Erschienen in Élet és Irodalom – LXIV. Jahrgang, 22. Ausgabe, 29. Mai 2020
Autor: G. M. Tamás
Kürzlich erhielt ich mehrere höchst ehrenhafte Anfragen, ob ich nicht einen Beitrag zur Veröffentlichung in unterschiedlichen – darunter zwei besonders maßgeblichen – Anthologien über den 100-jährigen Jahrestag des Friedensvertrages von Trianon schreiben wolle. Natürlich habe ich die Herausgeber gefragt, welche anderen Autoren um Beiträge gebeten worden seien und alle Herausgeber antworteten, dass es sich durchweg um ungarische Autoren handele.
Dies finde ich nicht sinnvoll. Neben der ungarischen Nation betrifft die Entscheidung in Trianon unmittelbar mindestens acht weitere Nationen.
Mit Ausnahme von ein oder zwei Dutzend Fachleuten wissen die ungarischen Intellektuellen kaum etwas über die früheren und gegenwärtigen Bestrebungen dieser betroffenen Nationen, ganz zu schweigen von der sogenannten breiten Öffentlichkeit.
Benedek Jancsó‘s Buch „Die Geschichte und der aktuelle Stand der nationalen Bestrebungen Rumäniens (I – II)“ wurde 1896/1899 veröffentlicht. Die beste ungarisch-sprachige Zusammenfassung zu diesem Thema liefert bis heute die Abhandlung von Zoltán I. Tóth über das „Erste Jahrhundert des rumänischen Nationalismus in Siebenbürgen“ (1697–1792) – erschienen 1946 – und die im Jahre 1959 posthum erschienene Fortsetzung (1790–1848).
Allerdings liest diese Bücher kein Mensch.
Die ungarischen Intellektuellen pflegen nicht ernsthaft zu hinterfragen, warum die Rumänen sich zunächst von Siebenbürgen und später, als Siebenbürgen mit Ungarn vereinigt wurde (1848/49 und 1867–1918), von Ungarn abspalten wollten. Warum wollten sich die rumänischen Bauern massenhaft der kaiserlichen Armee Österreichs, den Militärverwaltungen, dem Grenzschutz, den Bergbaukommandaturen – also gewissermaßen Österreich – anschließen und so vor der Vorherrschaft des ungarischen Adels in Siebenbürgen fliehen und warum ist eine blutige Revolte der rumänischen Bauern in Siebenbürgen ausgebrochen, als sie daran gehindert wurden?
Die Werke des verstorbenen Akademikers David Prodan über die Horia-Rebellion (Band 2, 1979), seine früheren Arbeiten über den Supplex Libellus Valachorum (1948) und über die „Geschichte der siebenbürgischen Leibeigenschaft“ (erschienen 1967, Fortsetzung: 1989) geben ernstzunehmende und komplexe Antworten auf diese Fragen. Doch natürlich werden sie von den Intellektuellen Ungarns nicht gelesen, weil sie in Rumänisch verfasst worden sind. Die Schriften Prodans liefern auch eine Erklärung, warum und wie die Habsburger seit der Regentschaft von Joseph II. mit der unter schwierigen Bedingungen lebenden rumänischen Bauernschaft in Siebenbürgen sympathisierten, warum die Führer der siebenbürgischen Rumänen sowohl 1848/49, als auch nach dem Ausgleich Wien vertrauten und wie diese Verbindung den österreichisch-ungarischen Konflikt verschärfte. (Anmerkung des Übersetzers: unter dem österreichisch-ungarischen Ausgleich versteht man die verfassungsrechtlichen Vereinbarungen, durch die 1867 das Kaisertum Österreich in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgewandelt wurde.)
Was waren die Ziele der rumänischen Nationalpartei? Wer war Iuliu Maniu (Gyula Maniu aus Badacsony), wer war Gheorghe Pop de Băsești (György Pap aus Ilfefvi), wer war Ion Raţiu? Und Alexandru Vaida-Voevod? Wie und inwieweit wurde durch sie das Schicksal des historischen Ungarns bestimmt? Und wer war Svetozar Miletić?
Was wurde in dem siebenbürgischen Memorandum gefordert?
All dies sollten die ungarischen Leser wissen.
Sie sollten verstehen, warum gerade Aurel C. Popovici, ein führender rumänischer Intellektueller aus dem Banat, einer der Anführer der rumänischen Nationalpartei und zugleich der Vertraute des Erzherzogs und Thronfolgers Franz Ferdinand derjenige war, der das hochbrisante Werk „Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich“ (1906) verfasste, das als Manifest des zentralisierten, vereinten Groß-Österreichs galt. Die ungarischen Leser müssen verstehen, warum bei den größten rumänisch-stämmigen Schriftstellern Siebenbürgens – Ioan Slavici, Liviu Rebreanu, Octavian Goga – Antisemitismus eine Form ihrer feindseligen Haltung gegenüber den Ungarn war. Warum war das Hauptmotiv der miteinander verbundenen rumänischen und ungarischen nationalen Charakterologie die bäuerliche Kultur, das Für und Wider des Nomadismus? (Vgl. Lucian Blaga: Spaţiul mioritic/1936, aber auch die zur selben Zeit verfassten, sehr ähnlichen metaphorischen Werke von Lajos Prohászka, Sándor Karácsony und Gábor Lükő.)
Um all das zu wissen muss man nicht unbedingt rumänisch sprechen können. Dutzende Bücher des größten rumänischen – konservativen, nationalistischen und weltberühmten – Historikers Nicolae Iorga, der u.a. auch Premierminister war und von Anhängern der Eisernen Garde getötet wurde, können in allen Weltsprachen gelesen werden. Er ist ein typischer Vertreter und Verfechter der rumänisch-nationalen Bestrebungen. Er war ein einflussreicher europäischer Schreiber und Gelehrter seiner Zeit (1871-1940). Es bedarf keiner größeren Anstrengung, um seine Denkweise kennenzulernen. So verfasste er sein bedeutendstes und heute noch gelesenes Werk – „Die Ideengeschichte des Byzantinischen Reiches“ – auf Französisch (daneben schrieb er natürlich zahlreiche Abhandlungen über die Geschichte der Rumänen, ergänzt mit einer unendlichen Fülle von Dokumenten. Und dies in mehreren Sprachen.).
Wie kann man den Ersten Weltkrieg, den Zerfall der Monarchie, den Triumph neuer Nationen ohne Kenntnis und Beschäftigung mit den Schriften von Iorga oder Masaryk begreifen? Wir Ungarn hatten nie einen nationalen Denker mit einem vergleichbaren, europäischen Einfluss und Prestige; – Gyula Szekfű oder László Németh kennen nur wir Ungarn.
Die tschechische Regierung hat vor 1938 dreizehn Bände von Masaryks Werken in ungarischer Sprache veröffentlichen lassen (auch nach 1989 erschienen zwei Bücher auf Ungarisch). Sein Buch „Die Weltrevolution“, das den Sieg der jungen Nationen über die alten supranationalen Reiche beschreibt, wurde in alle möglichen Sprachen übersetzt (sogar zweimal auf Ungarisch). Seine Abhandlung „Studien über die geistigen Strömungen in Russland“ ist ein Klassiker. Zu seinen Lebzeiten (1850-1937) war Masaryk ein großer Denker und berühmt, er stand in einer Reihe mit Woodrow Wilson, Lenin und Gandhi.
Wir können nicht behaupten, dass die Bestrebungen der slawischen Nationen, ihre Ansichten über ihren Platz in der Weltgeschichte und über ihre Mission verborgen geblieben wären. Masaryk galt in jener Zeit weltweit als geistiges Schwergewicht, seine Gedanken beeinflussten das gesamte öffentliche Leben Europas.
Ich habe nicht wirklich bemerkt, dass ihn jemand in den vergangenen Jahrzehnten hier in Ungarn ernst genommen hätte. Dabei waren er – und Iorga – „die großen Gegner„, aber sie waren für uns eben nur ein Schatten. Ganz zu schweigen von Havlíček oder Šafařík, von denen fast niemand etwas gehört hat.
Wer war Nikola Pašić, die größte Persönlichkeit der Balkanpolitik? Und wer war Stjepan Radić, der seine Karriere mit dem Verbrennen der ungarischen Flagge auf dem Jelačić-Platz in Zagreb (wir nennen es immer noch „Jellasics“) begann und der von einem Monarchie-treuen serbischen Attentäter erschossen wurde?
Warum? Was haben wir mit den illyrischen Sprachforschungen von Lyudevit Gaj zu tun? Und was hat Illyrismus mit Napoleon und mit Herder zu tun? Sind diese Gedanken die Vorläufer eines ‚Jugoslawismus‘? Verstehen wir die Erneuerung und Kultivierung der serbokroatischen Sprache? Ist es ähnlich wie bei uns? Warum war Novi Sad „das serbische Athen“?
Warum gab es keinen österreichischen Irredentismus? (darüber habe ich in der Zeitschrift Mérce in vier kurzen Studien zum Thema österreichischer Marxismus geschrieben.)
Wieso taucht das unterdrückte westslawische (slowenische) Urelement in der Seele des (österreichischsten aller) österreichischen Schriftstellers Peter Handke auf und wie führt dies zur späten Pastiche des Jugoslawismus? (was von denjenigen, die den wild gewordenen Handke anlässlich der Nobelpreisvergabe beschimpften, so gründlich missverstanden wurde.)
Wieso konnten der französische Radikalismus und die Freimaurerei das Gefühl haben, dass mit dem Frieden von Versailles ihr Werk von 1848 vollendet wurde, vor allem durch die Wiederherstellung eines unabhängigen Polens? Die romantische Idee der polnischen Freiheit war übrigens einer der großen, heldenhaften Tagträume (Kościuszko) und die verkörperte Poesie (Mickiewicz, Słowacki, Krasiński, Norwid) des 19. Jahrhunderts.
Diese Idee inspirierte maßgeblich den ungerechten Friedensvertrag von Versailles, der – neben den herrschenden Klassen Ungarns und Deutschlands – und (zumindest anfänglich) auch von der kommunistischen Internationale (warum nur?) scharf kritisiert wurde.
„Der Höhepunkt jahrhundertelanger Freiheitskämpfe“ … Wie ist das möglich? Warum war der knapp 20 Jahre später erfolgte Anschluss bereits 1848 eine Idee der österreichischen Sozialdemokratie und warum war Österreich nicht betrübt über den Verlust seiner slawischen Teilgebiete und über die erzwungene Abspaltung Ungarns?
Das, was in Europa allein wir Trianon nennen (und was Deutschland längst nicht mehr Versailles nennt), wurde im Rausch der nationalen Wiedergeburt, im Geiste der nationalen Selbstbestimmung und des nationalen Unabhängigkeitsstrebens geboren.
Heute möchte die offizielle ungarische Ethnizität mit der Idee der Unabhängigkeit in Verbindung gebracht werden.
Doch Trianon ist eine Folge des Zerfalls des supranationalen Habsburgerreiches – eines Reiches, gegenüber dem der alte ungarische Nationalismus genauso fühlte, wie heute die national gesinnten Nachkommen gegenüber der Europäischen Union fühlen.
Im Sinne des Völkerrechts hat Trianon Ungarn zu einem unabhängigen Nationalstaat gemacht. Ist das wahr? Hat sich jemals irgendjemand über die tatsächliche ungarische Unabhängigkeit gefreut?
Hätte ein integres, ein „historisches“ Österreich-Ungarn – ohne gemeinsamer Armee und einer Zollunion – entstehen können?
Hätte das imperial geprägte, „historische“ Ungarn auf ethnischer Grundlage weiter bestehen können?
Bestehen als ein unabhängiger Staat, in welchem die Bevölkerungsmehrheit nicht ungarisch ist? Denn das ist die ungarische Vorstellung von Trianon. Territoriale Integrität ohne Österreich. Zweifellos haben Károlyi und Jászi nichts anderes im Sinn gehabt. War dem tatsächlich so? Warum hat das im Ausland niemand verstanden? Haben wir jemals versucht, das Unverständnis des Auslands darüber zu verstehen? Haben wir versucht, die polnischen, tschechoslowakischen, jugoslawischen, großen rumänischen, großen deutschen – föderalen und zugleich nationalen – Vorstellungen zu verstehen? Warum diese Nationen das, was wir als Trianon titulieren, (ehrlich und enthusiastisch) als eine Weltrevolution, als Befreiung, als Erlösung bezeichneten?
Wie ist es möglich, dass während uns die in einem Teil des alten Ungarn lebenden Slawen und Rumänen schon seit dem 18. Jahrhundert auf ihre nationalen Missstände aufmerksam machen und ihre Träume und Vorstellungen zu erklären suchten, wir immer noch von einem abgekarteten Spiel der Großmächte schwadronieren. Dies mag es zwar gegeben haben, doch es hätte nicht funktioniert, wenn die mehr als fünfzig Millionen Osteuropäer nicht hinter ihm gestanden hätten. Warum lesen wir nicht?
Warum glauben wir, dass wir unser Wissen um die Geschichte aus Romanen schöpfen können? Es gibt übrigens einen einzigen Roman (Die Flaggen von Krleža), in dem wir auf die ungarische Führungselite von außen sehen können. (Sechs ausgewählte Werke von Krleža sind 1965 auf Ungarisch erschienen – ihre Veröffentlichung wurde nicht verhindert, sie sind jedoch als Roman völlig ungenießbar).
Was hat Graf Káren Khuen-Héderváry getan der, bevor er Premierminister wurde, ab 1883 zwanzig Jahre lang in Kroatien als Bán (kroatisch: hrvatski ban, vgl. Statthalter Anmerkung des Übersetzers) in Zagreb regierte? Wie erinnert man sich an ihn?
Es ist nicht erkennbar, dass in der umfangreichen ungarisch-nationalen Literatur zum Themenkomplex Trianon – in der es fast nie um die Gründe und die Natur, sondern stets um die Folgen von Trianon geht sofern dies überhaupt ohne Betrachtung der Vergangenheit möglich ist – Spuren des komplizierten Erbes der Monarchie auch nur ansatzweise vorhanden wären. Die ungarisch-sprachige Literaturgeschichte über Österreich behandelt es als ein fremdes Land (Kafka, Rilke, Canetti sind ausländische Schriftsteller), als ein Land, das uns in etwa so nahesteht wie beispielsweise Belgien. So habe ich kürzlich einen Blog-Beitrag gesehen, in dem Karl Kraus aus dem englischen Original zitiert wurde.
In den 1970/80er Jahren hat man vergeblich versucht, Freud oder Wittgenstein nicht als Engländer zu sehen, sondern etwas an ihnen zu finden, was für uns historisch relevant sein könnte. (Hilfestellung bekamen wir dabei ironischerweise aus England, beginnend mit dem berühmten Buch von Allan Janik und Stephen Toulmin: „Wittgensteins Wien“, 1973 und endend mit einem großartigen Doppelporträt von Ernest Gellner: „Sprache und Einsamkeit: Wittgenstein, Malinowski und das Habsburger Dilemma“, posthum, 1998, im Übrigen eines der besten Bücher über die Entstehung des modernen Antimodernismus.)
Nach fast fünfhundert Jahren des Zusammenlebens mit dem deutschsprachigen Österreich spricht heutzutage niemand mehr Deutsch und meine jungen Freunde sprechen von „Uolter Bendzemin“ (Walter Benjamin).
Mehrere meiner jungen Freunde habe ich gefragt, wer auf österreichischer Seite an dem Ausgleich (vgl. weiter oben) mitgewirkt hat. Wer war der österreichische Ministerpräsident zu Zeiten von Deák und Andrássy? Oder haben nur Ungarn an den Verhandlungen teilgenommen? Keine Antwort. (Ferdinand von Beust war übrigens der damalige österreichische Ministerpräsident. Besser bekannt ist sicherlich Wenzel Lustkandl, da er – wenn auch nicht der Held, so doch zumindest das Objekt eines Klassikers der ungarischen Dissertationsprosa (Nachtrag zum ungarischen öffentlichen Recht, 1865) geworden ist, den viele gelesen haben, da es nicht nur ein literarisches Meisterwerk ist, sondern seine Kenntnis historisch unverzichtbar ist.)
Aber wie können wir auch erwarten, dass die ungarischen Intellektuellen den mittel- und osteuropäischen Kontext kennen, wenn man sich vor Augen führt, dass die einst so entscheidende Sammlung journalistischer Schriften von Loránt Eötvös (Reform und Patriotismus, I – III) letztmalig 1978 veröffentlicht wurde und wohl niemand sie gelesen zu haben scheint? Die Neuausgabe der Werke von Széchenyi, Kossuth und Kemény – von den weniger bekannten (ebenfalls gigantischen) Autoren ganz zu schweigen – werde ich wohl nicht mehr erleben. Wie kann ich von den ungarischen Intellektuellen erwarten, dass sie Redlich und von Srbik kennen, wenn sie nicht einmal unsere eigenen großen historischen und ideologischen Quellen kennen.
Wer hat sich jemals gefragt, was Kemény und Eötvös über Ungarns nationale Unabhängigkeit nach 1849 dachten? (sie haben diese übrigens radikal und endgültig abgelehnt; Széchenyi hat sogar sein gesamtes Lebenswerk verflucht und beteuert, dass es ohne ihn weder einen Kossuth, noch einen Petőfi gegeben hätte und welch eine herausragende Rolle als führende aristokratische Nation der Monarchie die Ungarn dann hätten einnehmen können.) Wer weiß, dass für die Bevölkerung Siebenbürgens der Unabhängigkeitskrieg nichts anderes als ein ungarisch-rumänischer Krieg war?
Und welche Schlussfolgerungen – unterschiedliche – haben Kossuth und die Generation des Ausgleichs mit daraus gezogen?
In einem Punkt waren sie sich jedoch einig, dass nämlich das historische Ungarn nur von einer Art föderalen Struktur, entweder von einer liberalisierten Monarchie oder von einer Donauföderation, aufrechterhalten werden kann: Die Option eines (unabhängigen, von nationalen Minderheiten befreiten, ethnischen) „kleinen ungarischen“ Staates tauchte als ernsthafte Überlegung vor dem 20. Jahrhundert niemals auf.
Hatten sie Recht? Letztendlich zerfielen ja alle supranationalen Strukturen: die monarchistischen Staatsgebilde nach dem I. Weltkrieg, die Föderationen zu Beginn des II. Weltkrieges und nach 1989. Sowohl die Monarchien als auch die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Jugoslawien hörten auf zu existieren; – die Utopie der alten Linken, ein Bündnis der Donauvölker ist nicht entstanden – sogar die deutsche (Wieder-?) Vereinigung ist ein Misserfolg. Wogegen waren die weitsichtigen Vordenker blind?
Warum waren die populären Literaten nicht irredent? (Einschließlich István Bibó. Und warum waren andererseits so viele Liberale irredentistisch? Siehe: Hatvany: Das verwundete Land, 1921. Und auch Márai.)
Warum hat László Németh die ungarisch-sprachige Elite Siebenbürgers so gehasst?
Warum wurden Ferenc Deák und János Arany depressiv?
Warum waren alle, angefangen beim radikal rechts denkenden Erzherzog Franz Ferdinand bis hin zu der damals noch revolutionären Sozialdemokratie und der katholischen Kirche (einschließlich der fast gesamten westlichen öffentlichen Meinung und den Führern der verschiedenen Nationalitäten) der Auffassung, dass die Macht der ungarischen Aristokratie notfalls mit Waffengewalt gebrochen werden muss?
Warum wussten die großen und wohlhabenden Magnaten nichts von alledem?
All diese Fragen wären – sofern sich die ungarischen Intellektuellen kritisch oder auch entschuldigend mit der nationalen Geschichte befassten – Gegenstand von Diskussionen innerhalb der ungarischen Kultur.
So jedoch bleibt ihnen als bescheidene, achselzuckende Reaktion ‚die französische Intrige‘ und ‚der jüdische Verrat‘ oder ein „lass‘ mich doch in Ruhe mit diesen längst überholten chauvinistischen Eseleien“ übrig.
Und die wirklich vielversprechende Frage, warum die Polen, die Südslawen, die Tschechoslowaken, die Rumänen und die eine gesamtdeutsche, demokratische Republik planenden Österreicher (mehr oder weniger erfolgreiche) nationale Projekte hatten und warum die Ungarn dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuwege brachten?
Und in welchem Zusammenhang steht diese ihre Unfähigkeit mit der Tragödie von Trianon? Diese Frage kann ohne das Verständnis der geschichtlichen Perspektiven, ohne die Kenntnis der Bestrebungen anderer Nationen schwerlich beantwortet werden.
Doch mit Ausnahme weniger Fachleute besteht für derlei Fragestellungen nicht das geringste Interesse.
Kürzlich haben Szekfű, Jászi, László Németh den Versuch unternommen, über die Bedeutung der Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg nachzudenken.
Zwischen den beiden Weltkriegen – als der Irredentismus, die Revision der alten Grenzen und der Revanchismus die Grundlage der offiziellen Weltanschauung bildeten – wurden die ethnischen, wirtschaftlich-geografischen, politischen, anthropologischen und kulturellen Beziehungen des Donau-Raumes als strategisches Problem bei der Wiederherstellung des historischen Ungarns angesehen. Politisch arbeitete man an der Auflösung der Nachfolgestaaten, man wollte ihren Einfluss und ihre Einigkeit schwächen (etwa durch die Unterstützung des kroatisch–antiserbischen Ustasa – Separatismus). Doch die große Menge an gesammeltem Material dokumentiert, dass die Nationalitäten aus dem ungarischen Staatgebilde (ähnlich den Polen, die aus dem deutschen, dem österreichischen und dem russischen Staat) austreten wollten. Gleichzeitig belegen die Daten die Unsicherheit der ungarischen Führungselite – auch nach Trianon! – was man mit dem Völkergemisch des Donauraumes zumindest intellektuell anfangen soll. (Die Arbeiten unter der Führung von Graf Pál Teleki sind nicht schlüssig.)
Die bedeutenden Vertreter der Ungarn in Siebenbürgen – damals die protestantischen Ungarn – vertraten extreme, starre und verfestigte Positionen: Während Sándor Makkai das Dasein als Minderheit als einen Fluch bezeichnet, versteht Dezső László dies als Segen.
Selbst damals hat man kaum versucht, die (nationale) „Weltrevolution“ im Sinne von Masaryk zu verstehen und die Geschichte der Nachbarvölker kennenzulernen. Noch weniger hat ein solcher Versuch seitdem stattgefunden, da bekannte (und im Übrigen gerechtfertigte) Diskurse über die Kränkungen hier nichts zu suchen haben. In den nach 1989 erfolgten Betrachtungen und Reflexionen tauchen neue Elemente auf, etwa die teilweise Rehabilitation der Wiener Beschlüsse, die sich – vorsichtig formuliert – als Sackgasse herausgestellt haben. Dies erweist sich auch dann als problematisch, wenn man die Bedeutung der Wiener Beschlüsse für die Rolle Ungarns im II. Weltkrieg außer Acht lässt und lediglich die ethischen Aspekte berücksichtigt, was aber letztendlich zu nichts führt. (sie führen Gott sei Dank nicht einmal in den Abgrund.)
Die heutige ungarische intellektuelle Schicht ist auf die Beurteilung des Trianon-Dilemmas einfach nicht vorbereitet – das allseits beliebte Gesellschaftsspiel der oberflächlichen Suche nach Sündenböcken lasse ich hier unerwähnt. Die Generationen haben die notwendige Interpretationsarbeit nicht geleistet und der Wert der intellektuellen Erfahrungen und historischen Einsichten aus der ehemaligen Monarchie ist denkbar gering (obwohl von der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbar hinter den Kulissen durchaus eine geschichtswissenschaftliche Datensammlung und -organisation erfolgte).
Fast ausnahmslos projiziert die zu diesem Thema entstandene Essayliteratur die späte ethnische Realität der Nachfolgestaaten auf die Vergangenheit, als ob es keine deutschsprachige Übertragung zwischen den Kulturen der Monarchie gegeben hätte, als ob unsere Städte nicht zwei- oder mehrsprachig gewesen wären, als ob unsere gemeinsame Sprache nicht der Goethe’sche, Herder’sche und Humboldt’sche Humanismus gewesen wäre, als ob Széchenyi, Eötvös, Masaryk und Lukács nicht auf Deutsch geschrieben hätten, als ob Krleža und Rebreanu nicht Ungarisch wie ihre eigene Muttersprache gesprochen hätten, als ob ungarische, slowenische und tschechische Familien des Bürgertums miteinander nicht in Deutsch korrespondiert und ihre Tagebücher nicht in Deutsch verfasst hätten. Als ob die Monarchie nicht zusammengebrochen wäre.
Die äußerst schmerzhafte und tragische Komplexität – denn letztendlich war eine der Ursachen der gesamteuropäischen Tragödie des Zweiten Weltkriegs das entsetzliche Nachbeben der ungelösten Dilemmata der Habsburgermonarchie, die sich bis heute verborgen unter einer „europäischen“ Maske fortsetzt – sie bleibt unerkannt, sie wirkt unbewusst, während das oberflächliche, grundlose Gerede weitergeht, dass die Rumänen so, und dass die Ungarn so – und so weiter und so fort …
Man kann und darf so nicht über die Probleme von Trianon schreiben.
Die Situation ist endgültig lächerlich geworden, als sowohl das offizielle Ungarn als auch das offizielle Rumänien den Trianon-Tag, den 4. Juni, zum gesetzlichen Feiertag ausgerufen haben: hier als einen Tag der Trauer, dort als einen Tag der Freude. Chauvinismus auf der Ebene von Pubertierenden. Und einmal eine allzu effektive Anstiftung. Ein fast schon blasphemisches Unverständnis und Unwissenheit. Und in den Zeitungen die hundert Jahre alten, tausendmal widerlegten Gerüchte. Verstockte, versauerte Flüche.
Als ob es in Europa nur Völker ohne Geschichte gäbe. Blindheit, egoistische Wahnvorstellungen, sinnloser Zorn. Und in Ungarn der umfassende Hass auf das Ausland: Von dem rechtskonservativen Flügel: der ‚Gender-liberale‘ Westen ist verrückt geworden. Von dem ungarischen ‚linksliberalen‘ Flügel: der Osten verharrt in Rückständigkeit, im Autoritarismus. Und mit derlei Klischees behaftet versuchen sie zu verstehen was es eigentlich bedeutet, dass die Heimat, die Kultur, der Staat, der muttersprachliche Status, das Legitimitäts- und Loyalitätsgebilde (nicht nur national, sondern weitgehend supranational monarchisch, klerikal und militärisch), allein schon von den nach Anerkennung strebenden Völkern ohne eigene Staatenstruktur (insbesondere die virtuellen Nationalstaaten der Tschechen und der Polen) im 1. Weltkrieg und durch die durch ihn ausgelöste 3-fache Weltrevolution (national, demokratisch und kommunistisch) zerschlagen wurde: unverständliche und unbekannte Faktoren, unverstandene und unpopuläre Akteure.
Trianon tut weh, weil wir etwas verloren haben, das wir nicht kennen, das wir nicht mögen und das wir nicht vermissen. Wenn für etwas vollkommen anderes als unser heutiges Leben mitsamt unseren Vorurteilen und gepaart mit einem vermeintlichen Hintergrundwissen kein Verständnis und keine Zuneigung erwächst, dann ist es besser, wenn wir gar nichts über Trianon sagen. Dann genügt es, wenn wir uns eingestehen, dass wir weder würdig noch geeignet sind, darüber auch nur zu plaudern.
So ist das Paradoxon nicht ganz leicht nachvollziehbar, warum die 1918 für immer ihrer Macht beraubte Schicht der ungarischen Landadeligen so sehr auf die Monarchie und das darin verbliebene historische Ungarn bestand – eine Schicht, die den Dualismus niemals anerkannt hat, die Massenhysterien und politische Krisen auslöste, sobald auf ungarischem Hoheitsgebiet eine Militärkapelle „Gott erhalte“ auch nur anstimmte (dies war übrigens die von Haydn komponierte, kaiserliche Hymne), oder jemand die schwarz-gelbe Kaiserfahne zu hissen wagte.
Und auch das ist nicht ganz trivial, dass die Nachkommen eben dieses Kleinadels (die „christlich geprägte herrschaftliche Mittelklasse“, die katholische Kirche und das Offizierskorps) die Irredenten waren, die dem Staatenbund nachtrauerten, den sie dereinst hassten: letztendlich beweinten sie die militärische Macht, die die Großmonarchie und in ihr die subversiven Elemente (die Nationalitäten, die nach Landteilung strebende Bauernschaft und die sozialistische Arbeiterklasse – und auch die nach Unabhängigkeit strebenden ungarischen Chauvinisten – also sich selbst) in Schach hielt.
Auf die frühere Selbsttäuschung wird nun die gegenwärtige Selbsttäuschung gepackt.
Die barmherzigen Lügen von einst – an die man sich sogar falsch erinnert – verfestigen sich zu unverrückbare Tatsachen, und man verdammt – damnatio memoriæ – das Angedenken an die Ideen der Vergangenheit. Was man dereinst verschwieg, wird weiter verschwiegen. Die unter Amnesie Leidenden schwatzen von dem nationalen Gedächtnis.
Lasst uns nicht über Trianon reden, denn wir wissen nicht, wovon wir sprechen.
Der Artikel wurde aus dem Ungarischen von Ferenc Héjjas, aus dem ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!