Hat das Virus nun die Angst abgetötet?
Man könnte es fast glauben bei der Welle von Demonstranten, die am 30. Mai durch Paris rollte. Überall in Frankreich war der Aufruf zum „Marsch der Solidarität“ verbreitet worden – in Paris wurde die Demonstration verboten. Im Rahmen der sog. langsamen Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen hat die Regierung fast alles erlaubt, außer der Demonstration.
Jetzt war die Stunde des zivilen Ungehorsams gekommen und so sind sie zu Zehntausenden aus der ganzen l’Ile de France (Paris und seinen Vorstädten) zusammengeströmt. Es handelte sich nicht um die erste Solidaritätsdemonstration für die Menschen ohne Papiere. Zahlreiche Organisationen und Verbände haben schon wiederholt Aufrufe gestartet, um auf die unwürdigen Lebensbedingungen tausender Familien aufmerksam zu machen, auf fehlende Grundrechte von aberhundert Menschen und auf die Schwierigkeiten, auf die sie wegen ihrer Anerkennung treffen.
Aber bei diesen Gelegenheiten kamen mehrheitlich Demonstrant*innen aus Organisatonen und Personen, die bereits Papiere haben, zusammen. Dazu fanden diese Demonstrationen noch in einem Land statt, das man für das „Land der Menschenrechte“ hielt, zumindest ein Land in dem man noch regulär demonstrieren durfte.
Heute blicken wir zurück auf ein Jahr beispielloser Polizeigewalt als Reaktion auf die Proteste der Gelbwesten, als Folge von Drohungen, Ungerechtigkeiten, nachgewiesener Bestechung.
Trotz einer langen Geschichte von Unterdrückung in unseren Vorstädten, in der die Bewohner erfolglos versuchten den zahlreichen Durchsuchungen und dem wiederholten Gewalteinsatz zu entkommen, trotz des drohenden Demonstrationsverbots, forderten Tausende Immigrant*innen verschiedenster Herkunft, eine dichte Menge von Arbeiter*innen “ohne Papiere“ unterstützt von Dutzenden von Organisationen und Verbänden gemeinsam die Autoritäten heraus. Sie trotzten der Polizei, ihrem Tränengas und den massivsten Drohungen.
Zweifellos hat die Ausgangssperre die Menschen so in Not gebracht, dass sie nur mit einer solchen Aktion hoffen konnten, zu überleben.
Zweifellos hat der Ruf der Menschen nach anderen Lebensbedingungen inzwischen eine globale Dimension angenommen. Die Vorgänge in den Vereinigten Staaten, die gewaltigen Demonstrationen in zahlreichen Städten gegen Rassendiskriminierung und Mord aus rassistischen Gründen, hat sie ermutigt und den Druck auf zivilen Widerstand erhöht.
Zweifellos haben die Menschen verstanden, dass sie eine Macht sein können, dass ohne sie die Räder still stehen, dass nichts läuft, weder die Arbeit, noch die Wirtschaft, einfach nichts.
Zweifellos hat ein Teil der Menschen verstanden, dass sie jetzt Widerstand gegen Gesetze leisten müssen, die sie auf Objekte der Produktion reduzieren.
Zweifellos haben diese Monate der Anspannung und Sorge, aber auch des Nachdenkens, der Solidarität, des Austausches gemeinsamer Perspektiven Hoffnungen genährt.
Die Welt danach…so tönen unsere Regierungen…und das Volk antwortet: „Die Welt danach ist Jetzt!“ Es geht um mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität, mehr Demokratie, mehr Würde!
Zumindest ist sich etwas Tiefes, ja fast Heiliges daraus entwickelt und Tausende von Demonstranten ermutigt und beflügelt. Jenseits ihrer unmittelbaren Forderungen, verleihen sie dem sozialen Kampf jetzt und in der Geschichte wieder Sinn und Zusammenhang.
La détermination de toutes celles et ceux qui étaient dans la rue aujourd’hui, à Paris et partout en France, ne fait que rappeler l’urgence de la situation et l’importance des revendications de l’appel https://t.co/yw6WPQEW6J pic.twitter.com/o3jiT1s1tl
— Marche des Solidarités (@MSolidarites) May 30, 2020
Die Übersetzung aus dem Französischen wurde von Heidi Meinzolt vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!