Nach der Aufkündigung des Open Skies Treaty mit Rußland am 21. Mai durch die USA befindet sich die strategische Rüstungskontrolle in einer Abwärtsspirale. Nach dem Austritt aus dem Atomabkommen 2018 und dem INF-Vertrag zur Begrenzung von Mittelstreckenraketen letztes Jahr ist die Existenz des New START Treaty, den Barack Obama und Dmitri Medwedew 2009 unterzeichnet haben und der die Zahl der einsatzbereiten Atomsprengköpfe in den Waffenarsenalen Moskaus und Washingtons auf 1500 begrenzt, stark gefährdet. Im Februar 2012 müßte das Abkommen verlängert werden. Derzeit sieht es nicht danach aus. Das Gegenteil ist der Fall. In der Regierung von Präsident Donald Trump wird aktuell diskutiert, ob die USA nicht wieder zum ersten Mal seit 1992 unterirdische Atombombentests durchführen sollten.
Mit seiner America-First-Politik vertritt Trump jene unverbesserliche Stahlhelmfraktion in Washington, die schon seit den Tagen John F. Kennedys und Richard Nixons gegen jede Einbindung der USA in Abrüstungsverträge mit der Sowjetunion oder einem sonstigen „feindlichen Staat“ zu Felde zieht, weil sie darin einen Angriff auf die gottgewollte Überlegenheit der USA auf Erden sieht. Diese Kräfte, die vor allem bei den Republikanern im Washingtoner Senat stark vertreten sind, sind auch der Grund, warum die USA den Kernwaffenteststoppvertrag niemals ratifiziert haben, obwohl Bill Clinton 1996 das erste Staatsoberhaupt war, das ihn unterzeichnete.
Dies erklärt die atemberaubende Doppelzüngigkeit, welche Trump und die Vertreter seiner Administration an den Tag legen. In einem Moment telefoniert Trump mit dem russischen Amtskollegen Wladimir Putin und erzählt danach der Presse, die USA könnten vielleicht doch noch im Open-Skies-Vertrag bleiben, sofern Moskau seine angeblichen Verstöße dagegen einräumt und einstellt. Im nächsten Moment faselt er vom Oval Office aus von der „Super-Duper“-Rakete, welche Amerikas Waffenschmieden gerade konstruieren und die „17mal schneller“ als alles wäre, was China und Rußland derzeit haben sollen. Legt man die Annahme Trumps zugrunde, Moskau und Peking verfügten inzwischen über Hyperschallraketen mit der fünf- bis sechsfachen Schallgeschwindigkeit, denn ist die Waffe, von der er nach eigenen Angaben „vor einigen Nächten gehört“ habe, wahrlich eine technologische Sensation – sofern sie tatsächlich und nicht allein in seiner Fantasie existiert.
Marshall Billingslea ist auch jemand, der allergrößte Schwierigkeiten hat, seine kriegerischen Absichten hinter friedensverkündenden Floskeln zu verbergen. Der frühere Berater von North Carolinas Senator Jesse Helms, dem langjährigen republikanischen Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses des Senats, ist heute als designierter Staatssekretär im State Department für die strategische Rüstungskontrolle zuständig. Mit ihm will Trump den Bock zum Gärtner machen. Dazu bedarf es nur der Zustimmung des Senats zur Nominierung Billingsleas für den Posten. Angesichts der republikanischen Mehrheit im Oberhaus des Kongresses dürfte die Personalie demnächst bestätigt werden.
Seit April arbeitet Billingslea als präsidialer Sonderbotschafter für Rüstungskontrolle. In dieser Funktion hat er bereits mit Sergei Ryabkow, dem Stellvertretenden Außenminister Rußland telefoniert. Am 21. Mai erklärte Billingslea, die USA hätten großes Interesse an einer Verlängerung des New-START-Abkommens, um im nächsten Atemzug zu verkünden, Washington würde dem aber nur zustimmen, wenn China dem Vertragswerk beitritt und sich dessen Kontrollinstrumentarien unterwirft. Derzeit verfügt die Volksrepublik über geschätzte 300 Atomwaffen. Bereits jetzt gibt es Forderungen in der chinesischen Presse, Peking müsse die Zahl seiner Atomsprengköpfe auf 1000 erhöhen, um der eigenen Abschreckungsfähigkeit gegenüber den USA Glaubwürdigkeit zu verleihen. Wäre die Trump-Regierung bereit, China seinen Nachholbedarf, was die Zahl der Atomsprengköpfe betrifft, zuzugestehen, oder wäre für Washington eine Bedingung zur Verlängerung des New-START-Abkommens, daß die unterlegene Position der Volksrepublik zementiert wird? Die Frage ist rhetorisch.
Die Feindseligkeiten gegenüber China, mit denen in den letzten Wochen Trump und vor allem sein Außenminister Mike Pompeo einen neuen Kalten Krieg vom Zaun gebrochen haben, lassen erkennen, daß die USA die aufstrebende Volksrepublik mit derselben Strategie niederzuringen beabsichtigen, die schon einmal bei der Sowjetunion funktioniert hat – nämlich den Gegner in einen kostspieligen Rüstungswettlauf zu verwickeln, den er nicht gewinnen kann. Selbstbewußt erklärte Billingslea am 21. Mai offen: „Der Präsident hat klargemacht, daß wir hier auf eine bewährte Praxis zurückgreifen werden. Wir wissen, wie man solche Rennen gewinnt, und wir wissen, wie man den Gegner finanziell totrüstet.“ Ein solcher Kurs ist aus Washingtoner Sicht natürlich mit großen Risiken verbunden: Erstens besteht die Gefahr, daß sich der Kalte Krieg 2.0 in einen heißen, sprich, nuklearen Krieg verwandelt, was das Ende für die Menschheit bedeutete, und zweitens, daß die USA am Ende dem wiederauferstandenen Reich der Mitte unterliegen. Schließlich stellt China für die USA wirtschaftlich einen weitaus potenteren Gegner als damals die Sowjetunion dar. Das Vorhaben könnte also für das schwächelnde, industriell entkernte Amerika nach hinten losgehen.