägypten beispielsweise dokumentierte Amnesty International die Fälle von neun Gesundheitsarbeiter*innen, die zwischen März und Juni willkürlich inhaftiert und aufgrund der sehr weit gefassten und vagen Straftatbestände „Verbreitung falscher Nachrichten“ und „Terrorismus“ angeklagt wurden. Die inhaftierten Personen hatten Bedenken in puncto Arbeitssicherheit geäußert oder den Umgang der Regierung mit der Pandemie kritisiert.
Ein ägyptischer Arzt berichtete Amnesty International, dass kritische Kolleg*innen mit Drohungen und Strafen überzogen sowie von der nationalen Sicherheitsbehörde verhört oder von Verwaltungsdienststellen befragt werden. Er sagte: „Viele (Ärzt*innen) ziehen es vor, ihre Schutzausrüstung selbst zu kaufen, um kraftraubende Diskussionen mit den offiziellen Stellen zu vermeiden. Damit stellen sie (die Behörden) die Ärzt*innen vor die Wahl zwischen Tod und Gefängnis.“
In einigen Fällen gingen die staatlichen Stellen unverhältnismäßig hart gegen die Streiks und Proteste vor. In Malaysia zum Beispiel löste die Polizei eine friedliche Kundgebung von Krankenhausreinigungskräften auf. Die Beschwerden der Teilnehmer*innen richteten sich gegen die ihrer Meinung nach unfaire Behandlung von Gewerkschaftsmitgliedern durch das Reinigungsunternehmen sowie gegen den unzureichenden Schutz der Putzkräfte im Krankenhaus. Die Polizei inhaftierte fünf Protestierende und klagte sie wegen Organisation und Teilnahme an einer „nicht genehmigten Versammlung“ an, was klar gegen das Recht dieser Menschen auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit verstößt.
„Die Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevante Berufsgruppen haben das Recht, ihre Stimmen gegen unfaire Behandlung zu erheben“, sagt Sanhita Ambast, und sagt weiter:
„Gesundheitsarbeiter*innen können ihren Regierungen wertvolle Unterstützung bieten. Dazu müssen sie aber frei und nicht im Gefängnis sein und dürfen überdies keine Angst haben, ihre Meinung zu äußern.“
Sanhita Ambast, Amnesty-Expertin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
„Gesundheitsarbeiter*innen können ihren Regierungen bei der Feinabstimmung der Pandemiemaßnahmen wertvolle Unterstützung bieten und für die Sicherheit und das Wohlergehen aller sorgen. Dazu müssen sie aber frei und nicht im Gefängnis sein und dürfen überdies keine Angst haben, ihre Meinung zu äußern.“
Aus verschiedenen Ländern gab es Berichte über Disziplinarmaßnahmen und Entlassungen von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemkritischer Berufsgruppen, nachdem diese ihre Bedenken kundgetan hatten.
In den Vereinigten Staaten beispielsweise wurde die ausgebildete Pflegehelferin Tainika Somerville entlassen, nachdem sie ein Facebook-Video mit der Forderung nach mehr Schutzausrüstungen veröffentlicht hatte. Tainika Somerville berichtete, dass die Belegschaft ihres Pflegeheims in Illinois nicht über die COVID-19-Fälle unter den Patient*innen informiert gewesen war, sondern erst aus den Medien davon erfahren hatte. Das Pflegeheim hatte bis zum 29. Mai insgesamt 34 Infektionen und 15 durch COVID-19 bedingte Todesfälle gemeldet.
In Russland dokumentierte Amnesty International die Fälle der beiden Ärztinnen Yulia Volkova und Tatyana Reva, die nach einer Beschwerde über den Mangel an Schutzausrüstung mit Repressalien zu kämpfen haben. Yulia Volkova wurde wegen Verbreitung von Falschnachrichten angeklagt, ihr droht eine Strafe von bis zu 1.250 Euro. Tatyana Reva ist mit einem Disziplinarverfahren konfrontiert, das zu ihrer Entlassung führen könnte.
Ungerechte Bezahlung und fehlende Lohnnebenleistungen
Neben unsicheren Arbeitsbedingungen dokumentierte Amnesty International die ungerechte und in einigen Fällen ausgesetzte Bezahlung von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen.
Im Südsudan zum Beispiel erhalten Ärzt*innen im Staatsdienst seit Februar kein Gehalt mehr. Überdies sind Sozialleistungen und Krankenversicherung ausgesetzt.
In Guatemala erhielten mindestens 46 Instandhaltungs- und Reinigungskräfte keinen Lohn für ihre zweieinhalbmonatige Arbeit in einem COVID-19-Krankenhaus.
In einigen Ländern gibt es keinerlei zusätzliche Leistungen für Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufe für ihre Arbeit während der COVID-19-Pandemie. In anderen Staaten werden bestimmte Berufsgruppen von diesen Leistungenausgeschlossen.
Amnesty International fordert die internationale Staatengemeinschaft dazu auf, COVID-19 als Berufskrankheit anzuerkennen. Auf Grundlage einer derartigen Regelung müssten sie zukünftig sicherstellen, dass Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen im Fall einer Infektion eine Entschädigung und weitere Unterstützungsleistungen erhalten. Außerdem sollten diese Menschen Priorität beim Zugang zu COVID-19-Tests erhalten.
Stigmatisierung und Gewalt
Amnesty International berichtete über mehrere Fälle, bei denen Beschäftigte im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen wegen ihrer Tätigkeit Stigmatisierung und Gewalt erfahren hatten. So wurde eine Krankenschwester in Mexiko auf offener Straße mit wasserverdünntem Chlor besprüht.
Auf den Philippinen schütteten mehrere Angreifer dem Versorgungsarbeiter eines Krankenhauses Bleichmittel ins Gesicht. Derartige Angriffe weisen auf ein von Fehlinformationen und Stigmatisierungen dominiertes Klima hin und belegen abermals, wie wichtig es ist, dass Regierungen genaue und leicht verfügbare Informationen über die Verbreitung von COVID-19 bereitstellen.
In Pakistan verzeichnete Amnesty International seit April mehrere Fälle von Gewalt gegen Gesundheitsarbeiter*innen. Es kam zur Zerstörung von Krankenhauseinrichtungen und zu Angriffen gegen Ärzt*innen, von denen einer sogar von einem Angehörigen der pakistanischen Behörde zur Terrorismusbekämpfung angeschossen wurde.
Pakistanische Kabinettsmitglieder erklärten mehrfach, dass die Krankenhäuser über die notwendigen Ressourcen verfügten, obwohl die Kliniken Berichten zufolge selbst schwer kranke Personen abweisen mussten, weil es an Betten, Beatmungsgeräten und anderen essentiellen Geräten fehlte. Beschäftigte im Gesundheitswesen werden durch derartige Meldungen schnell zur Zielscheibe, da die Bevölkerung ihnen nicht mehr glaubt, wenn sie angeben, keine Kapazitäten mehr zu haben.
Forderungen
„Wir rufen alle von COVID-19 betroffenen Staaten auf, ihre Maßnahmen gegen die Pandemie von unabhängigen Institutionen in transparenten Verfahren überprüfen zu lassen, um auf diese Weise die Menschenrechte und das Leben ihrer Bevölkerung im Falle einer massenhaften Ausbreitung des Virus besser schützen zu können“, sagt Sanhita Ambast.
Diese Überprüfung sollte auch ermitteln, ob die Rechte von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen – einschließlich des Rechts auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen sowie auf freie Meinungsäußerung – in angemessenem Umfang geschützt sind.
Alle Staaten müssen eine adäquate Entschädigung für jene Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen bereitstellen, die sich im Rahmen ihrer Arbeit mit COVID-19 infiziert haben. Zudem sind die Fälle zu untersuchen, bei denen Beschäftigte nach Kritik an Sicherheits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen von Repressalien betroffen waren. Wer unfair behandelt wurde, muss Zugang zu wirksamen Rechtsschutz erhalten. Wer aufgrund kritischer Äußerungen entlassen wurde, muss wieder eingestellt werden.
Hintergrund
Die Ausdrücke „Gesundheitsarbeiter*innen“ bzw. „Beschäftigte im Gesundheitswesen“ beziehen sich auf alle an der Bereitstellung und Erbringung von Gesundheits- und Sozialdienstleistungen beteiligten Personen. Das schließt Ärzt*innen, Pflegepersonal, Sozialarbeiter*innen, Krankenwagenfahrer*innen, Reinigungs- und Instandhaltungskräfte u. a. m. ein. Obwohl die obenstehende Zusammenfassung vorrangig die Situation von Gesundheitsarbeiter*innen thematisiert, treten ähnliche Probleme auch bei vielen anderen „systemrelevanten“ Beschäftigten auf, die im Rahmen ihrer Arbeit besonders durch COVID-19 gefährdet sind.
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