Die Staaten erhöhen ihre Schulden, um die Wirtschaftskrise nach der Corona-Epidemie zu lindern. Das Gleiche tun sie seit 20 Jahren.
für die Online-Zeitung«Spare in der Zeit, so hast Du in der Not», weiss der Volksmund. Auf dieser Tugend basiert die private Vorsorge. Das gleiche Rezept, aber in umgekehrter Reihenfolge, empfehlen Anhänger einer antizyklischen Wirtschaftspolitik dem Staat: Verschulde Dich in der Not, und wenn die Not vorbei ist respektive die Wirtschaft wieder wächst, kannst Du die Schulden tilgen. Mit diesem Rezept berufen sie sich auf Theorien des Ökonomen John Maynard Keynes.
Den ersten Teil dieses Rezepts befolgen zurzeit alle Staaten, um die Not zu lindern, welche die Corona-Epidemie ihren Volkswirtschaften beschert. In der Schweiz etwa dürften 2020 die Staatschulden allein auf Bundesebene um 30 bis 60 Milliarden Franken steigen, rechnet Finanzminister Ueli Maurer. Noch weit höhere Schulden türmen zurzeit die USA und die EU-Staaten auf, um Unternehmen und Haushalte finanziell zu unterstützen. Das Gleiche taten sie schon, um frühere Krisen wie etwa den Finanzcrash 2008/09 abzufedern.
Staatschulden wuchsen stärker als die Wirtschaft
Der zweite Teil dieser antizyklischen Wirtschaftspolitik hingegen, die Schuldentilgung, geht meist vergessen. Das zeigt der Blick zurück. Auch in Jahren ohne Not erhöhten die meisten Industrieländer ihre Staatsschulden. Sie taten das nicht, um eine Rezession zu lindern, sondern um das Wachstum der Wirtschaft zu stützen. Mehr noch: Die Schulden der meisten Industriestaaten wuchsen in den letzten 20 Jahren stärker als ihre Volkswirtschaften. Die Wirtschaft wächst also schon lange nur noch auf Pump. Das zeigt die untenstehende Grafik über den Anteil der Staatsverschuldung, gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP), im Zeitraum von 2000 bis 2018.
Entwicklung der Staatsverschuldung in den USA, der Eurozone und der Schweiz (Bund, Kantone, Gemeinden) von 2000 bis 2020. Grafik: Guggenbühl
Die USA etwa (blaue Kurve) erhöhten ihre Staatsschulden von 50 Prozent im Jahr 2000 auf über 100 Prozent ihres BIP im Jahr 2018; der Finanzcrash 2008 bewirkte den ausgeprägtesten Knick nach oben. Ähnlich, wenn auch etwas weniger steil, stieg die Staatsverschuldung seit 2000 in Europa (siehe orange Kurve der Eurozone). Dabei gibt es in Europa je nach Land deutliche Abweichungen: Während die Schuldenquote in den südlichen Staaten (Italien, Spanien, Griechenland, etc.) in den letzten 18 Jahren überdurchschnittlich zunahm, konnte Deutschland seinen Schuldenanteil am BIP in den letzten Jahren etwas mildern, blieb aber im Jahr 2018 mit 62 Prozent ebenfalls noch über dem Stand im Jahr 2000.
Die Staatsschulden in den grössten Volkswirtschaften wuchsen seit der Jahrtausendwende – und zum Teil schon früher – viel stärker als ihre gesamte Wirtschaftsleistung, gemessen am nominalen BIP. «Es kann doch niemandem entgangen sein, dass ein erheblicher Teil des ohnehin relativ niedrigen Wirtschaftswachstums der letzten Jahrzehnte nur eine Art Scheinblüte war, die erst durch die finanzkapitalistische Verschuldungsorgie möglich wurde», kommentierte der deutsche Volkswirtschafts-Professor Karl Georg Zinn 2009 in einem Artikel im «monde-diplomatique». Ohne Staatsverschuldung wäre die – scheinbar florierende – Wirtschaft – in den USA und weiteren westlichen Industriestaaten also schon lange geschrumpft.
Zu den wenigen Staaten, die ihre Schuldenquote seit der Jahrtausendwende reduzierten, gehört – dank Schuldenbremse auf Bundesebene ab 2003 – die Schweiz. Dabei basiert die (graue) Schweizer Kurve in der obigen Grafik wie jene der USA und der Eurozone auf Daten des IWF; die offiziellen Zahlen der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV), welche die Staatsschulden enger definiert, liegen für die Schweiz im Schnitt rund 13 Prozentpunkte tiefer.
Corona-Epidemie lässt Staatsschulden explodieren
Um die Corona-bedingte Wirtschaftskrise zu mildern, verteilen die Staaten zurzeit zusätzliche Beträge in Billionenhöhe. Die Staatdefizite, so zeigen die Kurven in der Grafik von 2018 bis 2020, werden damit noch steiler in die Höhe schnellen als zuvor. Bis Ende 2020, so schätzt der Internationale Währungsfonds (IWF) kürzlich wird die Staatsverschuldung der USA auf 131 Prozent des BIP steigen, jene in der Eurozone auf 97 Prozent (siehe nochmals obige Grafik). Das heisst: Um ihre Staatsschulden zu tilgen, müssten die Erwerbstätigen in Europa und in den USA mit all ihren Produktionsmitteln ein ganzes Jahr oder noch länger gratis arbeiten. Das ist unmöglich und nach Ansicht von einigen Ökonomen auch nicht nötig (mehr darüber später in diesem Text).
Auch in der Schweiz wird die staatliche Schuldenquote 2020 wieder deutlich zunehmen, gemäss konservativer Schätzung des Schreibenden um 8 Prozentpunkte auf 48 Prozent des BIP (gemäss IWF-Definition). Diese Schätzung basiert auf den Beschlüssen des Parlamentes anfangs dieses Monats über zusätzliche Ausgaben und Bürgschaften des Bundes sowie verschiedenen Prognosen über die Schrumpfung des BIP und der Steuerzahlungen im Jahr 2020.
Nominal summieren sich die Schulden aller Staaten dieser Welt gegenwärtig auf rund 70 Billionen US-Dollar oder rund 80 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung (BIP global). Zählt man die privaten Schulden von Haushalten, Unternehmen sowie dem Finanzbereich dazu, kommt man auf annähernd das Vierfache der reinen Staatsschulden (Details darüber am Schluss dieses Artikels).
Mehr Schulden, mehr Vermögen
Umstrittener als die Erfassung der Menge ist die Frage, ob und wieweit die wachsenden Staatschulden ein Problem sind. Ein Teil der Politiker und Ökonominnen findet es unverantwortlich, dass die heutige Generation nicht nur ökologisch, sondern auch finanziell auf Pump von späteren Generationen lebt. Je stärker die Schulden steigen, und je mehr Staats- und Unternehmensanleihen bis hin zu Ramschpapieren die geldvermehrenden Zentralbanken wie das FED in den USA oder die EZB in Europa kaufen, so fürchten die Warner, desto brutaler werde der unausweichliche Finanzkollaps dereinst ausfallen.
Andere Ökonomen, unter ihnen auch Infosperber-Mitarbeiter Werner Vontobel, schätzen die Risiken als gering ein. Denn die Staaten müssten ihre Schulden nie zurückzahlen, sondern könnten auslaufende Kredite stets durch neue ersetzen, begründen sie. Oder ihre National- respektive Zentralbanken könnten die Geldmenge wie schon in den letzten Jahren ewig weiter erhöhen; im Unterschied zur Krise in den 1930er-Jahren, als die Staaten mit ihren Notenpressen eine Inflation auslösten, hat das in den letzten Jahren tatsächlich ohne grössere Inflation funktioniert. Zudem stehe ja jedem Schuldner ein Gläubiger gegenüber.
Mit den Schulden wuchsen in den letzten Jahren zwar auch die privaten Vermögen; dies vor allem in Form von Aktien und Immobilien. Doch dieses Vermögen ist ungleich und wird immer ungleicher verteilt. In der Schweiz zum Beispiel, so zeigt die neuste Steuerstatistik übers Jahr 2016, beläuft sich das Vermögen aller natürlichen Personen auf rund 1,9 Billionen Franken (annähernd das Dreifache des BIP). Davon entfällt rund die Hälfte auf nur zwei Prozent aller Steuerpflichtigen. Diese zwei Prozent besitzen im Schnitt je 9,4 Millionen Franken. Auf der anderen Seite verfügen mehr als die Hälfte aller Steuerpflichtigen über gar kein Vermögen oder eines von weniger als 50 000 Franken.
Reiche wurden reicher – und vom Staat entlastet
Wie sich die ungleiche Vermögensverteilung auswirkt, zeigte sich, als der Bund ab 16. März notrechtlich die Wirtschaftstätigkeit einschränkte, um die Ausbreitung der Corona-Epidemie zu bremsen. Darauf bekamen viele Kleingewerbler und Angestellte schon innert Monatsfrist Liquiditätsprobleme. Denn obwohl die Schweizer Wirtschaft, gemessen am teuerungsbereinigten BIP, seit der Jahrtausendwende um annähernd 40 Prozent gewachsen ist, konnten sie keine finanziellen Reserven bilden. Die zwei Prozent der Reichsten hingegen haben seit dem Jahr 2000 ihr Vermögen verdreifacht.
Die Reichen wurden nicht nur reicher, weil ihre Einkommen aus Arbeit und Kapital (steigende Aktienkurse) sowie Immobilien und Erbschaften überdurchschnittlich gestiegen ist. Gleichzeitig profitierten sie von sinkenden Steuern. Das zeigen Daten zur Schweiz, die der Ökonom Hans Baumann zusammentrug und letzte Woche mittels untenstehender Grafik in der Gewerkschaftszeitung «Work» veröffentlichte.
Entwicklung der Steuerbelastung von Unternehmen und hohen Einkommen. Grafik: Baumann/work
Demnach sank zum Beispiel die fiskalische Belastung von Steuerpflichtigen mit einem Einkommen von mehr als 500 000 Franken in der Stadt Zürich seit 1980 kontinuierlich von rund 30 auf heute noch 20 Prozent; ähnlich verhält es sich in anderen Kantonen. Noch stärker, nämlich auf die Hälfte, sank in der Schweiz seit 1980 die Steuerbelastung für Unternehmen; dies besonders stark mit der jüngsten Steuerreform.
Auf der anderen Seite trifft die Krise – einmal mehr – Leute mit unterdurchschnittlichem Einkommen und Vermögen besonders stark. So beantragten die Firmen in der Schweiz seit Beginn der Corona-Epidemie für rund einen Drittel aller Angestellten Kurzarbeit. Damit bescherten sie ihnen eine Lohneinbusse von 20 Prozent. Auch die jetzt wieder zunehmende Arbeitslosigkeit betrifft ärmere Leute stärker als reiche. Trotzdem lehnte es das Parlament Anfang Mai ab, die Stützungsmassnahmen für Unternehmen mit einem Dividendenverzicht zu verknüpfen. Somit finanziert der Staat mit seinen Bürgschaften für Kredite indirekt die Eigentümer der Unternehmen.
Wer soll das alles bezahlen?
Die wachsende Staatsverschuldung, welche die aktuelle Wirtschaftskrise dämpft, wird in den nächsten Jahren den Verteilungskampf verschärfen. Linke und teilweise auch Grüne verlangen, der Staat müsse die Wirtschaft mit vorgezogenen Investitionen und Konjunkturprogrammen wieder ankurbeln. Das wird die Staatsverschuldung zusätzlich erhöhen. Und wer soll das alles finanzieren? «Die zusätzlichen Mittel müssen bei jenen eingefordert werden, die in den letzten Jahren von Steuersenkungen profitiert haben», vertritt der gewerkschaftsnahe Ökonom Hans Baumann und fordert: «Mit einer Sondersteuer auf hohen Einkommen, einer Abgabe auf sehr hohen Vermögen und einem Solidaritätszuschlag bei den Unternehmenssteuern.»
Bürgerliche Parteien hingegen werden bald schon staatliche Sparmassnahmen verlangen, die erfahrungsgemäss Arme stärker treffen als Reiche. Gleichzeitig halten sie an ihren Plänen für weitere Steuersenkungen fest (etwa die Abschaffung der Stempelsteuer), um die Wirtschaft zu entlasten. Bleibt die Frage: Welche Seite wird sich durchsetzen? Als Schiedsrichter entscheiden in der Schweiz die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Spätestens bei den nächsten Wahlen.
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Der globale Schuldenturm
Die weltweiten Gesamtschulden beliefen sich im Jahr 2019 auf rund 250 Billionen (250 000 Milliarden) US-Dollar. Das zeigt eine Zusammenstellung des Internationalen Instituts für Finanzen (IIF). Von der Summe entfielen 68 Billionen oder etwas mehr als ein Viertel auf die in diesem Artikel thematisierten Staatsschulden, 47 Billionen auf Haushalte und 74 Billionen auf Unternehmen ausserhalb des Finanzbereichs. Die übrigen 61 Billionen entfallen laut IIF auf den sogenannten Finanzbereich.
Diese Gesamtschulden von 250 Billionen US-Dollar waren 2019 annährend dreimal so hoch wie die globale Wirtschaftsleistung, gemessen am BIP in einem Jahr (86 Billionen US-Dollar). Die Quote der globalen Staatsschulden allein am BIP betrugen damit knapp 80 Prozent; sie lag also unter den Schuldenquoten der USA (107 %) und der Eurozone (86 %), aber über jener der Schweiz (40 %).
Hohe Haushaltschulden in der Schweiz
Die Gesamtschulden in der Schweiz beliefen sich im Jahr 2017 auf 1,851 Billionen Franken. Sie waren damit annähernd dreimal so hoch wie das Schweizer BIP. Damit bewegt sich die Gesamtschulden-Quote in der Schweiz etwa im globalen Mittelfeld, während der Anteil der Staatsschulden – wie oben gezeigt – deutlich unter dem globalen Durchschnitt liegt. Überdiurchnittlich hoch sind in der Schweiz – immer gemessen am BIP – die Schulden der privaten Haushalte. (855 Mrd. Franken). Ihr Anteil am BIP liegt damit global im Spitzenfeld. Das ist primär auf die hohen Hypothekarschulden zurückzuführen.