Die türkische Armee greift seit einigen Tagen wieder kurdische Ziele im Nordirak an. „Die Luftangriffe sollen die türkische Bevölkerung vom Versagen der Regierung in der Corona-Krise und der desolaten wirtschaftlichen Lage im Land ablenken“, erklärt Dr. Kamal Sido, Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) am Mittwoch in Göttingen. „Für Erdogans Machterhalt sterben Menschen in den kurdischen Gebieten von Sinjar, Makhmur und Kandil.“ Es gebe Meldungen, dass auch türkische Bodentruppen die Grenze nach Irakisch-Kurdistan passiert hätten. Auch der Iran greife kurdische Ziele in der Region mit Artillerie und Raketen an. Betroffen seien nicht nur Stellungen der kurdischen PKK, sondern auch Flüchtlingslager und andere zivile Ziele.
Das Sinjar-Gebirge ist das Kerngebiet der yezidischen Religionsgemeinschaft im äußersten Nordwesten des Irak. Im August 2014 griff der sogenannte „Islamischen Staat“ (IS) die Region an und vertrieb nahezu die gesamte yezidische Bevölkerung. Tausende Menschen wurden ermordet und yezidische Frauen massenweise vergewaltigt und versklavt. „Diese Region, in der die Menschen seit Jahren unter den Folgen islamistischer Gewalt leiden, scheint ein Hauptziel der neuen türkischen Angriffe zu sein“, berichtet Sido. „Auch, wenn die türkische Regierung behauptet, die PKK zu bekämpfen, stärkt sie letztlich den IS in der Region.“ Nahezu alle kurdischen Gruppen hätten den IS und andere radikalislamistische Gruppen bekämpft. Die Türkei habe sie geduldet oder unterstütz. Nun schwäche sie genau die Gruppen, die die Minderheiten im Nordirak vor Angriffen der radikal-islamistischen Milizen schützen.
„Die NATO und insbesondere die deutsche Bundesregierung dürfen die Angriffe ihres Partnerlandes auf die kurdische Bevölkerung nicht hinnehmen“, so Sido. „Ein erneuter Kniefall vor dem immer despotischer handelnden Erdogan würde nur den radikalen Islamisten in die Hände spielen.“