Bis vor kurzem war die Gewalt in den urbanen Räumen das Hauptargument für den Waffenbesitz in Brasilien. In den letzten Jahren jedoch setzen besonders ultrarechte Gruppierungen vermehrt auf die Politisierung des Waffenbesitzes als Mittel zur Einschüchterung Andersdenkender. Unterstützt werden sie von keinem geringeren als dem Präsidenten, Jair Bolsonaro.
Das Sprichwort „ein guter Gangster ist ein toter Gangster“ ist schon lange keine Neuheit mehr. Mit einer langen Tradition der systematischen Missachtung der Menschenrechte zählt Brasilien regelmäßig circa 60.000 gewaltsame Tode pro Jahr. Ein nicht unwesentlicher Teil davon durch die Polizei (ungefähr 6.000 im letzten Jahr), stets begleitet vom Zuspruch großer Bevölkerungsteile. In diesem Klima der Gewaltverherrlichung fand die Aufrüstungsdebatte stets einen fruchtbaren Boden.
Die Zahlen der Gewaltopfer in Brasilien liefern außerdem ausgezeichnetes Propagandamaterial für die Waffenindustrie, die mit ihren verbündeten Parlamentsabgeordneten (die Aushängeschilder für die Produkte der Rüstungsindustrie zu sein scheinen) nach wie vor eine der kapitalstärksten der Welt ist. Auf diese Weise fand das Konzept der „legitimen Selbstverteidigung” in der Waffenlobby im Kongress schon immer besondere Resonanz. Das Recht auf Waffenbesitz, um „Eigentum und Familie zu schützen“, ist seit vielen Jahren die treibende Kraft einer Lobby, die sich notorisch für eine Lockerung der Kontrollgesetze für Waffen und Munition einsetzt.
In den letzten Jahren, indes, hat die Bewaffnungsdebatte einen neuen und noch unheilvolleren Weg eingeschlagen. Wenn der Deckmantel der individuellen „Selbstverteidigung“ bisher die Pro-Waffen-Debatte geleitet hat, dann ist es nun die Aufrüstung der politischen Kräfte, die im Rampenlicht zu stehen scheint. Mit anderen Worten, ist das Sprichwort „ein guter Gangster ist ein toter Gangster“ nun dem offenen Diskurs der Unterdrückung der Opposition unter dem Vorwand, „das Land und den Präsidenten zu schützen“, gewichen. Und es ist die extreme Rechte Brasiliens, die, durch den demokratischen Bruch der letzten Zeit belebt, den Takt für diesen neuen Ton angibt.
Nicht ich sage das, sondern der Präsident der Republik. In dem skandalösen Video, das vor kurzem veröffentlicht wurde und ein Ministertreffen entlarvte, sagte Jair Bolsonaro mehr als deutlich, dass er es begrüßen würde wenn Menschen bewaffnet würden, um seine politischen Gegenspieler einzuschüchtern. Der Satz erinnert an Bolsonaros seit langem bestehenden Wunsch, private Milizen nach US-Vorbild zu legalisieren.
Laut Datafolha abgelehnt von 72% der Bevölkerung, findet Bolsonaros Standpunkt bei seiner bedingungslosen Anhängerschaft und der zunehmend radikalisierten extremen Rechten Zuspruch. Unter diesen ist beispielsweise die Referenz zur Ukraine üblich, wo nach den Aufständen im Jahre 2014 eine Milizisierung häufig offen faschistischer Gruppierungen zu beobachten war.
Daher kommt auch zweifellos die Parole „lasst uns Brasilien ‘ukranisieren‘“, die nicht nur von Rechtsextremen wie denen von „300 do Brasil“ benutzt wurde, sondern auch von Abgeordneten der sogenannten „Bancada da Bala“ (Bezeichnung für Abgeordnete, die sich gegen die Demilitarisierung und strengere Waffengesetze einsetzen).
Der Umweltminister Brasiliens Ricardo Salles produzierte zum Beispiel Propagandamaterial, das über die schon schematische Rechtfertigung der bewaffneten „Selbstverteidigung“ gegen Kriminelle hinausging, und auch den Einsatz von Munition gegen „die Linke und die MST (Bewegung der Landlosen“ verteidigte. Ähnlich machte es Roberto Jefferson, der zum neuesten Idol des „Bolsonarismus“ erhoben wurde, indem er in sozialen Netzwerken ein Foto „gegen den Kommunismus“ mit einem Gewehr in der Hand veröffentlichte.
Dieser Diskurs über den Waffeneinsatz als politische Kraft – nicht länger als nur eine Form der Selbstverteidigung – erreicht auch andere wichtige Waffenverbände des Landes. Ein einschüchterndes Empörungsschreiben als Reaktion über den von mir letzte Woche in Outras Palavras veröffentlichten Artikel, verfasst von der Vereinigung CAC Brasilien (Vereinigung tausender Jäger, Sportschützen und Waffensammler), ist exemplarisch für eine Verschärfung in der Bewaffnungsdebatte.
In dem Artikel wies ich darauf hin, dass milizenähnliche Rüstungsverbände und „Bolsonaristas“ Druck ausgeübt hätten, um 2019 eine Überarbeitung einer Verordnung über Waffen und Munition zu erwirken. Ohne überhaupt im Text erwähnt zu werden, veröffentlichte die Vereinigung eine Anmerkung, in der sie zunächst leugnete, dass es sich um Miliz handele. Nach der Leugnung gestand sie jedoch ein, dass sie anstrebe, „eine Reaktionstruppe zu sein, die das Land schützen, den Präsidenten unterstützen und Brasilien, zusammen mit den Streitkräften, vor den ‚roten Klauen‘ verteidigen wird“. Dies sei das „amerikanische Modell“, welches von mir explizit angeprangert wurde. Ein Modell, das mit Jagdaktivitäten oder Sportschießen kaum etwas zu tun hat.
Dieser Leitgedanke der Militarisierung wird weitgehend vom Präsidenten selbst gefördert. Angesichts der anhaltenden Protestwelle in den USA und den Auswirkungen antifaschistischer Proteste in Brasilien, hat Bolsonaro am vorvergangenen Dienstag auf seinen Netzwerken ein Video zu diesem Thema veröffentlicht. Darin warnte ein Sheriff einer US-Stadt die Protestierenden, dass sie die Region in Frieden lassen sollten, da die Bewohner der Stadt Waffen besitzen und diese auch benutzen würden. In der Bildunterschrift schrieb Bolsonaro: „Rechtmäßig bewaffnete Menschen werden niemals missbraucht, bestohlen oder versklavt.“
Somit hat die Bewaffnungsdebatte in Brasilien ein neues Kapitel aufgeschlagen. Der Präsident, der in seiner ersten Rede vor einer Menschenmenge nach seiner Wahl versprach, Oppositionelle zu verfolgen, verhehlt gar nicht den zunehmend politischen Charakter seines propagierten Waffenkultes. Angesichts so vieler Hetzreden der Regierenden und ihren Anhängern hätte es schon längst einen kollektiven Aufschrei geben müssen. Der neue Bewaffnungsdiskurs in Bolsonaros Brasilien lässt keinen Zweifel: Die extreme Rechte kümmert sich nicht länger um den Vorwand der „legitimen Selbstverteidigung“, um ihre Machtbestrebungen gewaltsam durchzusetzen.
von Almir Felitte und die Übersetzung aus dem Portugiesischen von Rufus Dahm vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!