Klimazölle auf energieintensive Importe können mit den Regeln der WTO vereinbar sein. Es gilt auch für die Schweiz.
Markus Mugglin für die Online-Zeitung INFOsperber
Die Corona-Krise als Wende im Welthandel: Von vielen wurde sie schon herbeigeschrieben, weil die globalen Handelswege nicht hielten, was sie versprochen hatten. Andere wünschen sich die schnelle Rückkehr auf ungehemmte Handelspfade. In dieser Schreibtisch-Pattsituation meldet sich mit Pascal Lamy ausgerechnet ein früherer WTO-Chef, der meint, Freihandel sei mit Klimaschutz zu versöhnen. «From protectionism to precautionism» (vom Abschotten zum Vorbeugen), lautet seine Formel. Wie das passieren soll, legt der ehemalige WTO-Chef zusammen mit Geneviève Pons und Pierre Leturcq vom Institut «Europe Jacques Delors» in Paris im soeben publizierten «Policy Paper» «Greening EU Trade» dar. Sie zeigen auf, wie die EU-Kommission den Klima-Importzoll verwirklichen sollte, den sie Ende letzten Jahres als Teil des «New Green Deal» und neuerdings als Teil des neuen Wiederaufbaufonds versprochen hat.
Zollabgabe nicht ohne höheren CO2-Preis in der EU
Der Vorschlag vereint drei Dinge: einen deutlich steigenden CO2-Preis in der EU, einen proportional gleich stark steigenden Klimazoll auf Importen und drittens die Einhaltung des in der WTO hochgehaltenen Prinzips der Nicht-Diskriminierung. Der steigende Preis soll besonders klimaschädliche Industriesektoren wie beispielsweise Zement und fossile Energien zu klimaschonender Produktion anhalten. Die Zollabgabe soll verhindern, dass die Unternehmen dieser Sektoren ihre Produktionsstätten aus der EU in Staaten mit geringeren Klimaauflagen verlagern. Die nicht-diskriminierende Umsetzung soll andere Länder davon abhalten, den Zollaufschlag als Handelskrieg zu taxieren und darauf mit Gegenmassnahmen zu reagieren.
Beginnen müsse die EU bei sich selbst. Sie müsse den in ihrem Emissionshandelssystem geltenden CO2-Preis stark erhöhen. Das müsse sie ohnehin tun, um ihre Klimaziele von minus 50 Prozent bis 2030 und CO2-Neutralität bis 2050 zu erreichen. Zuletzt schwankte der Preis pro Tonne auf viel zu tiefem Niveau zwischen 25 und 30 Euro. Bis in zehn Jahren müssten die Verschmutzungsrechte so stark reduziert werden, dass sich die CO2-Preise etwa verdoppeln, meinen Lamy, Pons und Leturcq. Nur dann gebe es für die dem Emissionshandelssystem unterstellten Industrien genügend Anreiz, auf klimaschonende Verfahren umzustellen.
Sie tun es aber nur, wenn sie sich gegenüber ausländischen Konkurrenten nicht benachteiligt fühlen. Deshalb braucht es den Importzoll an der EU-Aussengrenze. Er soll der Abwanderung der EU-Unternehmen in Länder mit weniger strikten Klimaauflagen vorbeugen und zugleich die ausländischen Konkurrenten so stark belasten, dass sie mit ihren klimaschädlichen und deshalb preisgünstigen Produkten nicht den EU-Markt überschwemmen können.
Das sei auch klimapolitisch geboten, argumentieren Lamy, Pons und Leturcq. Denn würden klimaschädliche Industrien aus der EU abwandern oder durch ausländische Unternehmen aus dem Markt gedrängt, würde das zwar die EU-interne, nicht aber die globale Klimabilanz verbessern. Der Schaden würde lediglich aus dem EU-Raum ausgelagert.
EU-Ausland ist alarmiert
Viele werten die Klimazollpläne der EU als Provokation. Die Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgieva, äusserte sich im Januar am Davoser WEF besorgt. China, Indien und auch die USA haben mit Gegenmassnahmen gedroht, noch bevor die EU offengelegt hat, wie sie die Klimazölle erheben will.
Solchen Strafaktionen versuchen Lamy, Pons und Leturcq vorzubeugen. Sie legen deshalb grossen Wert auf die Beachtung zentraler WTO-Prinzipien bzw. von bereits im Rahmen ihrer Vorgänger-Organisation GATT festgelegten Regeln. Nicht-Diskriminierung ist das Schlüsselwort. Die ausländischen Anbieter von Produkten gleicher «Klima-Qualität» müssen gleich behandelt werden. Neue Zollabgaben sind nur so weit zulässig, als sie nicht über die intern getroffenen Massnahmen hinausgehen.
Die Autorin und Autoren verweisen zusätzlich auf die im GATT-Regelwerk enthaltenen Ausnahmebestimmungen zu Umweltbelangen. Solche sind für den Schutz von Mensch, Tier, Pflanzen und Gesundheit sowie für die Erhaltung bedrohter natürlicher Ressourcen möglich. Auch habe das Ziel der nachhaltigen Entwicklung in WTO-Streitfällen bereits Anerkennung gefunden, machen Lamy, Pons und Leturcq geltend. Den Spielraum, den diese Ausnahmebestimmungen bieten, könnten Klimazölle nutzen. Sie müssten entsprechend transparent und nachvollziehbar begründet werden.
Schrittweise Umsetzung
Sind die legalen Bedenken ausgeräumt, beginnen die technischen Probleme der Umsetzung. Lässt sich die Kohlendioxidmenge der zahllosen Importprodukte überhaupt genau berechnen? Bei Maschinen, Autos und vielen anderen Produkten, die oft aus Tausenden von Einzelteilen zusammengesetzt sind, dürfte es schwer fallen, äusserte sich skeptisch der auf Klimafragen spezialisierte Ökonom Ottmar Edenhofer vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung gegenüber der NZZ (3. Februar 2020). Und sollte es technisch machbar sein, stellt sich die Frage, ob solche Berechnungen und immer wieder erforderliche Überprüfungen «mit überschaubarem Aufwand» möglich sind.
Politische Risiken gibt es dennoch. Lamy, Pons und Leturcq plädieren deshalb für ein schrittweises Vorgehen. Die EU soll in einer Pilot-Phase den Klimazoll vorerst nur auf Strom- und Zementimporte erheben. Beide Sektoren sind energieintensiv und klimaschädlich, werden durch steigende Abgaben belastet und sind starker ausländischer Konkurrenz ausgesetzt. Die Beschränkung hätte den Vorteil, dass die EU damit weder die USA noch China direkt provozieren würde. Denn in beiden Bereichen sind die Handelsbeziehungen zwischen der EU und den beiden Grossmächten vergleichsweise gering. China ist zwar der weltweit grösste Zementproduzent, doch es verkauft nur einen kleinen Teil in die EU. Anders wäre es bei Stahl, Aluminium oder Papier, die ebenfalls energieintensiv sind und deren Kohlendioxid-Gehalt einfach zu berechnen ist. Auch hier sofort Klimazölle zu erheben, wäre handelspolitisch aber heikler.
Die Schweiz auch dabei?
Um nicht zu viel Gegnerschaft in andern Ländern zu provozieren, schlagen die Autoren zusätzlich einen «Carbon-Club» vor, dem auch Nicht-EU-Länder bzw. –Gebiete mit vergleichbaren Kohlendioxid-Abgaben angehören würden. Das wären in erster Linie die EFTA-Staaten – und damit auch die Schweiz – und zusätzlich etwa Neuseeland sowie die Teilstaaten Kanada-Quebec und Kalifornien.
Eine erste Bedingung für das Mitmachen im «Carbon-Club» erfüllt die Schweiz bereits. Denn seit Anfang 2020 ist das schweizerische Emissionshandelssystem mit jenem der EU verbunden. Für die den Systemen unterstellten Industrien gelten hier und dort die gleichen Bedingungen. Steigen die Preise im EU-System führen auch zu höheren Preisen in der Schweiz. Das BAFU erwartet jedenfalls eine Angleichung der CO2-Preise. Gar eine Verzehnfachung des Emissionspreises bis 2030 sei möglich (BAFU, Synthesebericht, Volkswirtschaftliche Beurteilung der klimapolitischen Massnahmen nach 2020, Dezember 2017, Seite 37).
Es bleibt der zweite und politisch höchst umstrittene Schritt der Klima-Importzölle. Für die Freihandelslobby sind sie tabu. Statt höhere Zölle fordert sie Null-Zölle auf allen Industrieimporten. Damit ist sie im Parlament zwar vorerst gescheitert. Umso mehr wehrt sie sich gegen Klimazölle und beschwört das Gespenst eines angeblichen schweizerischen Alleingangs. Die Schweiz würde eine Retourkutsche der USA und Chinas riskieren.
Immerhin hat die Wirtschaftskommission des Nationalrats Anfang Februar auf Antrag der Grünen Abklärungen für Massnahmen gegen Ökodumping in Auftrag gegeben. Schon bald genügen aber Abklärungen nicht mehr. Denn die EU will vorwärtsmachen. Bereits 2021 will sie nicht mehr nur über Klimaschutzzölle reden, sondern klarmachen, wie sie solche einführen will. Die Schweiz wird vor die Wahl gestellt sein, mit wem sie es handelspolitisch halten will – mit der EU oder mit Ländern des Klimadumpings.