Die NATO kann Berichten zufolge im Falle eines Krieges gegen Russland „früher als bisher mit nuklearer Vergeltung drohen“.
Die NATO wird künftig bei etwaigen bewaffneten Auseinandersetzungen mit Russland „früher als bisher mit nuklearer Vergeltung drohen“ können. Dies geht aus einem Bericht über entsprechende, bisher geheimgehaltene Pläne des Bündnisses hervor, die in der vergangenen Woche beim NATO-Verteidigungsministertreffen besprochen wurden. Möglich wird es zudem sein, konventionell bewaffnete Mittelstreckenraketen, die die NATO in Europa zu stationieren erwägt, im Spannungsfalle nuklear umzurüsten. Im Hintergrund spielen offenbar US-Pläne eine Rolle, mit Atomwaffen geringerer Sprengkraft bei Bedarf einen angeblich „begrenzten“ Nuklearkrieg führen zu können. Darauf läuft die US-Nukleardoktrin von Anfang 2018 hinaus. Legitimiert werden die Pläne mit einer angeblichen russischen Strategie der „Eskalation zur Deeskalation“, deren Existenz freilich auch von westlichen Experten bezweifelt wird. Der angeblich „begrenzte“ Nuklearkrieg gegen Russland fände nach Lage der Dinge auf europäischem Territorium statt.
„Eskalation zur Deeskalation“?
Legitimiert werden die gegenwärtigen nuklearen Planungen der Vereinigten Staaten wie auch der NATO üblicherweise mit der Behauptung, Russland verfolge eine Strategie der „Eskalation zur Deeskalation“. Demnach sei mit folgendem Szenario zu rechnen: Russland überfalle die baltischen Staaten und beantworte die konventionelle militärische Verteidigung der NATO mit einem relativ schwachen Atomschlag. Dieser genüge, um die NATO-Verteidigung kollabieren zu lassen, sei aber nicht schwer genug, um die Vereinigten Staaten zu einem atomaren Gegenschlag zu motivieren – denn schließlich riskierten sie damit einen umfassenden Atomkrieg, womöglich gar die eigene Vernichtung. Die Rede von der Strategie der „Eskalation zur Deeskalation“ stößt freilich auf zwei prinzipielle Probleme. Zum einen, so konstatierte kürzlich die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), wird in der Debatte kaum reflektiert, „dass ein Vorgehen gegen die baltischen Staaten vielleicht gar nicht im russischen Interesse liegt“.[1] Zum anderen ist die Existenz der angeblichen Strategie der „Eskalation zur Deeskalation“ nicht belegt. So räumen selbst Analysen aus US-Think Tanks ein, russische Regierungsstellen hätten jeglichen Gedanken an eine Angriffsstrategie, die einen atomaren Erstschlag Russlands beinhaltet, stets zurückgewiesen.[2] In Russlands offizieller Militärdoktrin, bestätigt eine kürzlich an der American Academy of Arts & Sciences publizierte Untersuchung, gebe es keine derartige Strategie.[3] Bei der SWP heißt es – höflich distanziert -, ob eine Strategie der „Eskalation zur Deeskalation“ existiere, sei „strittig“.
Wie die NATO im ersten Kalten Krieg
Aktuelle Informationen lassen sich einem Dekret über die offizielle russische Nuklearstrategie entnehmen, das Präsident Wladimir Putin am 2. Juni unterzeichnet hat. Demnach behält sich Russland Atomschläge lediglich für den Fall vor, dass es mit Nuklearwaffen attackiert wird oder seine staatliche Existenz bei einem konventionellen Überfall in Gefahr gerät.[4] Dies spiegle, heißt es in einer Analyse des ehemaligen australischen Geheimdienstlers und Russland-Spezialisten Paul Dibb, recht exakt die Strategie der NATO im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion wider.[5] Dibb weist darauf hin, dass Moskau das Dekret nicht zufällig zu einem Zeitpunkt veröffentlicht hat, zu dem die Vereinigten Staaten das gesamte bisherige Rüstungskontrollsystem niederreißen: zunächst durch den Ausstieg aus dem ABM-Vertrag (2002), dann durch den Rückzug aus dem INF- (2019 [6]) und nun aus dem Open Skies-Vertrag (2020 [7]). Schwer wiege zudem, dass die USA Raketen beschafften, die gleichermaßen konventionell wie nuklear bestückt werden könnten: Die Art der Bewaffnung sei beim Anflug nicht zu erkennen. Tatsächlich kündigt Russlands Dekret vom 2. Juni an, ein nuklearer Gegenschlag werde auch ausgelöst, wenn Russland oder seine Verbündeten mit ballistischen Raketen angegriffen würden: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Atomwaffen tragen.
Atomschläge auf regionalen Schlachtfeldern
Unabhängig von der Debatte treiben die Vereinigten Staaten ihre atomare Aufrüstung seit Jahren systematisch voran. Dabei sieht die jüngste US-Nuklearstrategie (Nuclear Posture Review), die am 2. Februar 2018 veröffentlicht wurde, die Fähigkeit zu einem angeblich „begrenzten Nuklearkrieg“ vor, der mit Kernwaffen von geringerer Sprengkraft geführt werden soll. Dabei wird gedroht, Kernwaffen gezielt auf einzelnen regionalen Schlachtfeldern einzusetzen, aber nicht zum großen Vernichtungsschlag gegen den Feind auszuholen. Offiziell dient dies nur der Abschreckung: Es soll einem Kriegsgegner nahelegen, seinerseits auf einen „begrenzten“ Einsatz taktischer Atomwaffen zu verzichten – so etwa im Rahmen der Russland unterstellten Strategie der „Eskalation zur Deeskalation. Von einem solchen Einsatz werde der Feind nur absehen, sofern ein „begrenzter“ nuklearer US-Gegenschlag mit Sicherheit zu erwarten sei, heißt es. Freilich weisen Experten seit je darauf hin, die Auffassung, einen „begrenzten“ Krieg mit Kernwaffen führen zu können, werde vielmehr die Einsatzschwelle senken und damit die Atomkriegsgefahr beträchtlich erhöhen.[8] Das trifft auch auf die jüngste US-Nuklearstrategie zu.
Geheime NATO-Pläne
Inzwischen ist auch die NATO dabei, ihre Vorbereitungen auf einen möglichen Atomkrieg zu intensivieren. Dies bestätigt ein Bericht vom jüngsten NATO-Verteidigungsministertreffen Mitte vergangener Woche. Autor ist ein deutscher Auslandskorrespondent, der als bestens vernetzt gelten kann und bereits in der Vergangenheit eine zentrale Rolle beim Durchstechen diplomatisch höchst sensibler Informationen spielte.[9] Er schildert zunächst, wie die NATO-Verteidigungsminister Anfang 2016 die Revision der nuklearen Planungen anstießen und die Staats- und Regierungschefs dann auf dem Brüsseler NATO-Gipfel im Juli 2018 ein „als geheim eingestuftes Dokument“ zur Kenntnis nahmen, das „erstmals“ konstatiert habe, „konventionelle Verteidigung und nukleare Abschreckung“ ließen sich „nicht mehr, wie bisher in der Nato üblich, voneinander trennen“.[10] Man müsse „vielmehr beides gemeinsam bedenken, um der russischen Herausforderung gerecht zu werden“. Details sind aufgrund der NATO-Geheimhaltung nicht bekannt. Allerdings lässt sich die Schilderung in Einklang mit den den US-Plänen für einen angeblich „begrenzten“ Einsatz von Atomwaffen bringen.
„Bis zu nuklearen Erstschlägen“
Weiter heißt es in dem Bericht, am Mittwoch hätten die NATO-Verteidigungsminister nun einem ebenfalls „streng geheim[en]“ Planungspapier zugestimmt, das der NATO-Oberbefehlshaber in Europa (Supreme Allied Commander Europe, Saceur), US-General Tod D. Walters, erstellt habe. Der Inhalt des Papiers wird in dem Bericht lediglich angerissen. Er beziehe sich, heißt es, auf den gesamten Operationsraum des Kriegsbündnisses und auf Bedrohungen aller Art – zu Lande, zu Wasser und in der Luft, im Cyber- sowie im Weltraum. Gegen die Bedrohungen richte die NATO alle ihre „defensiven und offensiven Fähigkeiten“ – „von der Raketenabwehr bis zu nuklearen Erstschlägen“.[11] Zudem behalte sie sich vor, konventionell bewaffnete Mittelstreckenraketen in Europa aufzustellen, die bei Bedarf jederzeit „nuklear aufgerüstet werden“ könnten. Genau diese Option hat Moskau veranlasst, im Nukleardekret vom 2. Juni den feindlichen Start derartiger Raketen als Auslöser für einen atomaren Gegenschlag Russlands zu nennen.
„Früher mit nuklearer Vergeltung drohen“
Faktisch drohen die NATO-Pläne damit, Europa zum Schauplatz eines etwaigen Atomkriegs zu machen. Befeuert wird die Gefahr dadurch, dass die in mehreren europäischen Staaten gelagerten US-Atomwaffen – Bomben des Typs B61 – schon recht bald durch das neue Modell B61-12 ersetzt werden sollen. Deren Sprengkraft kann jederzeit flexibel variiert werden; die neuen B61-12 lassen sich damit für einen angeblich „begrenzten“ Atomkrieg nutzen.[12] Über die NATO heißt es entsprechend, das Bündnis stelle sich nun darauf ein, „in einer Auseinandersetzung mit Russland früher als bisher mit nuklearer Vergeltung [zu] drohen“.[13]
[1] Peter Rudolf: Deutschland, die Nato und die nukleare Abschreckung. SWP-Studie 11. Berlin, Mai 2020.
[2] Kevin Ryan: Is ‚Escalate to Deescalate‘ Part of Russia’s Nuclear Toolbox? russiamatters.org 08.01.2020.
[3] Anya Loukianova Fink, Olga Oliker: Russia’s Nuclear Weapons in a Multipolar World: Guarantors of Sovereignty, Great Power Status & More. In: Daedalus, the Journal of the American Academy of Arts & Sciences 2/149. Spring 2020. S. 37-55.
[4] The President of the Russian Federation: Executive Order. On Basic Principles of State Policy of the Russian Federation on Nuclear Deterrence. Moscow, June 2nd, 2020.
[5] Paul Dibb: Russia’s new strategy for nuclear war. aspistrategist.org.au 19.06.2020.
[6] S. dazu Abschied vom INF-Vertrag (II) und Abschied vom INF-Vertrag (III).
[7] S. dazu Der Abriss der Rüstungskontrolle.
[8] John Mecklin: Mini-nukes: Still a horrible and dangerous idea. thebulletin.org 19.09.2018.
[9] Dabei ging es um das Durchstechen sensibler Informationen über ein Treffen zwischen dem damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und der damaligen britischen Premierministerin Theresa May; german-foreign-policy.com berichtete.
[10], [11] Thomas Gutschker: Die Nato kann früher mit Atomschlägen drohen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.06.2020.
[12] Peter Rudolf: Aporien atomarer Abschreckung. Zur US-Nukleardoktrin und ihren Problemen. SWP-Studie 15. Berlin, Juli 2018.