Im Gegensatz zu jenen linken Ideologien, die den Geist des freien Marktes im Ursprung der Pandemie und ihrer „Kultivierung“ sehen, steigt mit dem Leid wegen des Virus die Forderung nach einem neuen Verfassungsmodell. Bereits vom Ausbruch der Krankheit an kamen in Chile erneut Verstöße gegen das Arbeitsrecht, Ungerechtigkeiten, Missbrauch des freien Marktes und die Anfälligkeit eines Landes mit einer schwachen Regierung zum Vorschein.
In diesem Leid blicken die Menschen auf den Staat mit der Forderung zu handeln. Angesichts der globalen Angst vor der Pandemie fordern die meisten die Regierung mit gutem Grund auf, die Preise in den Apotheken, für Labortests, Impfstoffe gegen Grippe und Lebensmittel festzulegen. Die Menschen fordern, dass der Staat den Markt reguliert, um Missbräuche zu vermeiden, dass er Masken herstellt und verkauft, dass er in den Betrieb der privaten Gesundheitsversorgung eingreift, die Schwachen subventioniert, sich um kleine und mittlere Unternehmen kümmert, für Löhne sorgt, Unternehmensmissbräuche verhindert und Arbeitsplätze schützt. Aber die aktuelle Verfassung beraubt den Staat um seine Möglichkeiten für Schutz zu sorgen.
Diejenigen, die glaubten, dass die Pandemie das Interesse an einer neuen Verfassung ausgelöscht habe, haben sich getäuscht. Diejenigen, die glaubten, die Forderungen der Gesellschaft nach einer neuen Verfassung seien in Vergessenheit geraten, haben nicht realisiert, dass die Gesellschaft heute, gerade wegen der Pandemie, einen Staat ersehnt, der Schutz gewährt.
Die Parolen einer starken Regierung, die in Chile von den Rechten angeeignet wurden, sind in die Sprache der Mittelklasse und der am meisten Enteigneten übergegangen, um ihre Forderungen nach einem starken Staat durchzusetzen.
Denn die Schwächen des Rechtsstaates, dafür konzipiert, um einen schwachen, „subsidiären“ Staat zu haben, wurden vom Verfassungsgeber 1980 geschrieben und von allen Politikern respektiert, die zwischen 1990 und 2019 an der Macht waren und das für eine Staatsform, die das Volk heute nicht will.
Im Gegenteil, mitten in der Pandemie wird im Land die Forderung laut nach der Notwendigkeit, eine neue Ordnung in der Gesellschaft zu schaffen, die einen starken Staat mit der Befugnis zur Durchführung von Schutzmaßnahmen ermöglicht; die Menschen wollen mehr Staat und weniger Kontrolle durch den freien Markt; im sozialen Dialog fordern sie einen Staat, der die Kontrolle über diejenigen übernimmt, die das Leiden ausnutzen, der Quarantänen kontrolliert, der das Verhalten zum Wohle der Allgemeinheit regelt.
Und ohne die Notwendigkeit, einer politischen Partei anzugehören, mit keiner anderen Ideologie als derjenigen, die sich aus der Lebenserfahrung und nicht aus den Parteibibliotheken ergibt, sehnt sich heute die Mehrheit der Menschen nach einer von allen vereinbarten Form des Zusammenlebens, in der folgende Worte in Verfassungsbronze legitimiert sind: Gemeinwohl, Solidarität, Schutz, Aufgabe aller, sozialer Schutz, Fürsorge für die Schwächsten, Gleichheit aller in dem, was für ein menschenwürdiges Leben grundlegend ist.
Der chilenische Konservatismus der freien Wirtschaft sieht, dass die Pandemie sein deregulierendes Vokabular zurückgeworfen hat. Sie fürchten, dass ihr Diskurs nicht einfach sein wird zur Verteidigung eines permissiven Staates, der es dem Markt überlässt, dabei für Ordnung zu sorgen, wer sich rettet und wer sich nicht rettet, wer gute oder schlechte Bildung verkauft, wer vom Verkauf teurer Medikamente profitiert und wer nicht, wer seine Gesundheitsdienste gut oder schlecht verkauft, wer seine Arbeiter mit oder ohne Missbrauch auf die Straße wirft.
Es ist nur so, dass die Angst vor einer unbekannten Kraft in unser Leben eingedrungen ist.
Der Konservatismus, der vor Erleichterung aufatmete, weil er sich ein Volk vorstellte, das die Erinnerung an den Verfassungskonvent und die Suche nach Würde verloren hatte, verstand nicht, dass die Gnade der Pandemie darin besteht, dass sie auf apokalyptische Weise den Beweis für die Notwendigkeit erbracht hat, zusammenzukommen und eine neue Art des Dialogs mit gegenseitigem Respekt zu schaffen, um zu lernen, auf der Grundlage einer neuen fundamentalen Aufzeichnung zusammenzuleben: der Neuen Verfassung. Notwendiger denn je.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Katharina Stobbe vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!