Interview zu den kommunalen Räten während der Pandemie
Unter den erschwerten Bedingungen von Quarantäne und Ausnahmezustand setzen die Basisorganisationen in Venezuela ihre Arbeit fort. So auch in Ciudad Tiuna, einer „sozialistischen Siedlung“, die für Angestellte des öffentlichen Dienstes angelegt wurde, die durch die starken Regenfälle zwischen 2010 und 2012 ihre Wohnungen verloren hatten. Die LN sprachen in Caracas mit Adriana Castejón und Javier Rodríguez, Sprecher*innen des kommunalen Rates Morgentau der Revolution (Rocíos de Revolución), über ihre Organisation und die Projekte angesichts der Covid-19-Pandemie.
Welche Rolle spielen die kommunalen Räte in den venezolanischen Gemeinden?
Javier Rodríguez: Ein kommunaler Rat ist eine parteiunabhängige politische Struktur, die unter Chávez geschaffen wurde und auf ihrem jeweils zuständigen Gebiet agiert. Aber es bedarf noch eines kulturellen Wandels, um sich an diese neue kommunale Struktur anzupassen. Diese Anpassung ist sehr schwierig, weil die Comunas [Zusammenschluss mehrerer kommunaler Räte, Anm. d. Red.] und ihre Selbstverwaltung den Ambitionen der Stadtverwaltung entgegen stehen.
Inwiefern?
Rodríguez: Der Bürgermeister und die Stadtverwaltung wollen alle Mittel für sich haben. Wenn du also keinen Wirtschaftskreislauf innerhalb der Comuna schaffst, der es dir erlaubt finanziell unabhängig zu sein, bist du immer von den Institutionen abhängig. Es gibt kommunale Räte, die nur das Nötige leisten und andere, die ein bisschen weiter gehen. Der große Unterschied liegt im kollektiven Bewusstsein und in der politischen Bildung jedes Akteurs im Gebiet. Wir stehen mit unserem kommunalen Rat noch am Anfang, weil wir im Moment nur wenige produktive Aktivitäten haben. Trotzdem haben wir inmitten der Pandemie schon viel für die Gemeinschaft erreicht und genau das ist der Beitrag, den wir als Sprecher leisten.
Adriana Castejón: Gerade probieren wir etwas Neues aus, die „Serenata con Verso” (in etwa “Serenade mit Versen“ im Spanischen aber auch ein Wortspiel hinsichtlich des Klangs von „converso“ = ich unterhalte mich, Anm. d. Red.). Auf dem zentralen Platz widmen wir uns eine Stunde einem aktuellen Thema. Wir besprechen das Thema, es werden Gedichte gelesen und Lieder gespielt und gesungen. Die Leute können von ihrem Balkon aus daran teilnehmen, dort singen sie, begleiten uns, sie können schreien und sich irgendwie ausdrücken.
Wie haben Sie als kommunaler Rat auf Covid-19 reagiert?
Castejón: Unser kommunaler Rat, Rocíos de Revolución, besteht aus etwa 730 Familien, das sind etwa 2.000 Menschen in Ciudad Socialista Tiuna. Zu Beginn der Quarantäne haben wir alles versucht, um regelmäßig Lebensmittel mit Proteinen und Gemüse hierher zu bringen, damit die Leute nicht auf die Straße gehen müssen. Außerdem wurde eine Essensausgabe in der Mensa der Vorschule eingerichtet. Wir haben auch ein kommunales Unternehmen aktiviert, das angesichts der Notsituation auf eigene Initiative begonnen hat, Mundschutzmasken für die Gemeinde zu produzieren. Später haben sie sich sogar verpflichtet, auch eine gewisse Menge Mundschutz für die Comunas auf nationaler Ebene zu liefern. Bis vor weniger als einem Monat haben die drei Personen, die dort arbeiten, 20.000 Masken verteilt. Gleichzeitig haben wir die Maßnahmen zur Lockerung der Quarantäne begleitet [bestimmte, von der Regierung angeordnete Zeiten, zu denen während der Quarantäne Kinder die Erlaubnis hatten, das Haus zu verlassen, Anm. d. Red.].
Wie laufen diese Maßnahmen ab?
Castejón: Wir veranstalten eine Aktivität auf dem zentralen Platz mit einem Mikrophon und Musik und erinnerten die Leute daran, dass sie raus gehen können, dabei aber die Vorsichtsmaßnahmen beachten. Jedes Kind darf nur mit den eigenen Spielsachen spielen und sie nicht teilen. Manchmal halten sie sich nicht daran und dann weisen wir darauf hin, dass sie Handschuhe und Mundschutz tragen müssen. Und genauso machen wir es auch während den Ausgangszeiten für die Älteren.
Wie genau funktioniert die Nahrungsmittelhilfe?
Rodríguez: Wir haben einen kommunalen Wirtschaftskreislauf aufgebaut. Eine Comuna im Bundesstaat Trujillo bringt wöchentlich Produkte, die sie zu solidarischen Preisen verkaufen. Es wurde aber auch die Essensausgabe für Familien in schwierigen Situationen geöffnet.
Castejón: Die Essensausgabe ist sehr wichtig, denn alle haben ein Recht auf Essen. Morgens bringen sie ihre Behältnisse her, wenn das Essen fertig ist, wird es abgefüllt und die Leute können sich ihre Portion und einen Saft abholen. Wer das Haus nicht verlassen kann, dem wird es vorbei gebracht.
Rodríguez: Als kommunaler Rat haben wir einen Teil der Lebensmittel zur Verfügung gestellt bekommen, um die normalen Essensrationen des Ministeriums zu ergänzen. Da wir jetzt ganze Familien versorgen, müssen die Rationen größer sein.
Was haben Sie in Bezug auf Gesundheit und Hygiene getan?
Castejón: Zusammen mit Ärztinnen und Ärzten haben wir zwei Touren durch alle Wohneinheiten im Viertel gemacht, um Symptome abzufragen und Fieber zu messen. Somit konnte vermieden werden, dass Personen Symptome zeigen, diese aber vielleicht nicht erkennen oder aus Angst nicht melden.
Im kommunalen Laden verkaufen wir auch Reinigungsmittel. Der Laden ist mit der Firma Marivelca verbunden, einem ehemaligen privaten Unternehmen, das die Rohstoffe lieferte, und jetzt unter der Verwaltung des Ministeriums für die Kommunen steht. Um die Wirtschaft in den Kommunen zu stärken, werden nicht nur Rohstoffe an die vergesellschafteten Unternehmen geliefert, sondern auch das Endprodukt hergestellt. Wir produzieren die vier haushaltsüblichen Reinigungsmittel: Chlor, Desinfektionsmittel, Flüssigwaschmittel und Geschirrspülmittel. Aber in der jetzigen Notsituation wussten wir, dass es nötig sein würde, auch Handdesinfektionsmittel zu einem solidarischen Preis herzustellen – und das haben wir geschafft. Die Pandemie hat gezeigt, wozu die Leute an der Basis, in den Organisationen, fähig sind. Sie sind diejenigen, die das Land retten.
Interview: John Mark Shorack, Übersetzung: Ulrike Geier
KOMMUNALE RÄTE
Nachdem Chávez das Projekt einer partizipativen und protagonistischen Demokratie anfangs eher mit sozialdemokratischen Ideen verfolgt hatte, erhob er ab 2005 den Aufbau eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts zum Ziel. Die Keimzelle des neuen „kommunalen Staates” sollten die kommunalen Räte werden, in denen sich jeweils bis zu 400 Haushalte in einem selbst definierten geografischen Gebiet zusammenschließen, um basisdemokratisch über die Belange in der Nachbarschaft zu entscheiden. Auf einer höheren politischen Ebene können mehrere Räte gemeinsam Comunas bilden.
Adriana Castejón, Sprecherin für Bildung und ideologisches Bewusstsein, und Javier Rodríguez, Sprecher für Wirtschaft und Gemeinschaftspolitik, sind Gründungsmitglieder des kommunalen Rats Rocíos de Revolución und der Siedlung Ciudad Socialista Tiuna im Jahr 2014.