Wie oft hören wir aus dem Fernsehen oder den sozialen Medien: „Nur Geduld, alles wird wieder normal so wie vorher“? Vorher ist vor dem Gesundheitsnotstand; Normalität ist der Zustand vor der Quarantäne.
Wenn wir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen und die daraus zwangsläufig folgenden Einbrüche einen Moment außer Acht lassen und uns nur auf psychologische Auswirkungen auf Einzelne oder Kollektive in einer Gemeinde oder in einem Land konzentrieren, wird uns ganz schnell klar, dass wohl nichts wird wie vorher.
Es gibt so etwas wie ein umfassendes kollektives historisches Gedächtnis (einer Kultur, eines Volkes oder einer sonstigen Gruppe), das Werte und Überzeugungen ausbildet und die Handlungen des jeweiligen Kollektivs weltweit prägt. Es ist eine Art gemeinsamer Grundkonsens, der alle Handlungen dieser Gruppe rechtfertigt und ihnen Sinn und Richtung gibt.
Lassen Sie mich das mit unserer aktuellen Lebenssituation beispielhaft belegen. Unter welchen Gesichtspunkten lassen sich Werte und Überzeugungen der westlichen Welt am besten zusammenfassen? Das ist natürlich nur eine Annäherung.
Wir sind überzeugt davon, dass wir in einem demokratischen System leben, das sich aus einer langen Geschichte von Kriegen und Revolutionen mit hohem Blutzoll entwickelt hat und nun weitgehend friedlich agiert.
Wir sind im Großen und Ganzen überzeugt, dass wir auf der Sonnenseite der Welt leben und, dass das zweifellos auf die wissenschaftlichen und sozialen Fortschritte der letzten 70 Jahre zurückzuführen ist.
Wir vertrauen darauf, dass uns die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritte gegen Naturrisiken absichern. Alles in allem wiegen wir uns in der Sicherheit, dass uns Medizintechnologie und sozialer Fortschritt schon vor Schmerzen und Leid irgendwie bewahren und der Tod hat sich in Zeit und Raum weit entfernt. Aber wenn man genau hinschaut, ist nichts sicher.
Wir genießen eine Reihe von Vorteilen, wie z. B. eine gewisse Grundsicherheit, mittelmäßige Bequemlichkeit, die Möglichkeit medizinischer Behandlungen und ausgeweitete Bildungschancen. So konnten wir in unserer „Blase“ bleiben; wir verteidigten sie gegen alle und jeden, weil wir sie uns ja durch eigene Leistung geschaffen und damit verdient haben.
Wir haben auch Mauern gebaut zur Verteidigung unserer „Blase“, äußere Mauern wie das Schengener Abkommen, innere Mauern wie den Individualismus und den aufreibenden ständigen Wettbewerb, der für uns zu einem unhinterfragten ideologischen Grundkonsens gehört.
Jetzt entdecken wir, dass nicht alles so einfach läuft wie wir annahmen. Die „Blase“, in der wir uns sicher fühlten, ist geplatzt. Da hilft keine Abgrenzung mehr.
Covid-19 hat gezeigt, dass wir bei noch so fortschrittlicher Medizin nicht vor der Krankheit geschützt sind. Die Geister früherer Plagen der Menschheit tauchen wieder auf. Lang glaubten wir, sie hinter uns gelassen zu haben – zumindest im Westen.
Dieser Notstand ist ein Bruch, ein kultureller Schock, wenn man so will, denn es handelt sich auf einmal um eine globale Erfahrung. Alle sind irgendwie betroffen. Der kleinste gemeinsame Nenner ist ein Überbordwerfen eigener Gewohnheiten.
Das ökologische Gewissen hat schon vor einer Weile ans Licht gebracht, dass Umweltprobleme, z. B. durch Müllexport in andere nicht westliche Länder, letztlich auf uns zurückfallen.
Die sich verschärfenden wirtschaftlichen Krisen haben uns die Zerbrechlichkeit der Demokratie und des kapitalistischen Produktionssystems auf der Grundlage der „Marktlogik“ und des enormen Verbrauchs an Ressourcen und Land, drastisch vor Augen geführt.
Wir befinden uns am Umkehrpunkt. Ein Mythos hat ausgedient. Die Illusion unserer Unverletzlichkeit, die uns lange getragen hat, zerbröselt und zerbricht. Lange konnten wir davon ausgehen, dass Kriege, Krisen, Krankheiten an anderen Ecken der Welt vorhanden sind und nur andere Menschen treffen – nie uns.
Aber seit Anfang des Jahrtausends haben bereits eine Reihe von Ereignissen den Glauben der westlichen Welt erschüttert.
Und damit sind wir mit den „Feinden“ von früher konfrontiert: Einsamkeit, Krankheit, Tod. Bisher konnten wir sie eher distanziert betrachten. Wir sehen uns nicht zunächst als Volk oder Gemeinschaft, sondern sind eher als Individualist*innen und Konkurrent*innen unterwegs. Wir schützen vor allem unsere eigene kleine Familie – indem wir diesen Schutz Anderen erst einmal entziehen – seien es Völker im Süden oder auch unser eigener Arbeitskollege.
Was bleibt also zu tun? In vielen breitet sich langsam die Gewissheit aus, dass nichts wieder so wird wie vorher. Während landauf landab diskutiert wird, wie sich die Arbeitswelt verändern wird, das Geschäftemachen, die wirtschaftlichen Beziehungen, bleiben Werte und Ideale zunächst eher auf der Strecke.
Deshalb die Frage: Wie gehen wir mit uns selbst und mit den Mitmenschen um?
Die Gesellschaften vergangener Jahrhunderte haben in unterschiedlichen Notsituationen zumindest die Grundlagen für Teilen und Solidarität verbreitert. Man denke nur an die vielen Vereine, die zur gegenseitigen Hilfeleistung gegründet wurden, darin macht sich ein Ausdruck tief empfundener Solidarität deutlich.
Sind wir uns eigentlich bewusst geworden, wie sehr uns die Anderen gefehlt haben in diesen Tagen der Isolation? Wie weit können wir ohne sie auskommen? Es wäre schon ein erster Schritt, wenn wir uns klar machen würden, dass mein Mitmensch nicht nur ein Gegenstand ist, über den man nach Gutdünken verfügen kann oder von dem man seinerseits ausgenutzt wird, wenn man in einer Position der Schwäche ist.
Auf jeden Fall reicht es nicht aus, miteinander zu teilen, so nötig es im Einzelfall scheint: in dem Augenblick, in dem das Leben insgesamt in eine prekäre Situation abzurutschen droht, bieten Gegenstände oder Menschen nicht genügend Halt, tiefste Bedürfnisse zu befriedigen. In dieser Lage müsste es dann ein großer Ansporn sein, sich selbst wertzuschätzen und sich auf ein würdiges Verhalten zu besinnen.
Wir sollten uns eines klar machen: In der Tretmühle, die die heftigen und langfristigen Veränderungen antreibt, wie all die Krisen der Wirtschaft, der Umwelt, der Gesundheit, gehören wir zu einer Spezies, die zuerst einmal als Verbraucher*innen, Nutzer*innen, als Ware wahrgenommen wird – vielleicht irgendwann auch als soziales Wesen im Kampf ums Überleben und/oder um die Macht. Wir sind aber immerhin auch noch das Wesen, das sich eines Tages auf zwei Beinen himmelwärts erhob und sein Schicksal selbst in die Hand nahm.
Wenn wir dieses grundlegend neue Bewusstsein der eigenen Bedeutung und Fähigkeiten entwickeln, ist es meiner Meinung nach möglich, auch die Anderen in einem neuen Licht zu sehen. Zwischen zwei Menschen, die diese Werte ernst nehmen, verändert sich die Beziehung und bekommt eine andere Tiefe, als dies möglich ist zwischen zwei Nutzer*innen, zwei Verbraucher*innen, zwei Menschen, die sich ständig bekämpfen.
Als Ergebnis scheint es mir wichtig festzuhalten: Machen wir uns auf den Weg, jetzt unser eigenes Wertgefühl zu entwickeln. Wir müssen uns Beziehungen und die grundlegende Bedeutung des eigenen Lebens und des Lebens in der Gemeinschaft wieder aneignen!
Die Übersetzung aus dem Italienischen wurde von Heidi Meinzolt vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!