ÖGB, AK und Gewerkschaften sind gefordert sich als Lotsen der Gerechtigkeit einzumischen – nicht nur beim anstehenden Wiederaufbau
Die Corona-Pandemie ist ohne Zweifel eine historische Ausnahmesituation. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen haben das Zeug, neoliberale Dogmen ins Wanken zu bringen und Raum zur Korrektur politischer Prioritäten zu schaffen. Das sollte auch nicht ohne Wirkung für Gewerkschaften bleiben. In welche Richtung, das wird sich wesentlich im anstehenden Wiederaufbauprozess entscheiden, in dem Gewerkschaften gleich mehrfach gefordert sind, sich als Lotsen der Gerechtigkeit einzumischen.
Temporärer Beifall als Krisenfeuerwehr oder nachhaltiges Revival der Gewerkschaften?
Im Klima des Corona-bedingten „nationalen Schulterschlusses“ kehrte die von Schwarz-Blau vor gar nicht allzu langer Zeit regierungsamtlich zum Abschuss freigegebene Sozialpartnerschaft wieder selbstbewusst in die politische Arena zurück. Mit ihr sind ÖGB, AK und Gewerkschaften als gestaltende Kraft bis hinauf in die Regierungsspitzen wieder hoch im Kurs. Anerkennung erfahren ÖGB und AK vorerst freilich einmal als staatstragende Krisenfeuerwehr im Zuge eines „Krisenkorporatismus“, wie auch bereits in vergangenen Umbruchsituationen.
Vor früher Euphorie sei jedoch gewarnt: Wenn es in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen um den Beitrag als Ordnungsmacht vor allem am Arbeitsmarkt geht (Stichwort: Kurzarbeit, arbeitsrechtliche Anpassungen), genießen Gewerkschaften auch bei Arbeitgebern und Politik rasch Respekt. Gewerkschaftliche Gegenmacht ist demgegenüber „virusbedingt“ bis heute partiell eingefroren und bei so manchen wohl auch weniger geschätzt. Notverordnungen und Versammlungsverbot schränken gewerkschaftliches Handeln ein. Ein Ausnahmezustand, der in der „Zeit danach“ nicht eine Sekunde zur Normalität werden darf.
Die Geschichte lehrt: Ein Krisenkorporatismus kann interessenpolitisch Nachhaltiges entstehen lassen, so etwa die Entwicklung der Sozialpartnerschaft in Österreich nach 1945, so auch in den USA Roosevelts „New Deal“ in den 1930er Jahren. Ein sozialpartnerschaftlicher Schulterschluss in der Krise kann sich aber auch als kurze Etappe erweisen, siehe etwa 2008 ff., als im Gefolge der Finanzmarktkrise politische Eliten im Verbund mit einflussreichen Kapitalfraktionen vor allem in der EU sehr rasch wieder nach dem Motto handelten: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, nun kann er gehen“.
In der Krise sind alle Keynesianer/innen und verlangen nach aktivem Staat
Warum das jetzt anders sein kann: Die Corona-Pandemie und ihre Bewältigung stellt derzeit vieles in Frage, was jahrzehntelang als in Stein gemeißelt galt. Das neoliberale Dogma, wonach der Markt alles besser regelt, ist in den vergangenen Wochen selbst in Quarantäne geraten. Selbst stramme Konservative und Liberale, die seit Jahrzehnten unermüdlich und am intensivsten für „mehr privat, weniger Staat“ auf die Barrikaden gestiegen sind, haben im Shutdown besonders laut nach dem Staat geschrien.
Wir erlebten eine wahre Hochschaubahn: von der Marktgläubigkeit zum „Primat der Politik“; vom Nulldefizit zum „koste es, was es wolle“, einschließlich Staatsschulden und Staatsbeteiligungen; von europaweiten Sparzwängen und dem Hohelied auf Schuldenbremsen zur breiten Neubewertung des Sozialstaats und öffentlicher Dienste, v. a. auch des Gesundheitswesens und der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Und der Sozialstaat zeigt gerade, was er kann. Trotz türkis-blauer Reformen bewältigt ein immer noch handlungsfähiges Gesundheitssystem die Corona-Krise im Ländervergleich passabel. Deutlich wird auch, wie wichtig ein starker Wohlfahrtsstaat gerade auch in seiner nachfragestützenden Funktion als „automatischer Stabilisator“ ist und wie zerstörend und tödlich das Aushungern öffentlicher Dienste sein kann. In der Krise wird deutlich: Wer bei der Gesundheit spart, verliert. Bilder aus Ländern mit völlig überlasteten Gesundheitssystemen lassen neoliberale Predigten von gestern irreal erscheinen. Selbst der neoliberale Think Tank Agenda Austria tut sich derzeit mit öffentlichen Aussagen schwer, den Sozialstaat als überbordend zu zeichnen, und zu fordern, öffentliche Dienstleistungen und medizinische Kapazitäten zurückzufahren.
Kann der pandemiebedingte politische „Framewechsel“ Bestand haben?
Bereits beim „Hochfahren“ wird sich zeigen, ob die in der Krise neu praktizierte Rücksicht zwischen ArbeitnehmerInnenvertretung und Politik, zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverbänden auch danach Bestand haben wird: bei der Verteilung der Krisenkosten bei notwendigen Lehren in der Steuer- und Gesundheitspolitik, bei kommenden Lohn- und Gehaltsrunden, bei der existenzsichernden Absicherung Arbeitsloser, bei der Schaffung von Ausbildungsperspektiven für Jugendliche sowie auch bei der „post-coronalen“ Mitgestaltung betrieblicher Arbeitswelten.
Ob es dabei zu einem substantiellen Kurswechsel kommt oder sich am Ende wieder die „Mächtigen des Systems“ durchsetzen, diese Auseinandersetzung steht jetzt an. Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt und ausgefochten. In den Jahren nach 2008, als im Zuge der Finanzmarktkrise eine an radikaler Marktfreiheit knapp kollabierende Wirtschaft ebenfalls mit alles andere als marktwirtschaftlichen Mitteln gerettet werden musste, wurde diese Auseinandersetzung verloren. Diesmal ist die Krise allgemeiner und größer, alle Branchen betreffend, auch für viele unmittelbar spürbarer; vielleicht ist sie auch die Chance, Wohlfahrts- und Gemeinwohlorientierung in Politik und Wirtschaft zurückzugewinnen.
Klar ist, dass ein Virus keine politökonomischen Realitäten außer Kraft zu setzen vermag. Wohl aber soll und muss er Anlass und Motor für offensive gesellschaftliche Debatten über das Verhältnis von Markt und Staat sein. Und Motor zur Brandmarkung marktradikaler Defizite, darüber hinaus Ideenschleuder beim Aufzeigen gemeinwohlorientierter Alternativen. Dann kann Corona auch dazu führen, dass auch die Globalisierung neu bewertet wird. Da sind europäische und nationale Antworten angesagt: in der Wirtschaftspolitik, der Handelspolitik, bei Steuern, Sozialem und Beschäftigung. Der Markt alleine schafft jedenfalls weder Sicherheiten noch fairen Ausgleich.
Die Neubewertung der Arbeit muss sich für Beschäftigte rechnen – jetzt und nach Corona
Weit über „verdächtige“ Kreise hinaus wird im Corona-Modus vielen klar, dass in unserer Gesellschaft einiges nicht stimmt. Corona trifft auf Realitäten sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Und die Corona-Krise birgt die Gefahr, gesellschaftliche Machtungleichgewichte zu verstärken, soziale Ungleichheiten zu verschärfen und soziale Spannungen zu vergrößern. Aber: Ungleichheit ist auch in Zeiten von Pandemien und Krisen keine Naturgewalt. Sie ist eine politische und ideologische Frage – und veränderbar.
Neue Solidaritäten werden spürbar. Das beinhaltet auch Chancen, Kosten und Lasten fair zu verteilen und viele Berufsfelder gesellschaftlich aufzuwerten – finanziell, aber auch in der Anerkennungspyramide. Wir erleben eine neue Wertschätzung und Bewertung von Arbeit. Stand bisher oftmals die Frage im Vordergrund, was Arbeit kostet, so wurde in den letzten Wochen vermehrt darüber gesprochen, was Arbeit wert ist. Doch Applaus und Schulterklopfen als Orden für sogenannte „Heldinnen und Helden des Alltags“: Das darf es nicht gewesen sein.
Nicht Investmentbanker/innen und die „oberen Zehntausend“ haben das Land am Laufen gehalten. Beschäftigte im Gesundheitswesen, in Supermärkten, in der Versorgungswirtschaft, in der Industrie, in der Reinigung, im Sicherheitswesen, Bus- und LKW-Fahrer/innen, Altenpfleger/innen u.v.a., allesamt Menschen, deren Kontostand sich in aller Regel nicht im Bereich der oberen Einkommensskala bewegt, bekommen jetzt mehr Anerkennung von Kund/innen, Politik und Öffentlichkeit.
Es muss auch hier alles darangesetzt werden, dass diese sogenannten „Held/innen des Alltags“ nach der Krise nicht wieder vergessen und mit bloßer ideeller Wertschätzung abgespeist werden. Die neue Wertschätzung muss sich auch in ordentlicher Bezahlung, mehr Personal und besseren Arbeitsbedingungen niederschlagen – jetzt und nach Corona.
Verteilungspolitisch klar Position beziehen
Im Zuge der Post-Corona-Zeit wird es heftige Verteilungsdebatten geben. Darüber herrscht kaum Zweifel. Die wirtschaftliche und soziale Bewältigung der Corona-Krise wird gewaltige Konjunkturpakete erfordern. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der „Held/innen“ kostet Geld, ebenso wie die Stabilisierung des Arbeitsmarktes und die notwendige Stützung der Wirtschaft, von den KMUs bis hin zu nationalen Flaggschiffen. Eine bessere Absicherung Arbeitsloser gibt es nicht zum Nulltarif, auch nicht die Stabilisierung des Sozialstaates, genauso wenig wie den intelligenten wirtschaftlichen Wiederaufbau.
Vor der verteilungspolitischen Frage, wer das alles bezahlen soll, kann sich niemand drücken. Aus Sicht der Gewerkschaft sind hier klare Kanten angesagt. Dabei wird sehr genau darauf zu achten sein, dass jahrzehntelange Austeritätsprogramme nach dem Motto „sparen um jeden Preis“ vermieden werden. Neoliberale Denker/innen stehen jedenfalls mit bekannten Rezepten schon wieder bereit: sparen nicht zuletzt beim Sozialen und rauf mit der Mehrwertsteuer und Massenbelastungen, die sozial Schwächere überproportional treffen.
Mit dem Dogma der Schuldenbremse, das in den Jahren nach der Finanzkrise 2008 die Krisenpolitik in Europa bestimmt hat, wird der Wiederaufbau jedenfalls nicht zu schaffen sein. Demgegenüber wird jetzt der Ruf nach einem gerechten Beitrag all jener zur Krisenfinanzierung wieder laut, die über große Vermögen verfügen. Und das weit über Gewerkschaftskreise hinaus, für die Sonder- bzw. Krisenabgaben sowie Vermögens- und Erbschaftssteuer gerade jetzt steuerpolitisches Gebot der Stunde sind.
Fazit: Wie die Welt nach Corona aussieht, nicht allein den Regierenden und Eliten überlassen
Im Windschatten der Krise melden sich schon wieder jene, die jetzt das erledigen wollen, was in „normalen Zeiten“ nicht gegangen ist. Einschnitte in demokratische Standards und Eingriffe in Gewerkschaftsrechte und Kollektivverträge stehen in mehreren EU-Ländern schon wieder auf der Agenda. Und auch in Österreich gibt es bereits erste Stimmen und Vorstöße, die etwa Betriebsratswahlen verhindern, Lohn- und Gehaltserhöhungen, Sonderzahlungen oder Urlaubsgeld zugunsten des schnellen Wiederaufbaus aussetzen, ArbeitnehmerInnenschutz bzw. Ruhezeiten einschränken und Ladenöffnungszeiten ausweiten wollen. Diese Stimmen gilt es, in die Schranken zu weisen.
- Hier sind kritische mediale Öffentlichkeit, laute oppositionelle Einmischung und helle zivilgesellschaftliche Wachsamkeit Gebot der Stunde. Hier ist vor allem auch laute Interessenvertretung der Beschäftigten angesagt.
- Hier wird es auch an den Gewerkschaften liegen, die Lehre aus der Corona-Krise aufrechtzuerhalten, dass der Markt nicht vorsorgt und es vielmehr Gesellschaften mit starken Institutionen und ausgebaute Sozialstaaten sind, die mit Krisen besser umgehen können.
- Zugleich sind Gewerkschaften gefordert, in den „Zeiten danach“ auf faire (Lasten-)Verteilung zu achten und entsprechende wirtschafts- und verteilungspolitischen Forderungen offensiv in die politische Debatte einzubringen.
- Und es wird an den Gewerkschaften liegen, darauf zu achten, dass die sogenannten „Heldinnen und Helden des Alltags“ nach der Krise nicht wieder vergessen und mit retrospektiver Wertschätzung abgespeist werden, sondern ordentliche Abgeltung und bessere Arbeitsbedingungen erhalten.
- Schließlich wird es v. a. auch an den Gewerkschaften liegen, als Teil einer kritischen Öffentlichkeit dahingehend wachsam zu sein, dass beim Exit aus dem Ausnahmezustand keine demokratiepolitischen Kollateralschäden zurückbleiben und Grundrechte ausgehebelt bleiben.
Einiges spricht für ein bleibendes Revival der Gewerkschaften. Denn nach der Krise gibt es vieles zu regeln in Wirtschaft und Gesellschaft. Und gerade auch in der Arbeitswelt ist ein Mehr an Mitbestimmung gefragt: bei der Arbeitszeit, beim Arbeitnehmer/innen- und Gesundheitsschutz, beim Homeoffice und mobilen Arbeiten. Manche Regelungen sind anzupassen, anderes neu zu gestalten. Mitbestimmung wirkt und wird – mit starken Betriebsräten und starken Gewerkschaften – auch nach der Krise notwendig sein.
Sichtbares und kantiges Auftreten im Interesse der Beschäftigten verbunden mit pragmatischem und lösungsorientiertem Selbstbewusstsein – das sollten Garanten dafür sein, dass ÖGB und AK auch nach dem „Corona-Alptraum“ politisch eingebunden bleiben und ein rasches Abservieren ausgeschlossen bleibt.
Und vielleicht bewahrheitet sich wieder einmal, dass große gesellschaftliche Korrekturen nicht ohne große Krisen oder Katastrophen zu haben sind. Wie die Welt nach Corona aussehen wird, das darf jedenfalls nicht den Regierenden und Vermögenden alleine überlassen bleiben. Da dürfen Gewerkschaften nicht im Abseits stehen. Einmischung ist angesagt – jetzt.
Von Wolfgang Greif, Leiter der Bildungsabteilung in der Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier (GPA-djp)